Wie geht Geschlechtergeschichte? Workshop für NachwuchsforscherInnen

Wie geht Geschlechtergeschichte? Workshop für NachwuchsforscherInnen

Organisatoren
Arbeitskreis Historische Frauen- und Geschlechterforschung e.V., Region Süd
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
08.02.2013 - 09.02.2013
Url der Konferenzwebsite
Von
Antje Harms / Nina Reusch, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Um den Austausch zwischen wissenschaftlichem Nachwuchs und etablierten GeschlechterhistorikerInnen zu fördern, veranstaltete der AKHFG Region Süd am 8. und 9. Februar 2013 einen zweitägigen Workshop, der Theorie- und Methodenfragen der Geschlechtergeschichte nachging. Grundgedanke des Workshops war außerdem, NachwuchsforscherInnen bei ihren aktuellen oder geplanten Projekten zur Seite zu stehen und ihnen zu zeigen, „wie Geschlechtergeschichte gehen kann“, so die Organisatorin und Regionalkoordinatorin des AKHFG Süd, ELSBETH BÖSL (München). Der Workshop umfasste verschiedene Tagungsformate – neben einer Keynote und vier Vorträgen gehörten dazu eine Sektion für Kurzpräsentationen von laufenden geschlechtergeschichtlichen Arbeiten sowie drei parallele ForscherInnenwerkstätten, die Gelegenheit boten, die Themen der Vorträge in gemeinsamer Diskussion zu vertiefen oder an jeweils einer spezifischen geschlechtergeschichtlichen Problematik zu arbeiten. Dabei erhielten die TeilnehmerInnen auch konkrete Hilfestellung und fachliche Beratung für ihre Qualifikationsprojekte.

Im einleitenden Vortrag machte MONIKA MOMMERTZ (Freiburg) deutlich, dass die Kategorie Geschlecht nicht nur für die Analyse konkreter Geschlechterverhältnisse und -beziehungen bedeutsam ist, sondern auch losgelöst von geschlechtlich markierten Personen für die Untersuchung historischer Praktiken, Institutionen, Diskurse oder Ikonologien verwendet werden kann. Sie schlug vor, Geschlecht methodisch als Markierung, Ressource und Tracer zu fassen. Geschlecht als Markierung zu denken ermögliche, geschlechtliche Zuschreibungen zu historisieren und einen überzeitlich gültigen Bezugsrahmen wie beispielsweise die Biologie in Frage zu stellen. Zudem sei Geschlecht als zentrale Ressource gesellschaftlicher Ordnung und Bedeutungsproduktion zu verstehen und dementsprechend nach den Wirkungen und Leistungen von Geschlechterdifferenzen für ein historisches Setting zu fragen. Als Tracer stelle Geschlecht ein Instrument zur Erforschung unterschiedlicher historischer Untersuchungsumgebungen und deren Wandel dar. Somit rücke nicht der Tracer selbst, sondern die Reaktion der Untersuchungsumgebung auf diesen in den Fokus. Am Beispiel von außeruniversitären Wissenskulturen zeigte Mommertz auf, wie im 17. und 18. Jahrhundert mit Hilfe der Kategorie Geschlecht Umdeutungen in den Naturwissenschaften stattfanden, die sowohl eine Neu-Konzeptualisierung von Natur, als auch neue Forschungspraktiken hervorbrachten.

Auch LEVKE HARDERS (Bielefeld) wählte ein Beispiel aus der Wissenschaftsgeschichte, um Methoden der Geschlechtergeschichte zu diskutieren. Sie untersuchte die Geschichte der American Studies in den USA der 1950er-Jahre und widmete sich dem Problem der Quellenlage. Die Marginalisierung von Frauen in der Disziplinengeschichte, so ihre These, sei auch ein Quellenproblem, da die Bestände – im Gegensatz zu denen der männlichen Wissenschaftler – hier sehr lückenhaft seien. Möglichkeiten, diese mangelhafte Quellenlage zu kompensieren, sah Harders in der Methode der Kollektivbiographie. Doch auch zunächst wenig aussagekräftige Quellen können mit der richtigen Fragestellung viele Informationen enthalten, wie Harders am Beispiel einer Personalakte zeigte. Die zunächst als wenig ergiebig erscheinende Akte offenbarte die geschlechtsspezifischen Arbeitsteilungen und Aufstiegssysteme der Universitäten. Frauen wurden vor allem im Lehrbetrieb eingesetzt und ihnen wurde aufgrund der dadurch fehlenden Forschungsleistung oftmals lange die Beförderung verweigert, während sich Männer im Wissenschaftssystem stärker auf die Forschung konzentrieren und schneller aufsteigen konnten.

