Zukunftsfelder der Frühneuzeitforschung. Wissenschaftliches Kolloquium aus Anlass des 70. Geburtstages von Winfried Schulze

Zukunftsfelder der Frühneuzeitforschung. Wissenschaftliches Kolloquium aus Anlass des 70. Geburtstages von Winfried Schulze

Organisatoren
Arndt Brendecke; Cornel Zwierlein
Ort
Potsdam
Land
Deutschland
Vom - Bis
26.10.2012 - 27.10.2012
Url der Konferenzwebsite
Von
Vitus Huber, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München; Hannes Ziegler, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Aus Anlass des 70. Geburtstages von Winfried Schulze veranstalteten Arndt Brendecke (München) und Cornel Zwierlein (Bochum) ein wissenschaftliches Kolloquium, an dem mögliche ‚Zukunftsfelder’ der Frühneuzeitforschung diskutiert werden sollten. In der Einleitung nannte Zwierlein drei Aspekte, die für Schulze und seinen Lehrstuhl charakteristisch gewesen seien. Einerseits die Pluralität, die sich in den von ihm bearbeiteten oder betreuten Themen widerspiegelte; andererseits den Pragmatismus, mit dem die Forschungsarbeit sichergestellt wurde; und nicht zuletzt Schulzes unermüdliches Interesse an neuen Themen und Ideen. Es bot sich deshalb an, statt einer nostalgischen Feier, eine zukunftsorientierte Tagung zu veranstalten, zu der eine Reihe Fachvertreter mit unterschiedlichen Themenschwerpunkten geladen war. In vier Sektionen skizzierten sie in Impulsreferaten mögliche ‚Zukunftsfelder’, die anschließend kritisch diskutiert wurden. In einer Podiumsdiskussion wurde die bisherige Entwicklung des Faches sowie das Innovationspotential der Frühneuzeitforschung reflektiert.

THOMAS MAISSEN (Heidelberg) sprach zu Beginn über Versuche, die Epoche metaphorisch zu umschreiben, etwa mit Begriffen wie Winfried Schulzes „Musterbuch der Moderne“. Hiervon ausgehend suchte Maissen nach Wegen, die Beschreibung der Frühen Neuzeit als „Noch-Nicht-Moderne“ zu vermeiden und diskutierte verschiedene Periodisierungstraditionen und -konjunkturen. Als ein Beispiel, globale Entwicklungen auch dort im Rahmen eines Epochenzusammenhanges vergleichend zu erzählen, wo nicht notwendigerweise Verflechtungen vorliegen, schlug er die Herausbildung von gunpowder empires um 1500 vor, die wiederum ökonomische, soziale und politische Prozesse nach sich zogen. Mit diesem vergleichenden Blick auf gesellschaftliche Institutionen umgehe man die Beschreibung der Moderne als Zielpunkt einer Entwicklung und gewinne die Freiheit, Moderne als ein mehr oder minder entwickeltes Set von Institutionen zu betrachten, deren Wurzeln in der Frühen Neuzeit liegen. MARTIN MULSOW (Erfurt) thematisierte „Ideengeschichte als Verflechtungsgeschichte“ und konstatierte hier gleich zu Beginn einen Nachholbedarf für die Ideengeschichte der Frühen Neuzeit. Sie tue sich traditionell schwer mit Verflechtungen, da sie in der Rekonstruktion von Denkräumen auf geschlossene geographische Räume angewiesen sei. Für deren Öffnung bedürfe es methodisch kontrollierter Kategorien. Mulsow gab im Folgenden Beispiele für Forschungsfragen entlang der Kategorien Vergleich, Transfer und Verflechtung. Gleichzeitig verwies er hinsichtlich der Forschungspraxis auf Herausforderungen, etwa die nötigen Sprachkompetenzen. Mulsow endete daher mit dem Plädoyer, das Ende der Alleinarbeit in den Geisteswissenschaften zumindest anzudenken. Von der Ideengeschichte ging es mit PETER BURSCHEL (Berlin) zu den Perspektiven der Historischen Anthropologie. Burschel stellte mit Blick auf die Zeitschrift „Historische Anthropologie“ eine abnehmende Präsenz der hier einst prägenden Frühneuzeitforschung fest. Die Historische Anthropologie habe zwar durchaus eine Zukunft, es bleibe nur die Frage, ob dies eine frühneuzeitliche sei. Hiervon ausgehend skizzierte Burschel eine Reihe thematischer, methodisch-programmatischer und perspektivischer Erneuerungstendenzen der Historischen Anthropologie, so etwa in thematischer Hinsicht ein zunehmendes Interesse für Wirtschaftsanthropologie. Damit verband er auch einen methodischen Wandel von einer ethnologisch inspirierten Alltagsgeschichte hin zu einer empirischen Anthropologie. Als perspektivische Erneuerungstendenzen, im Sinne von Herausforderungen, nannte Burschel abschließend den Kulturvergleich, die big history und den material turn.

