Die antinapoleonischen Befreiungskriege in zeitgenössischer Erfahrung und geschichtspolitischer Deutung: Schlesien – Preußen – Deutschland

Die antinapoleonischen Befreiungskriege in zeitgenössischer Erfahrung und geschichtspolitischer Deutung: Schlesien – Preußen – Deutschland

Organisatoren
PD Dr. Roland Gehrke; Historisches Institut der Universität Stuttgart; Historische Kommission für Schlesien
Ort
Pforzheim
Land
Deutschland
Vom - Bis
02.11.2012 - 03.11.2012
Url der Konferenzwebsite
Von
Elzbieta Hajizadeh-Armaki, Historisches Institut, Abteilung Geschichte der Frühen Neuzeit, Universität Stuttgart

Die antinapoleonischen Befreiungskriege finden in der neueren Forschung vor allem im Kontext kulturwissenschaftlicher Fragestellungen breite Aufmerksamkeit. Im Mittelpunkt der von Roland Gehrke (Stuttgart) konzipierten und von der Historischen Kommission für Schlesien am 2. und 3. November 2012 im Stadtarchiv Pforzheim veranstalteten Tagung standen Fragen nach dem Charakter und der Deutung der Befreiungskriege 1813-1815 in Schlesien, Preußen und in anderen deutschen Ländern, konkret dem Königreich Westfalen. Es wurde hinterfragt, wie sich die Nationalisierung und die Radikalisierung des Kriegs im öffentlichen Bewusstsein der Zeitgenossen und der späteren Zeit niederschlugen. Ausgehend von der Genese der Befreiungskriege in der preußischen Provinz Schlesien, von deren Hauptstadt Breslau aus König Friedrich Wilhelm III. von Preußen sich mit dem Aufruf "An mein Volk" an seine Untertanen wandte und sie um die Unterstützung für den Kampf gegen Napoleon bat, beleuchteten die Beiträge die Rezeption der antinapoleonischen Kriege im zeitgenössischen Kontext und ihre Deutung in der deutschen Erinnerungskultur.

In der thematischen Einführung skizzierte Roland Gehrke die Problematik der Begrifflichkeit von „Freiheitskriegen“ und „Volkskriegen“. Im Eröffnungsvortrag nahm SEBASTIAN DÖRFLER (Stuttgart) die Periode vor dem Ausbruch der Befreiungskriege in den Blick und befasste sich mit der Prägung von bestimmten Kriegsbildern sowie der Entstehung von Kriegsideen bei Offiziers- und Staatsmännern in Preußen und Russland. Basierend auf Auszügen aus Denkschriften und Briefen russischer und preußischer Militärs und Diplomaten beleuchtete der Beitrag das Bild des Gegners in beiden Ländern, wies auf Parallelen und Unterschiede im Bedrohungsgefühl und der Angst vor Unterdrückung durch Napoleon hin. Mittels zeitgenössischer Vorstellungen, preußischer und russischer Einstellungen zu einem möglichen Krieg gegen Napoleon wurde auf Meinungen, Kriegspläne und Kriegsszenarien, Offensiv- und Strategiekonzepte eingegangen. Darüber hinaus veranschaulichte der Referent verschiedene Konzepte von „Volkskriegen“ und „nationalen Kriegen“ durch Beispiele.

Der Beitrag von ROLAND GEHRKE (Stuttgart) thematisierte die beiden Breslauer Proklamationen des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. vom 17. März 1813 und beleuchtete die Hintergründe, die zur Entstehung der Aufrufe „An Mein Volk!“ und „An Mein Kriegsheer!“ führten, sowie ihre Wirkung in Preußen. Bei der Analyse der Begriffe „Preußen“, „Deutsche“, „Volk“ und „Vaterland“ ging es um die Einordnung der Märzaufrufe zwischen preußischem Landespatriotismus und dem sich schrittweise entwickelnden deutschen Nationalgefühl. Ausgehend von den ersten Entwürfen bis zur Endfassung beschäftigte sich der Beitrag mit Textentwicklungen, Textänderungen und -überarbeitungen sowie der Rolle der daran beteiligten Personen. Des Weiteren fragte der Referent, ob es sich nur um „temporäre Zugeständnisse“ des Königs handelte oder ob sie dauerhafte Auswirkungen auf die preußische Politik hatten. Seiner Meinung nach bilden die Aufrufe einen Kurswechsel in der preußischen Außenpolitik, eine chronologische Zäsur, da sie den offiziellen Beginn der Befreiungskriege markierten, inhaltlich hätten sie in Preußen kaum Spuren hinterlassen, die Zugeständnisse des Königs an „sein Volk“ hätten nur symbolischen Charakter gehabt.