Nicht nur die Quellenlage, sondern auch bestehende Periodisierungen tragen zur Marginalisierung von Frauen in der Geschichte bei. Unter der Leitung von SYLVIA SCHRAUT (München) diskutierten die TeilnehmerInnen der Werkstatt zum Thema „Periodisierung und Geschlecht“ das Problem, dass die Kategorie Gender quer zu politischen Periodisierungen liegt und stellten sich die Frage, nach welchen Kriterien gegenderte Zäsuren gesetzt werden könnten. Periodisierungen, so der Konsens, seien notwendig, um Geschichte zu erfassen und zu erforschen, doch verschiedene Zäsuren könnten verschiedene Geschichten schreiben. Die bestehenden Zäsuren der Geschichte hingen meist mit universal gesetzten, doch faktisch männlichen Fortschrittsnarrativen zusammen, in welche die Kategorie Geschlecht nicht hineinpasse. Geschlechterphänomene seien stärker an wirtschaftliche Strukturen gebunden und wiesen meist längere Linien auf als politische Entwicklungen. Mit der Anwendung der Kategorie Gender auf Epochengrenzen, so ein gemeinsames Fazit, könne man Periodisierungen unterlaufen und die Machtverhältnisse benennen, auf denen diese basieren, anstatt ihnen nur additiv etwas hinzuzufügen.

DAGMAR ELLERBROCK (Bielefeld) widmete sich der Frage, wie man Gewaltgeschichte als Geschlechtergeschichte schreiben könne. Anhand eines Fallbeispiels simulierte sie Schritt für Schritt den Forschungsprozess, der vom Quellenfund über Fragestellungen und Theorieanwendung bis hin zur Formulierung einer These führte. Grundlage war eine deutsche Presseschau über Waffendelikte von 1911 und die darin erkennbare Geschlechterdifferenz in der Benutzung von Schusswaffen. Ausgehend von der Frage, warum vor allem Männer Waffen nutzten und wie diese Waffenpraktiken mit Männlichkeiten verbunden waren, suchte sie theoretische Anleihen bei Konzepten des Habitus und hegemonialer Männlichkeit und zeigte auf, dass die in der Quelle erwähnten Gewaltpraktiken eine ritualisierte Form der Herstellung von Männlichkeiten und sozialer Ordnung darstellten. Gewaltforschung, so ihr Fazit, benötige die Analysekategorie Geschlecht, da sie sonst viele Phänomene nicht oder nur unzureichend erklären könne.

Mit einem Aspekt des Komplexes von Gewalt und Geschlecht beschäftigte sich auch SILKE FEHLEMANN (Frankfurt) in ihrem Vortrag über Geschlechtergeschichte am Beispiel des Ersten Weltkriegs. Sie konstatierte, dass trotz der zunehmenden Öffnung der Militärgeschichte für kultur- und geschlechtergeschichtliche Ansätze und der damit einhergehenden Infragestellung der strikten Trennung von „Front“ und „Heimat“ erstere bis heute als quasi-natürlicher Ort der Kriegserfahrung begriffen werde. Kriegserfahrungen von Frauen blieben in der Forschung dadurch weitgehend ausgeblendet. Am Beispiel weiblicher Kriegsliteratur in Deutschland zeigte Fehlemann, dass die zahlreichen und zum Teil sehr populären Romane und Gedichte von Frauen zunächst ähnlich wie die von Männern verfassten Texte vor allem Kriegsbegeisterung widerspiegelten. Ab 1916 sei allerdings mehr und mehr das Bild einer weiblichen Leidensgemeinschaft entworfen worden, das die individuellen Trauer- und Verlusterfahrungen von Frauen in ein kollektives weibliches Leiden überführt habe. Dieses sei mit dem der männlichen Frontgemeinschaft in Konkurrenz getreten. In der Erinnerungspolitik der Weimarer Republik hätten die Leidenserfahrungen von Frauen jedoch keine Sichtbarkeit erlangt. Vielmehr seien Frauen nach Kriegsende des „Jammerns“ bezichtigt worden. Damit sei eine geschlechtsspezifische Variante der Dolchstoßlegende entstanden, die die mangelnde Unterstützung der Frauen an der Heimatfront für die Niederlage verantwortlich gemacht habe.

