"Differenzerfahrung und Selbst" (München, 23./24.07.2001)

"Differenzerfahrung und Selbst" (München, 23./24.07.2001)

Organisatoren
Studienstiftung des deutschen Volkes, Bettina von Jagow,Florian Steger
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.07.2001 - 24.07.2001
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Von
Hans-Joachim Jürgens, Universität Hannover

Forschungskolloquium der Studienstiftung des deutschen Volkes

Definitionen von "Maennlichkeit" und "Mannsein" beruhen in einer durch das polare Geschlechtermodell strukturierten Sphaere zuoberst auf ihrer Abgrenzung von "Weiblichkeit" und "Frausein". Differenzerfahrungen oder Differenzproklamierungen gehoeren zu den wesentlichen Komponenten bei der kulturellen Konstruktion von Geschlecht. In diesem Sinne wurde innerhalb des von der Studienstiftung des deutschen Volkes getragenen und von BETTINA VON JAGOW und FLORIAN STEGER (beide Muenchen) organisierten und geleiteten Forschungskolloquiums "Differenzerfahrung und Selbst" der Fokus auf den Zusammenhang von Differenzerfahrungen, Koerperkonzepten und Maennlichkeitskonstruktionen gerichtet. Am 23. und 24. Juli 2001 fanden sich auf Einladung der Organisatoren 10 Referentinnen und Referenten, zumeist Doktorandinnen und Doktoranden aus der Geschichtswissenschaft sowie den Literatur- und Sprachwissenschaften, zusammen, um mit zahlreichen Zuhoerern in den Raeumlichkeiten der Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung in Muenchen ueber "Identitaetsbildung", "Koerpererfahrung" und "Maennlichkeit" zu diskutieren. Das Kolloquium war in sechs thematisch verwandte Bloecke unterteilt und wurde durch zwei zusammenfassende Kommentare (GABRIELE BRANDSTETTER; BETTINA VON JAGOW und JOeRG SIEGMUND) strukturiert.

Die Sprachwissenschaftlerin WILMA KAUKE-KECECI (Karlsruhe) eroeffnete das Forschungskolloquium mit einem Vortrag ueber Konstruktionen von Maennlichkeit am Beispiel der Don Juan-Figur. Auf synchroner Ebene verortete sie in Anlehnung an die gaengige Don Juan-Rezeption Don Juan (katholisch, suedlich, adelig und koerperlich suchend) als Gegenpol zu Faust (protestantisch, nordisch, buergerlich und geistig suchend). Ferner vertrat sie die Ansicht, dass aus diachroner Perspektive die Wurzeln Don Juans bis zum antiken Vorbild des vielgestaltigen Dionysos reichten, der lebendige Urgewalt und Chaos symbolisiere und den Gegenpol Apolls bilde. Diese These wurde durch einen Rekurs auf den daenischen Denker Soeren Kierkegaard belegt, wobei allerdings zu fragen bleibt, ob nicht die Don Juan "repraesentierende" Musik Mozarts im Sinne Kierkegaards apollinische Zuege aufweise. Gehoert es doch gerade zu den wesentlichen Charakteristika der Konstruktion "Don Juan", scheinbar verschiedenartigste Komponenten (maennlich - weiblich, taktisch - chaotisch, ewig - fluechtig) in sich zu vereinen.

Auch die Literaturwissenschaftlerin NICOLE MEYER (Hamburg) thematisierte in ihrem Vortrag am Beispiel von Bodo Kirchhoffs "Ohne Eifer ohne Zorn" "Konstruktionen von Maennlichkeit". Meyer zeigte, dass der Text Kirchhoffs in entscheidender Weise auf Lacans Theorie vom Spiegelstadium rekurriere und zugleich eine Bedrohung maennlicher Identitaet durch "die "Frau"" formuliere. Wenngleich Meyer in der anschliessenden Diskussion die These von einer "Brechung" der Theorie Lacans durch Kirchhoff vertrat, beschraenkte sich ihr Vortrag doch in erster Linie auf die Nachzeichnung vorhandener Parallelen. Mit Ernst Juengers 1934 erschienenem Essay "Der Schmerz" beschaeftigte sich DANIEL MORATS (Goettingen) Vortrag "Die schmerzlose Koerpermaschine und das zweite Bewusstsein". Morat betrachtet Juengers Essay als kulturelle Deutungsleistung, die den Umgang mit dem Schmerz sozial kanalisieren und das Trauma der Materialschlachten des Ersten Weltkriegs bearbeiten solle. Juenger entwerfe, so Morat, das Bild eines "staehlernen Arbeiter-Kriegers", der als "schmerzlose Koerpermaschine" fuer den entindividualisierten und technisierten Krieg in der Moderne geruestet sei. Ferner entwickle er den Begriff des "zweiten Bewusstseins", das es dem "Arbeiter-Krieger" ermoeglichen solle, sich kognitiv von seinem Koerper zu loesen und diesen als Vorposten zu betrachten. Insofern erscheine Juengers Konzeption des Bewusstseins als koerperloser und damit schmerzfreier Wahrnehmung als doppelte Krisenbewaeltigung, die den Zumutungen des Weltkriegs und der Massengesellschaft gleichermassen "maennlich" begegnen wolle.

