Der Wert der Dinge. Wertsetzungsprozesse und Wertverschiebungen in Ding-Mensch-Netzwerken im 19. und 20. Jahrhundert

Der Wert der Dinge. Wertsetzungsprozesse und Wertverschiebungen in Ding-Mensch-Netzwerken im 19. und 20. Jahrhundert

Organisatoren
Simone Derix, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München; Benno Gammerl, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Berlin
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.09.2012 - 21.09.2012
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Von
Daniela Gasteiger / Hannes Ziegler, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München Email:

Dinge sind en vogue und das nicht mehr nur, wie bereits seit einigen Jahren, in theoretischen oder programmatischen Texten, sondern auch in Forschungsvorhaben, Veranstaltungen, Publikationen und, in zunehmendem Maße, gezielten Förderprogrammen. Während das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) in einer Förderinitiative auf die „Sprache der Objekte“ hinweist und zur Antragstellung aufruft, lädt die Deutsche Gesellschaft für Volkskunde, die die materielle Kultur früher mit großer Selbstverständlichkeit zu ihrem ureigensten Zuständigkeitsbereich rechnete, anlässlich ihrer 39. Jahrestagung im September 2013 dazu ein, über „Materialisierung von Kultur“ nachzudenken. Der Arbeitskreis Geschichte und Theorie hat sich bereits mehrfach mit Dinggeschichten auseinandergesetzt und ging daher in einer vom 19. bis 21. September im Historischen Kolleg in München veranstalteten Tagung noch einen Schritt weiter: Den „Wert“ der Dinge für historiographische Fragestellungen bereits als selbstverständlich hinnehmend, hinterfragten die Veranstalter mit ihrer Tagung die Selbstverständlichkeit, mit der in der Forschung gewöhnlich dinggeschichtliche und wirtschaftsgeschichtliche Fragestellungen getrennt werden und machten es sich zur Aufgabe, nach dem heuristischen Potenzial einer solchen Verbindung zu fragen.

Welche Relationen bestehen also zwischen einem Ding und dem Wert, den die Menschen ihm beimessen? Die von den Veranstaltern SIMONE DERIX (München) und BENNO GAMMERL (Berlin) in ihrem einführenden Problemaufriss genannten aktuellen Diskussionsfelder globale Finanzmarktmechanismen, Organhandel oder die Preisbildung auf dem Kunstmarkt verweisen auf die wirtschaftlichen, moralischen, ästhetischen und anthropologischen Beziehungssysteme, in denen sich Wertsetzungsprozesse abspielen. Besonders die Frage nach Wertverschiebungen, wie beispielsweise durch die Herausbildung von Präferenzen und durch Konflikte zwischen unterschiedlichen Bewertungsskalen, lenke den Blick auf die historische Dimension des Themas. Gerade die ökonomische Dimension sei aber in der historischen Forschung der letzten Jahre aus dem Blick geraten. Außergewöhnlich machte die Veranstaltung daher das bewusste Zusammendenken von einerseits ökonomischen, andererseits materiellen Geschichten.

Um die konstatierten Perspektivverengungen aufzubrechen, formulierten die Veranstalter zwei Impulse für die Tagung: 1. eine intensivere Diskussion des Wertbegriffs auch unter der bisher vernachlässigten ökonomischen Perspektive, und eine stärkere Reflexion seiner Bedeutungsebenen vom symbolischen bis zum funktionalen Wert unter Einbeziehung historischer, soziologischer und anthropologischer Forschungsansätze; 2. die Frage, ob Dinge nicht vom bisherigen Untersuchungsparadigma des „passiven Gegenstandes“ gelöst werden könnten und stärker als aktive Teilnehmer des historischen und sozialen Prozesses betrachtet werden könnten − etwa durch den Fokus auf Wertsetzungsprozesse in „Ding-Mensch-Netzwerken“.