Während die meisten Beiträge Geschlecht innerhalb historischer Konzeptionen von Zweigeschlechtlichkeit untersuchten, beschäftigte sich ULRIKE KLÖPPELS (Berlin) Vortrag mit geschlechtlicher Devianz und der Problematik ihrer Erforschung. Eine Geschichte geschlechtlicher Non-Konformativität berge die Gefahr, in Anachronismen zu verfallen, indem Begrifflichkeiten und Konzepte aus dem 20. und 21. Jahrhundert auf frühere Epochen angewandt würden. In einem Forschungsüberblick zeigte sie die Möglichkeiten der Erforschung geschlechtlicher Devianz auf – so etwa die Sichtbarmachung und Historisierung geschlechtlicher Non-Konformität, die Erforschung gesellschaftlicher Geschlechternormen und der Co-Konstitution von Norm und Abweichung, aber auch die Betonung der agency devianter Subjekte. Diese Ansätze könnten in ihrer Rückwirkung auf die Geschlechtergeschichte das dominante Narrativ der Geschlechterdichotomie aufbrechen und Raum schaffen für eine Erforschung heterogener Existenzweisen. Sie appellierte, die mangelnden Quellen über geschlechtliche Devianz nicht darauf zurückzuführen, dass es diese nicht gegeben habe, sondern geschlechtliche Abweichungen in anderen Quellen zu suchen.

In der letzten Sektion der Tagung erhielten NachwuchsforscherInnen die Möglichkeit, ihre laufenden Qualifikationsarbeiten zu präsentieren. In drei parallelen Panels wurden Projekte vorgestellt, die von der Frühen Neuzeit bis zur Zeitgeschichte reichten und vielfältige Facetten der Geschlechtergeschichte abdeckten.

Im Panel zur Frühen Neuzeit widmete sich JOHANNA BLUME (Saarbrücken) den Lebenswelten von Gesangskastraten im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. ANNIKA WILLER (München) analysierte die Schriften dreier Renaissance-Philosophinnen, die sich mit Texten zum Geschlechterverhältnis in die „Querelle des femmes“ einmischten. Am Beispiel dreier Kindsmordprozesse ging EVA LEHNER (Berlin) zeitgenössischen Vorstellungen von Leben im 18. Jahrhundert nach. Dass auch Mensch-Tier-Verhältnisse der frühen Neuzeit geschlechtergeschichtliche Einflüsse aufweisen, zeigte THOMAS MARTIN (Saarbrücken) in seiner Präsentation.

Das zeitgeschichtliche Panel präsentierte Projekte zu ost- und westdeutscher Geschlechtergeschichte seit den 1950er-Jahren. JENNY LINEK (Greifswald) ging geschlechtsspezifischer Gesundheitspropaganda und Prävention in der DDR nach, während PIERRE PFÜTSCH (Mannheim) mit Fokus auf der Bundesrepublik die Kampagnen des deutschen Gesundheitsmuseums und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in den Blick nahm. KARIN HAGEN (Bremen) untersuchte die bemannte Raumfahrt im Kalten Krieg unter geschlechtergeschichtlichen Aspekten. Geschlechterverhältnisse in emanzipatorischen Bewegungen untersuchten STEFANIE PILZWEGER (Augsburg) in ihrer Präsentation über die maskulin codierte Protestkultur der 68er sowie JESSICA BOCK und KATRIN BUB (beide Leipzig) mit ihrem Projekt über feministische Archivpädagogik.

In einem weiteren Panel mit Schwerpunkt auf Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg diskutierte MAXIMILIAN STRNAD (München) die Handlungsräume von Männern und Frauen in „Mischehen“ unter nationalsozialistischer Verfolgung. LAURA BENSOW (Lüneburg) zeigte auf, wie deutsche Frauen und Mädchen Zielgruppen antisemitischer Propaganda darstellten. Mit russischen Soldatinnen, betitelt von den Deutschen als „Flintenweiber“, und ihren geschlechtlichen Zuschreibungen beschäftigte sich OLLI KLEEMOLA (Turku). JULIE GRIMMEISEN (München) untersuchte israelische Frauenvorbilder in den ersten zwei Dekaden nach der israelischen Staatsgründung. ILONA SCHEIDLE (Heidelberg) stellte mit Hilde Radusch eine queere Biographie des 20. Jahrhunderts vor.