Im Beitrag von BÄRBEL SUNDERBRINK (Hagen), der einer Perspektive „von unten“ gewidmet war, ging es um die Einstellung der Bevölkerung zu den Befreiungskriegen in Preußen, linkselbische Gebiete in Preußen und vormals preußische Teile des Königreichs Westfalen miteinbezogen. Nach einer kurzen Schilderung der historischen Ausgangslage wies die Referentin auf die Zerrissenheit des Territoriums, auf regionale Unterschiede und soziale Differenzierung in der Haltung zu den Befreiungskriegen hin. Die Erwartungen der Bevölkerung wurden erwähnt, konfessionelle Traditionen mitberücksichtigt, Überlegungen für den Eintritt in die Befreiungsarmee erläutert. So zeige die zeitgenössische Publizistik eine gewisse Bandbreite an Positionen. Anfangs habe es sich in Preußen um einen Krieg mit Volkskriegskomponenten gehandelt, weite Teile der Bevölkerung lehnten jedoch den Krieg ab, sahen ihn nicht als den „ihren“ an. Bei der Aufstellung der Landwehr und bei der Werbung von Freiwilligen hätten sich Schwierigkeiten ergeben. So habe es auch deutliche regionale Unterschiede gegeben: In der Nähe zum Machtzentrum habe größere Kriegsbereitschaft geherrscht als in der Peripherie.

BENJAMIN HASSELHORN (Passau) skizzierte eine Reihe von Interpretationen der Befreiungskriege, darunter unter anderem konservative, liberal-nationale, preußisch-patriotische, wilhelminische, national-revolutionäre und marxistische Deutungen. Die dynastisch-konservative Deutung besagte, dass Fürsten und ihre Minister die treibende Kraft im Krieg waren, das Volk nicht aus eigener Initiative, sondern auf den Aufruf des Monarchen hin gehandelt habe. Die liberal-nationale Deutung sah in den Kriegen gegen Napoleon einen Verdienst der Nationalbewegung, deutete die Erhebung des Volks also als Freiheitskrieg. Eine Deutung mit Veteranen und Bürgertum als Trägern war eine preußisch-patriotische. Beweggründe der Kämpfer waren Nationalbegeisterung, preußischer Patriotismus und/oder Königstreue. Die Zeitgenossen waren überzeugt, dass die Freiwilligen zum Sieg beigetragen hätten. Angesichts der Tatsache, dass es Rekrutierungsschwierigkeiten gab und nicht überall gleich große Begeisterung herrschte, war die historische Forschung nach 1870 gezwungen, den Stellenwert der Freiwilligen zu relativieren. Der Freiheitsimpuls wurde angezweifelt, ebenso die Vorstellung, dass es sich um Volkserhebungen gehandelt habe.

Mit Henrik Steffens, einem gebürtigen Norweger, Naturphilosophen und Breslauer Physikprofessor nahm ARNO HERZIG (Hamburg) die Perspektive eines historischen Akteurs ins Zentrum der Betrachtung. Die in 10 Bänden erschienene Autobiografie Steffens‘ sei eine „egozentrische Darstellung“, trotzdem eine gute Quelle für die politische Geschichte. Da die Lebensbeschreibung aber erst in den 1840er-Jahren verfasst wurde, stellt sie eine retrospektive Sichtweise dar. Ausgehend von ausgewählten Stationen im Leben von Steffens erläuterte der Beitrag die Hintergründe der Befreiungskriege und skizzierte die Stimmungslage im Februar 1813 in Breslau. Besonders hervorgehoben wurde Steffens‘ Rolle bei der Mobilisierung der Breslauer Studenten. Laut Selbstdarstellung hatte Steffens den Stein ins Rollen gebracht: Noch vor den Aufrufen des Königs von Preußen im März 1813 und bevor die Entscheidung für den Krieg gegen Napoleon getroffen wurde, habe er vom Saal des Josefskonvikts aus eine Ansprache an die Breslauer Studenten gehalten und sie zum Eintritt in die Befreiungsarmee bewogen.