Die erste Sektion beschäftigte sich mit „Wertsetzungen und Wertverschiebungen“. FRANK GRÜNER (Heidelberg) beschrieb am Beispiel der mandschurischen Stadt Harbin den Basar als spezifischen sozioökonomischen Typus und damit als Ort vielfältiger ökonomischer, sozialer und kultureller Austauschprozesse. Er zeigte, wie bestimmte Warengruppen an die Ethnie des Händlers gebunden waren und wie Konsumpräferenzen sich änderten, beispielsweise als es unter europäischen Frauen in Harbin Mode wurde, asiatische Kleidung zu tragen. Preisbildungsprozesse seien aufgrund der Quellenlage schwer zu rekonstruieren; einen ersten Anhaltspunkt bildeten allerdings die Preisankündigungen für unterschiedliche Produkte des Basars in der Presse, die offenbar auf Beobachtungen und Vergleiche zurückgingen und somit Orientierung vermitteln sollten. PETER-PAUL BÄNZIGER (Zürich) wandte sich auf der Basis von Ego-Dokumenten wie in den Fünfzigerjahren verfassten Berufsschulaufsätzen und Tagebüchern der Untersuchung der dinglichen Aspekte des Arbeitsplatzes zu. Auffallend sei in diesen Quellen, dass weder das Produkt, die gesellschaftliche Bedeutung der Arbeit oder Kritik an den Arbeitsbedingungen im Mittelpunkt stünden, stattdessen aber die Identifikation der Arbeitenden mit ihrem Arbeitsplatz, beispielsweise an einer Maschine, deutlich hervortrete. Diese Beziehung sei für die Einschätzung des Werts der eigenen Arbeit offenbar sehr wichtig gewesen, jenseits ökonomischer Erwägungen, die sich bspw. auf den Verdienst bezogen. Bänziger plädierte dafür, diese Materialität des Arbeitsplatzes und die darauf angewandten Beschreibungsmodi im Sinne einer kritischen Geschichtswissenschaft stärker einzubeziehen, etwa hinsichtlich der Frage, warum bestimmte Dinge für widerständige Praktiken und autonome Sinngebungen geeignet seien und andere nicht. JENS ELBERFELD (Bielefeld) plädierte in seinem Kommentar dafür, die Dinge selbst noch stärker empirisch in den Blick zu nehmen und anhand detaillierter Beschreibungen ihre Einbettung in soziale Handlungszusammenhänge zu untersuchen. In diesen kleinräumigen Zugängen sah er ein großes Potenzial, die Dinge stärker als Aktanten in den Blick zu nehmen, und schließlich Anschlüsse beispielsweise an die Körpergeschichte zu finden.

CHRISTOF DEJUNG (Konstanz) eröffnete die zweite Sektion „Warendinge“ mit einem Vortrag über die Umdeutungsprozesse, denen Baumwolle im Welthandel unterworfen war. Im Mittelpunkt seiner Ausführungen standen verschiedene „Übersetzungsvorgänge“ der Rohbaumwolle als Ware im Welthandel: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unterlag der Rohstoff Baumwolle einerseits einem starken Standardisierungsprozess, der daraus überhaupt erst ein definiertes Produkt entstehen ließ. Durch die Einführung des Terminhandels kam es außerdem zu einer „Übersetzung zweiter Ordnung“ der Ware, gewissermaßen ihrer Virtualisierung. Beide Entwicklungen waren durch die Erfindung der Telegraphie und der damit verbundenen Beschleunigung der Kommunikation möglich geworden. LUMINITA GATEJEL (Regensburg) arbeitete Kennzeichen und Charakteristika einer „typisch sozialistischen Automobilkultur“ über drei Perspektiven heraus: Wartezeit, Verteilungspraxis und Autoalltag, wobei sie besonders letzteren Aspekt unter dinggeschichtlicher Perspektive untersuchte. Autobesitzer zu sein, war im Sozialismus eine ambivalente Angelegenheit: Zwar war das Auto für den Transport von Dingen und Personen unerlässlich, doch verbrachte der Eigentümer auch viel Zeit mit Ersatzteilbeschaffung und Reparatur. Die Sorge um das Auto und daran anknüpfende Kommunikation und Hilfe waren ein wichtiger Bestandteil sozialistischer Vergemeinschaftung. MARCEL STRENG (Bielefeld/Köln) befasste sich in seinem Vortrag über Brot als Ware und Gebrauchsding in Frankreich im 19. Jahrhundert mit der Frage, ob Dinge auch eine eigene Wertsetzungsdynamik entfalten können. Er bejahte dies am Beispiel des Taxierungsverfahrens von Brot seit 1790 als Ausdruck von Wertbestimmungen im Beziehungsnetz zwischen Konsumenten, Bäckern und Akteuren des Kornmarkts. Betrachte man Brot als assemblage, also als „Gesellschaft“ aus verschiedenen Elementen und Aktanten, sei auffällig, dass besonders in Teuerungsphasen Bewertungsmaßstäbe, Gewichtsnormen und Produktkategorien und -hierarchien in Unordnung gerieten. Eine besondere agency entwickelte Brot in diesen Perioden, wenn es von den Bäckern heimlich mit Ersatzstoffen gestreckt wurde: Die Gesundheit der Konsumenten wurde in Mitleidenschaft gezogen und dem Bäcker drohte bei Entdeckung Gefängnis. In ihrem Kommentar rekapitulierte CHRISTIANE REINECKE (Hamburg) die verschiedenen Funktionszusammenhänge, in denen die vorgestellten Dinge verortet waren, und gab als übergreifende Perspektive den Impuls, praxeologische Dimensionen im Zusammenhang mit Handel, Qualität, Bewertung und Gebrauch zu vertiefen.