Der rege besuchte Workshop und das durchweg positive Feedback offenbarten das große Bedürfnis nach geschlechtergeschichtlichen Tagungen dieses Formats. Der Workshop gab seinen TeilnehmerInnen nicht nur methodische, theoretische und thematische Anregungen und Hilfestellungen für die Untersuchung von Geschlecht in historischer Perspektive und von Geschichte aus Geschlechterperspektive, sondern machte auch deutlich, dass sich die Geschlechtergeschichte für NachwuchswissenschaftlerInnen mittlerweile zu einem grundlegenden Forschungsfeld historischer Wissenschaft entwickelt hat.

Konferenzübersicht:

Monika Mommertz (Freiburg): Geschlecht als Markierung, Tracer, Ressource – Arbeits- und Anschlussmöglichkeiten

Sektion 1, Moderation: Sylvia Paletschek (Freiburg)

Dagmar Ellerbrock (Bielefeld): Gewaltgeschichte als Geschlechtergeschichte

Silke Fehlemann (Frankfurt): Geschlecht und Krieg. Geschlechtergeschichte am Beispiel des Ersten Weltkriegs

Ulrike Klöppel (Berlin): Geschlechtliche Non-Konformität – Zugänge der Geschlechtergeschichte

Sektion 2: ForscherInnenwerkstätten

Silke Fehlemann (Frankfurt): Geschlechtergeschichte zwischen Krieg und Frieden

Sylvia Schraut (München): Geschlechtergeschichte in Langzeitperspektive – Geschlechtergeschichte über Zäsuren hinweg schreiben

Ulrike Klöppel (Berlin): Vertiefung zum Vortrag: Geschlechtliche Devianz – Zugänge der Geschlechtergeschichte

Sektion 3, Moderation: Sophie Gerber

Levke Harders (Bielefeld): Archive, Quellen und die Analysekategorie Geschlecht

Sektion 4: Kurzpräsentationen

A, Moderation: Monika Mommertz (Freiburg)

Johanna Blume: Kastraten im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation 1550-1820

Annika Willer: Drei Renaissance-Philosophinnen schreiben über Männer. Männlichkeit und Männerbilder bei Moderata Fonte, Lucrezia Marinella und Arcangela Tarabotti

Eva Lehner: Eine Fallstudie zu Kindsmord-Prozessen im Fürstentum Pfalz Sulzbach des 18. Jahrhunderts. Zeitgenössische Definitionen von ›Leben‹.

Thomas Martin: Human-Animals-Studies + Sodomie in der frühneuzeitlichen Kunst

B, Moderation: Sylvia Schraut (München)

Jenny Linek: „Die Frau ‚seift‘ den Mann ein“ – Geschlechterspezifische Gesundheitspropaganda und Prävention in der DDR

Pierre Pfütsch: Wandel der Geschlechterbilder in den Printmedienkampagnen des Deutschen Gesundheitsmuseums und der Bundezentrale für gesundheitliche Aufklärung (1950 – 2010)

Karin Hagen: Gender und die bemannte Raumfahrt im Kalten Krieg

Stefanie Pilzweger: Männlichkeit zwischen Emotion und Revolution – Die maskulin codierte Protest- und Gefühlskultur der westdeutschen 68er Bewegung

Jessica Bock/Katrin Bub: Feministische Archivpädagogik/Der laute Aufbruch. Frauenaktivistinnen und Feministinnen der ersten Generation nach 1989/90 in Leipzig

C, Moderation: Christine Hikel

Maximilian Strnad: „Handlungsräume jüdischer und nichtjüdischer Frauen und Männer aus Mischehen unter nationalsozialistischer Verfolgung“

Laura Bensow: „...die Juden sind Euer Verderben!“ – Deutsche Frauen und Mädchen als Zielgruppe antisemitischer NS-Propaganda.

Olli Kleemola: Die Flintenweiber - Normale Soldaten oder kastrierende Frauen?

Julie Grimmeisen: Pionierin oder Schönheitskönigin? Frauenvorbilder in Israel nach der Staatsgründung, 1949-67

Ilona Scheidle: Hilde Radusch (1903-1994) – „Ich hab' mich nie als Frau gefühlt, aber frag mich nicht als was sonst.“ – eine queere Biografie?


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