Mit einem Referat über die von Staatsbeamten vor der Revolution 1848 initiierten schlesischen Geschichtsvereine und staatliche, regierungsamtliche Anweisungen zur Anfertigung von Stadtchroniken leitete ULRICH SCHMILEWSKI (Würzburg) den zweiten Konferenztag ein. Besonders hervorgehoben wurden die Entstehungsgeschichte und die Ziele, die Gründer und die Mitglieder der Vereine sowie deren Bezüge zu den Befreiungskriegen. Neben der bereits 1803/04 entstandenen „Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Kultur“, skizzierte der Beitrag die Motive des Berliner Säkularisierungskommissars Johann Gustav Gottlieb Büsching, die 1818 zur Gründung des „Vereins für schlesische Geschichte und Altertümer“ führten. Die Erinnerung an die Befreiungskriege habe eine große Rolle bei der Entstehung des Vereins für die Geschichte der Stadt Großglogau gespielt. Angesichts der Tatsache, dass es sich bei schlesischen Stadtchroniken um eine Art Auftragsgeschichtsschreibung im Dienst der Regierung handelte, lässt sich die Absicht vermuten, die Erinnerungskultur unter der eigenen Kontrolle behalten zu wollen, so das Fazit des Referenten.

Auf die monarchische Erinnerungskultur und das regionale Gedenken, auf Reisende und Historisierungen im 19. Jahrhundert, auf Jubiläen und ihre mediale Ausgestaltung ging MARIA SCHULZ (Berlin) ein. In ihrem Vortrag stellte sie Denkmale, Schlachtfeldtourismus, Romane, Ausstellungen und Feiern in Schlesien 1813-1945 vor. Es wurde konstatiert, dass Friedrich Wilhelm III. selbst Einfluss auf das Gedenken genommen und an wichtigen Schlachtorten die Aufstellung von Schlachtdenkmalen initiiert habe. Nicht für den König selbst, sondern für den Feldmarschall Blücher wurde in Breslau ein Denkmal errichtet und 1827 eingeweiht. Zahlreiche Romane thematisierten die Befreiungskriege. Von den Autoren, die sich der napoleonischen Zeit annahmen, wurde besonders Gustav Freytag hervorgehoben. Es habe einen Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis gegeben. In der 1913 eingeweihten Breslauer Jahrhunderthalle etwa fand zum hundertjährigen Jubiläum der Befreiungskriege eine Ausstellung zur Erinnerung an den Krieg gegen Napoleon I. statt.

ARMIN OWZAR (Freiburg im Breisgau) präsentierte in seinem Referat verschiedene Deutungsmuster der antinapoleonischen Kriege im 1807 gegründeten, 1813 aufgelösten Königreich Westfalen, einem Modellstaat Napoleons und frühen Verfassungsstaat auf deutschem Boden, das aus der Sicht des Referenten in der historischen Forschung des 20. Jahrhunderts einer Damnatio memoriae verfiel. Das Ziel des Referats bestand darin, mit Hilfe der Begriffsanalyse „die der jeweiligen Deutung zugrunde liegenden Freiheitskonzepte“ zu bestimmen. Das Konzept der Freiheit wurde im Spannungsverhältnis von Einheit und Freiheit, Konstitutionalismus und Nationalismus gedeutet und als politischer, sozialer und identitärer Begriff definiert. Der Beitrag thematisierte Strukturen und Prozesse sowie die Rolle der Akteure des individuellen und kollektiven Handelns, das heißt es wurde danach gefragt, ob das Interesse dem westfälischen Volk, politischen und militärischen Eliten oder Bürgern und Truppen galt. Abschließend ordnete der Referent die Ereignisse von 1813 in den Gesamtkontext des 19. Jahrhunderts ein.