MARKUS FRIEDRICH (Frankfurt/Main) eröffnete die zweite Sektion mit einem Vortrag über die „Leistungen und Chancen der Archivgeschichte“. Das Wissen in Archiven, so Friedrich, unterliege historisch veränderlichen „Benutzungsregimen“, aus deren Untersuchung sich grundlegende Einsichten sowohl in die Wissens- wie auch die Historiographiegeschichte erwarten ließen. Mit Blick auf die Bedeutung dieser Benutzungsregime erlaube die Einordnung zeitgenössischer Aktivierbarkeit von Wissen und Benutzungsaspekte der Archive eine kritische Hinterfragung allzu rationalistischer Bürokratie- oder Herrschaftsverständnisse, da das Wissen in Archiven, zumal in der Vormoderne, häufig disfunktional erscheine. Zudem gewähre der Wandel dieser Benutzungsregime Einblick in sich verändernde Evidenzstandards und damit auch in historiographischen Wandel. Keinem neuen Feld, aber der Veränderung eines ‚alten neuen‘ Feldes widmete sich MATTHIAS POHLIG (Münster) in seinen Ausführungen über die Politikgeschichte. Seine Anliegen brachte Pohlig in einigen Thesen vor, in deren erster („Es gibt keine Politikgeschichte!“) er von der schwierigen Definition des Feldes und seiner Gegenstände sprach. Es folgten mehrere methodische Plädoyers, nämlich zunächst, die zu Diskurs und Institution neigende Politikgeschichte stärker mit Blick auf die politische Praxis zu betreiben und nach den Spielregeln der Politik zu fragen. Wie das zu leisten sei, unterstrich sodann die letzte These: „Politikgeschichte ist Entscheidungsgeschichte“. Statt zu psychologisieren, sei mit Blick auf Entscheidungsmomente nach den Regeln und Strukturmustern politischer Praxis zu fragen. Mit einem klaren Plädoyer trat auch MORITZ ISENMANN (Köln) an, der schon im Vortragstitel „Mehr Wirtschaftsgeschichte!“ forderte. Die Forschung zu Mittelalter und Früher Neuzeit habe sich „entökonomisiert“, die Wirtschaftsgeschichte ihre Stellung in der Allgemeingeschichte mehr und mehr eingebüßt. Dies, so Isenmann, sei ein Trend, der gerade im Augenblick gebrochen werden könne, wo wirtschaftliche Themen zum einen an Aktualität gewännen, zum anderen ideologische Belastungen der Wirtschaft durch eine zunehmende „Entmystifizierung“ des Ökonomischen gebrochen wären. Hier biete sich die Chance, die Wirtschaftsgeschichte wieder als Gesellschaftswissenschaft zu begreifen. Wenn man methodische und organisatorische Hindernisse ausräume, sei die Wirtschaftsgeschichte in der Lage, Zentrales zur Allgemeingeschichte beizutragen.

WOLFGANG BEHRINGER (Saarbrücken), ETIENNE FRANÇOIS, JÜRGEN KOCKA, HEINZ SCHILLING (alle Berlin), LUISE SCHORN-SCHÜTTE (Frankfurt am Main), WINFRIED SCHULZE (Bochum) und CLAUDIA ULBRICH (Berlin) waren gefragt, als es in der Podiumsdiskussion um eine Positionsbestimmung der Frühneuzeitforschung ging. Aus den verschiedenen Blickwinkeln wurde etwa die Rolle der Frühen Neuzeit im Gesamtzusammenhang der Geschichtswissenschaft, ihre Entwicklung als Teildisziplin und ihre Rolle an den Universitäten diskutiert. Die inhaltlichen Zukunftsfelder wurden denn auch auf dem Podium unter diesen Gesichtspunkten verhandelt und weniger, wie in den Impulsreferaten, bezogen auf den wissenschaftlichen Zugewinn auf einzelnen Teilgebieten. Recht kontrovers debattiert wurden besonders die Aktualität und Nachfrage frühneuzeitlicher Themen außerhalb der Geschichtswissenschaft.