Die dritte Sektion stand unter dem Titel „Körperdinge“. PASCAL EITLER (Berlin) eröffnete den Nachmittag mit einem Vortrag über den „Wert der Tiere“, in dem er die animal studies mit den methodischen Impulsen der Dinggeschichte verband. Den „Wert“ der Tiere wollte er dabei dezidiert nicht aus der Perspektive ihres Wertes für den Menschen betrachten, auch wenn dies historisch gesehen, wie er zeigte, selbstverständlich die dominierende Einschätzung der Mensch-Tier-Verhältnisse war. Stattdessen verwies er auf die seit dem 19. Jahrhundert einsetzende „Emotionalisierung“, „Politisierung“ und „Therapeutisierung“ der Mensch-Tier-Verhältnisse, vor allem in Westeuropa und Nordamerika, die sich an zahlreichen neuen Diskursen und Praktiken über und mit Tieren ablesen ließen. Da der „Wert“ von Tieren sich in diesen Prozessen beständig wandele und sich die Wahrnehmung von Tieren als Objekt oder als Subjekt ständig verändere, schlug Eitler vor, diese je unterschiedlichen Wahrnehmungen mit Foucault konsequent als historisch konstruiert wahrzunehmen und als solche zu untersuchen. Im Anschluss sprach MICHI KNECHT (Berlin) über „multiple, sich überlappende Ökonomien“ und nahm die Tagungsteilnehmer zu einem imaginären Besuch in einer Samenbank mit. Anhand dieser Samenbank als Teil einer neuartigen „Bioökonomie“ untersuchte sie zwei Prozesse, die im Rahmen dieser Bioökonomien den Umgang mit Dingen und Menschen potenziell verändern. So veranschaulichte sie einerseits eine Verdinglichung des männlichen Samens zu einer bloßen Ware, und wies gleichzeitig auf den gegenläufigen Prozess der Personifizierung des Embryos hin. Diese Prozesse, von Michi Knecht als offen und reversibel bezeichnet, machte sie insbesondere an den alltäglichen Praktiken und dem Umgang mit Ding und Mensch in den Samenbanken deutlich. In beiden Vorträgen stand, wie MORITZ FÖLLMER (Amsterdam) in seinem Kommentar hervorhob, vornehmlich „das Lebendige“ als Ding im Zentrum, weswegen sich die Diskussion hier wie dort vornehmlich um die Frage nach Subjekt und Objekt in diesen Geschichten drehte, mithin also um die Frage: Ding oder Mensch bzw. Ding oder Tier.