Mit der Bewertung und Deutung des Wiener Kongresses, einer Konferenz zur Neuordnung Europas, setzte sich EVA MARIA WERNER (Innsbruck) auseinander. Als Gegenstand der Erinnerungskultur konnten sich die Verhandlungen in Wien nicht so gut eignen wie die Befreiungskriege, konstatierte die Referentin; bis heute gebe es weder einen regelmäßigen Gedenktag noch Denkmäler. Das 1965 mit einer Ausstellung begangene 150jährige Jubiläum wurde als Ausnahme gewertet. Eine deutliche Meinungsdiskrepanz in der Beurteilung des Kongresses war unter den Zeitgenossen zu beobachten: Eine positive Bewertung nahm Friedrich von Gentz vor, ein Berater von Fürst Metternich, sie erschien im Jahr 1815 in der Zeitung „Österreichischer Beobachter“. Gentz sah in der Wiener Konferenz den „Beginn eines goldenen Zeitalters“. Ganz anderer Meinung war der Publizist Joseph Görres, der sie im „Rheinischen Merkur“ als „ein abermaliges Unglück“ bezeichnete. Anhand von Einträgen in Lexika, Schulbüchern und Überblicksdarstellungen beleuchtete der Beitrag weitere Bewertungen und Neuinterpretationen der Wiener Ereignisse 1814/15 im Wandel der Zeit.

Das Pforzheimer Kolloquium bot Nachwuchswissenschaftlern und etablierten Forschern ein Forum zur Präsentation und Diskussion aktueller kulturhistorischer Erkenntnisse zur Wahrnehmungs- und Deutungsgeschichte. Den Veranstaltern und Teilnehmern gelang es, neue Forschungen zur zeitgenössischen Erfahrung der Befreiungskriege, zu geschichtspolitischen Deutungen und späteren Interpretationen zu präsentieren. Am regen Gedankenaustausch zwischen den einzelnen Vorträgen beteiligten sich außer den Referenten auch andere Mitglieder der Historischen Kommission für Schlesien. In der Gesamtschau beleuchtete die Konferenz, deren Beiträge in der Schriftenreihe „Neue Forschungen zur schlesischen Geschichte“ voraussichtlich Ende 2013 erscheinen werden, ein breites Spektrum an Rezeption und Deutung der historischen Ereignisse 1813-1815.

Konferenzübersicht:

Sebastian Dörfler (Stuttgart): „Der reguläre Krieg ist vorüber – der Nationalkrieg möge beginnen!“ Imaginationen der Befreiungskriege in Russland und Preußen 1806-1813

Roland Gehrke (Stuttgart): „An mein Volk!“ Die Breslauer Proklamation Friedrich Wilhelms III. und die Geschichte ihrer Rezeption

Bärbel Sunderbrink (Hagen): Zwischen nationaler Euphorie und Verweigerung. Die Befreiungskriege aus der Sicht preußischer Kriegsteilnehmer

Benjamin Hasselhorn (Passau): Der Mythos des Freiwilligen in den Befreiungskriegen

Arno Herzig (Hamburg): Henrik Steffens und die „Erhebung in Breslau“ 1813. Reminiszenzen zu seinen Erinnerungen und seiner Korrespondenz aus den Jahren 1813-1816

Christian-Erdmann Schott (Mainz): Die Diskussion um das nationale Gedenken nach den Freiheitskriegen in Schlesien1

Ulrich Schmilewski (Würzburg): Verordnete Geschichtsschreibung? Regierungsamtliche Anweisungen zum Verfassen von Chroniken als Folge der Befreiungskriege

Maria Schulz (Berlin): Romane, Ausstellungen, Denkmale: Die Erinnerungen an die napoleonische Zeit in Schlesien1813-1945

Armin Owzar (Freiburg): Aufstand oder Apathie? Befreiung oder Besetzung? Zur Deutung der antinapoleonischen Kriege im Königreich Westfalen

Eva Maria Werner (Innsbruck): Grundstein eines goldenen Zeitalters oder nationales Unglück? Der Wiener Kongress in der Erinnerungskultur

Anmerkung:
1 Der Vortrag von Christian-Erdmann Schott (Mainz) über „Die Diskussion um das nationale Gedenken nach den Freiheitskriegen in Schlesien“ konnte nicht gehalten werden. Eine geplante Publikation soll den entfallenen Beitrag enthalten.


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