Die dritte Sektion wurde von ANTJE FLÜCHTER (Heidelberg) mit einem Plädoyer für das Konzept der Transkulturalität eröffnet. Mit diesem Konzept werde die Entstehung der kulturellen Einheiten („imagined communities“) untersucht. Es sei durch die Flexibilität der transkulturellen Perspektive auf verschiedenen Ebenen (thematisch und methodisch) anwendbar und nicht auf global situierte Kontaktzonen beschränkt. Flüchter zeigte drei Möglichkeiten auf, um Transkulturalität als Zukunftsfeld für die Frühneuzeitforschung zu erschließen. Erstens im europäischen Kontext, in dem neuerdings der Ansatz der „Staatenbildung von unten“ gewählt würde. Zweitens in Bezug auf Grenzen, die hinsichtlich ihrer Entstehung (Gruppenbildung) und ihrer Vielseitigkeit konzeptionalisiert würden und deren Differenzierungsleistung für die Forschung fruchtbar gemacht werden könnte. Drittens seien Reiseberichte als diskursive Kontaktpunkte transkulturelle Erzeugnisse, die auf ihre Entstehung, Zusammensetzung und Rezeption hin untersucht werden könnten. Auch SÜNNE JUTERCZENKA (Berlin) befasste sich mit Kulturkontakten und sah ein potentielles Zukunftsfeld in der „polyphonen“ Geschichte dieser Kontakte. Sie kritisierte die Typologie, die sich seit den 1980-90er-Jahren in der Historiographie zunehmender Beliebtheit erfreue, als „selektive Annäherung“, die sich nur auf das Wesentliche beschränke und kein exaktes und vollständiges Bild des Untersuchungsgegenstandes wiedergäbe. Um den jeweiligen Gegenwartsbezug und die politische Brisanz zu berücksichtigen, müssten aber verschiedene Perspektiven eingenommen werden. Dazu angeregt würden die Kulturkontaktforscherinnen und -forscher oft durch ebensolche Kulturkontakte – unter anderem mit Nachbardisziplinen wie Kulturanthropologie oder Übersetzungswissenschaft –, was einen vielstimmigen Ansatz fördere, der nebst dem Was, auch nach dem Wie und Warum frage. Eine „Typologisierung des Denkens selbst“ könnte ein Mittel für die Kulturkontaktforschung sein, weil damit die Standortgebundenheit an sich analysiert werden müsste, wodurch diverse Blickwinkel integriert würden. CLAUDIA BROSSEDER (Heidelberg) schloss mit ihrem Plädoyer für Methodenvielfalt und interdisziplinäre Kooperationen am vorangehenden Beitrag an. Sie räumte den Konzepten der Frühen Neuzeit einen defizitären Blick auf die Geschichte Lateinamerikas ein, was konkret sichtbar werde, sobald Prozesse wie die Säkularisierung anhand der andinen Kultur analysiert würden. Brosseder erklärte am Beispiel des religiösen Rituals taqui onqoy, dass in Anbetracht der indigenen Quellen ein Expertisenaustausch zwischen Archäologie, Ethnographie und Historiographie notwendig sei, um die Charakteristika der lateinamerikanischen Geschichte zu erkennen. Die regional und sozialintern unterschiedliche Ausprägung von Religiosität müsste berücksichtigt und in Zusammenhang mit der Eigenheit der andinen „Antike“ gestellt werden.