Die letzte Sektion schlug unter dem Titel „Vermögensdinge“ den Bogen zurück zu der Frage nach dem (ökonomischen) Wert der Dinge. CHRISTOPH DEUTSCHMANN (Tübingen) begann die Sektion mit seinen Ausführungen über „Geld als substanzgewordene Relativität“. Die Frage nach dem Dingcharakter des Geldes verortete er zunächst im Kontext älterer Geldtheorien, ehe er auf Georg Simmels „Philosophie des Geldes“ überleitete. Geld bildet, nach Simmel, die Beziehungen zwischen Dingen ab, gerade seine Ablösung vom Dinglichen oder Materiellen garantiert dabei seine Funktionalität. Damit gewährt das Geld individuelle Freiheit in sozialer, zeitlicher und räumlicher Perspektive. Und doch, und das ist die Pointe von Simmels Geldtheorie, gewinnt Geld selbst einen dinglichen Charakter. Geld ist formal nur das, was es bezeichnet. Und doch muss es selbst wie ein Ding behandelt werden. Wäre Geld nur ein Symbol mit keinerlei dinglichem Charakter, so würde der Austausch ohne Verlust stattfinden: Das Übertragene wäre nun beim Geber wie beim Nehmer gleichermaßen. Doch Geld muss im Sinne eines Nullsummenspiels übertragen werden; was der eine bekommt, muss der andere verlieren, eben ganz so, als wäre Geld ein Ding. JOHANNES GRAMLICH (München) schließlich zeigte, wie stark die Bezeichnung von Dingen mit Geldwerten historischen Veränderungen unterworfen ist. Er stellte in seinem Vortrag den Wert von Kunstdingen in den Mittelpunkt und zeichnete, nach einem Forschungsüberblick, eine lange Linie der Bewertungskriterien und -maßstäbe für Kunstgegenstände in und seit der Frühen Neuzeit. Gramlich verwies dabei auf sehr vielfältige Kriterien des Umtausches von ästhetischem Wert in Geldwert (und umgekehrt) und markierte das Auktionshaus als den Ort, an dem diese Tauschprozesse in der reinsten Form beobachtet werden können. Anhand seiner Ausführungen machte Gramlich vor allem zwei Dinge sehr deutlich: Zum einen die besondere Rolle eines sich herausbildenden Expertentums der Bewertung von Kunst für die Veranschlagung des Wertes der Kunstdinge. Zum anderen verwies er, mit Hilfe bourdieuscher Kapitalbegriffe, auf die vielfältigen Möglichkeiten der Umwandlung des finanziellen und ästhetischen Wertes von Kunstwerken in soziales und kulturelles Kapital, was er abschließend noch einmal an der Kunstsammlung Heinrich Thyssen-Bornemiszas veranschaulichte. TILL KÖSSLER (Bochum) stellte in seinem abschließenden Kommentar die Frage, ob man über Dinge sprechen könne, ohne über Geld zu sprechen. Damit betonte er noch einmal die Probleme, aber auch die Möglichkeiten einer theoretischen Verbindung von Ding und Wert.

Insgesamt gelang es den TagungsteilnehmerInnen überzeugend, ihre Dinggeschichten mit unterschiedlichen Wertsetzungsprozessen zu verknüpfen. Uneinigkeit herrschte allerdings vor allem darüber, ob und inwieweit Dingen ein Status als Aktant zuerkannt werden könne, wie dementsprechend ihre Rolle in Wertsetzungsprozessen zu bewerten sei. Auch blieb bisweilen die Art von Wert, von dem die Rede war, zu vage. Während Wert in manchen Vorträgen vornehmlich ökonomisch verstanden wurde, blieb in den Vorträgen, die von den Dingen her gedacht waren, der Faktor Wert recht offen. Das Anliegen der beiden Veranstalter, als selbstverständlich hingenommene Narrative über die Dinge aufzubrechen und neue Fragen zu stellen, wurde allerdings gerade durch die gemeinsame Diskussion eingelöst, die viele neue Perspektiven eröffnete. Passend zu diesem explorativen Zug der Veranstaltung betonten die meisten Vortragenden den experimentellen Charakter ihrer Beiträge. Die Vertiefung dieser neuen Blickwinkel bietet Potenzial und zeigt, dass die Dinggeschichten noch lange nicht zu Ende erzählt sind.

Konferenzübersicht

Simone Derix (München)/Benno Gammerl (Berlin): Einführung

Sektion I: Wertsetzungen und Wertverschiebungen
Chair: Uffa Jensen (Berlin)

Frank Grüner (Heidelberg): Dinge handeln auf dem Basar

Peter-Paul Bänziger (Zürich): Dinge der Arbeit. Arbeitsplätze im Fordismus zwischen

Dinggeschichte und die Kritik der Produktionsverhältnisse

Jens Elberfeld (Bielefeld): Kommentar

Sektion II: Warendinge
Chair: Simone Derix (München)

Christof Dejung (Konstanz): Monologe der Baumwolle. Über-Setzungen eines Rohstoffs und Wertsetzungen im globalen Kapitalismus

Luminita Gajetel (Regensburg): Autos als Warendinge im „Ostblock“

Marcel Streng (Bielefeld/Köln): Der Wert des „täglichen Brots“. Grundnahrungsmittel zwischen Existenzsicherung und Ware am Markt

Christiane Reinecke (Hamburg): Kommentar

Sektion III: Körperdinge
Chair: Benno Gammerl (Berlin)

Pascal Eitler (Berlin): Der Wert der Tiere

Michi Knecht (Berlin): Multiple, sich überlappende Ökonomien. Ethnographische Exploration einer Samenbank

Moritz Föllmer (Amsterdam): Kommentar

Sektion IV: Vermögensdinge
Chair: Daniel Morat (Berlin)

Christoph Deutschmann (Tübingen): Geld als „substanzgewordene Relativität“ − die Analyse Georg Simmels

Johannes Gramlich (München): Kunstwerke − Kunstwerte

Till Kössler (Bochum): Kommentar


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