MARCUS SANDL (Zürich) entwarf zu Beginn der vierten Sektion mit „Figuren und Figurationen des Dritten“ eine ganz bestimmte Perspektive auf Vollzugsformen und Dynamiken vor allem sozialer Konstellationen. Viele als binäre Anordnungen beschriebene soziale Konstellationen seien dadurch gekennzeichnet, „dass Etwas oder Jemand Drittes ins Spiel kommt“. Statt nun lediglich als Übergangserscheinungen oder Vermittler charakterisiert zu werden, sollten diese Erscheinungen des Dritten in ihrem Einfluss auf diese dualen Ordnungen ernst genommen werden, da sie an der Stiftung wie der Störung solcher Ordnungen bedeutenden Anteil hätten. An der Fürsprache als einer klassischen triadischen Ordnung verdeutlichte Sandl die Notwendigkeit, aber auch das Potential einer besonderen Aufmerksamkeit für das Dritte. Auch JAN-FRIEDRICH MISSFELDER (Zürich) legte in seinen Ausführungen zur Sinnesgeschichte Wert auf die Potentiale einer bestimmten methodischen Herangehensweise. Für eine Geschichte, die die Erfahrung der historischen Akteure ernst nimmt, ist es laut Missfelder unumgänglich, die Sinne zu thematisieren und methodisch zu reflektieren. Zwar mögen die Sinne selbst historischer Veränderung entzogen sein, aber das Zustandekommen von Wahrnehmung im Zusammenspiel von sensorischen Praktiken oder Medien und einem bestimmten gesellschaftlichen Zusammenhang deutet darauf hin, dass nicht nur die Sinne selbst eine Geschichte haben, sondern auch die Geschichte – als Wahrnehmung von Zeit und Wandel – der Sinne bedarf. Sowohl für die Historisierung der Sinne als auch für die Versinnlichung der historischen Erfahrung bietet, so Missfelder, die Epoche der Frühen Neuzeit ein geeignetes Feld.

Insgesamt bot das Kolloquium einen konstruktiven Rahmen, gemeinsam über die vergangene und zukünftige Entwicklung des Faches Frühe Neuzeit nachzudenken. Durch die Besetzung der Sektionen und des Podiums beschränkte sich dieses Nachdenken allerdings weitgehend auf die deutschsprachige Forschung. Dass die Meinungen, wie diese Zukunft aussehen könnte oder sollte, naturgemäß auseinandergingen, tat der Diskussion dabei keinen Abbruch. Ohnehin verstand es keiner der Anwesenden als seine Aufgabe, einen gemeinsamen Kurs vorzugeben. Ganz im Sinne der thematischen Offenheit, die auch Winfried Schulzes akademische Arbeit kennzeichnet, darf man die Zukunft der Frühneuzeitforschung, mindestens mit Blick auf die in Potsdam vorgestellten Themen, als erfreulich abwechslungsreich bezeichnen. Eine Herausforderung bleibt, das zeigte die Diskussion an vielen Stellen, die Spannung zwischen den intellektuellen Zielen und der institutionellen Realisierbarkeit.

Konferenzübersicht:

Arndt Brendecke (München) / Cornel Zwierlein (Bochum): Einführung

Sektion I

Thomas Maissen (Heidelberg): Musterbuch der Moderne? Nach-denken über die Etablierung der Frühen Neuzeit als Epoche

Martin Mulsow (Erfurt): Ideengeschichte als Verflechtungsgeschichte

Peter Burschel (Berlin): Wie Menschen möglich sind. Perspektiven einer Historischen Anthropologie

Sektion II

Markus Friedrich (Frankfurt/M): Leistungen und Chancen von Archivgeschichte

Matthias Pohlig (Münster): Neue alte Politikgeschichte – alte neue Politikgeschichte

Moritz Isenmann (Köln): Mehr Wirtschaftsgeschichte!

Podiumsdiskussion: Zukunftsfelder der Frühneuzeitforschung
Wolfgang Behringer (Saarbrücken), Etienne François, Jürgen Kocka, Heinz Schilling (alle Berlin), Luise Schorn-Schütte (Frankfurt/M), Winfried Schulze (Bochum), Claudia Ulbrich (Berlin)

Sektion III

Antje Flüchter (Heidelberg): Transkulturalität als Zukunftsfeld der Frühneuzeitforschung?

Sünne Juterczenka (Berlin): Von der Typologie zur Polyphonie. Für eine vielstimmige Geschichte der Kulturkontakte in der Frühen Neuzeit

Claudia Brosseder (Heidelberg): „Geschichte von unten im frühneuzeitlichen Lateinamerika?!“

Sektion IV

Marcus Sandl (Zürich/Konstanz): „In alieno nomine“. Überlegungen zu Figuren und Figurationen des Dritten in der Frühen Neuzeit

Jan-Friedrich Missfelder (Zürich): Sinn und Sinnlichkeit in der Sinnesgeschichte


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