Den Zusammenhang von Koerpererfahrung und Kriegerkodex thematisierte auch HANS-JOACHIM JUeRGENS (Hannover) in seinem Vortrag ueber "`Staehlerne Maennlichkeit´ Konstruktionen von Maennlichkeiten im Werk Karl Mays". Fussend auf Connells Konzept "hegemonialer Maennlichkeit" analysierte er zunaechst anhand der Romane "Old Surehand I-III", "Der Oelprinz" und "Der Schatz im Silbersee" die Beziehungen zwischen verschiedenen Maennlichkeiten (Hegemonien, Rivalitaeten, Unterordnungen, Marginalisierungen) in der fiktionalen Welt Karl Mays, arbeitete ferner die zeitgenoessischen Bedingungen der Konstitution des Maennlichkeitsideals "Old Shatterhand" heraus und zeigte schliesslich anhand der Figur Kolma Puschi (einer als "wahrer" Mann geltenden Kriegerin), in welch ueberraschender Weise May zwischen Koerpergeschlecht und sozialem Geschlecht unterscheidet.

Die beiden sich anschliessenden Vortraege beschaeftigten sich mit Fragen von "Norm" und "Normabweichung" als Bedingungen von Differenzerfahrung. In diesem Sinne referierte FLORIAN STEGER (Muenchen) in seinem Vortrag zum Thema "Innere Welt - aeussere Realitaet: Erfahrung von Differenz am Beispiel ausgewaehlter `Patienten´geschichten der `Kinderfachabteilung´ Kaufbeuren" ueber den Zusammenhang von Stigmatisierung und Differenzerfahrung. Eindringlich beschrieb Steger den "Weg" eines zehnjaehrigen Jungen mit vermeintlichen Verhaltensauffaelligkeiten in der Zeit des "Dritten Reiches" ueber die "Begutachtung" durch den "Reichsausschuss" zum "Patienten". Hierbei verwies Steger auf die Folgen ideologiemedizinisch gesetzter Normen fuer die Klinifizierung und Stigmatisierung von Kindern. Vor der Folie von Otto. F. Kernbergs Modell von innerer Welt und aeusserer Realitaet verdeutlichte Steger zudem die Tragik einer machtlosen Auseinandersetzung des Zehnjaehrigen mit einem moerderischen System.

HUBERTUS BUeSCHEL (Muenchen) referierte im Zusammenhang des Themenblocks "Differenzerfahrung und Normalitaet" zum Thema "Taeterprofil und Oeffentlichkeit - Psychopathologische Differenzerfahrung im Fall Juergen Bartsch". Im Zentrum des Vortrags stand die Analyse des oeffentlichen Umgangs mit dem Fall Juergen Bartsch, der in medizinhistorischer Hinsicht einen Entwicklungssprung in der forensischen Psychiatrie dargestellt habe. Ferner verwies Bueschel auf das zeitgenoessische Spannungsfeld zwischen den geschilderten Grausamkeiten von Bartsch und seinem "positiven", nicht in das Klischee eines Massenmoerders passenden aeusseren Erscheinungsbild. Den Abendvortrag hielt GABRIELE BRANDSTETTER, Ordinaria am Deutschen Seminar der Universitaet Basel. In ihren Ausfuehrungen zu "staging gender: Koerperkonzepte in Wissenschaft und Performance" rueckte sie den Koerper und seine Bedeutung fuer die Konstruktion von Geschlecht verstaerkt in den Mittelpunkt der Diskussion. Ausgehend von einer Reflexion ueber die Situation der "gender studies" beschaeftigte sie sich mit der Frage, wie "gender" und "performance" nach und in Abgrenzung zu Judith Butler anders zu denken und veraendert im Blick auf Korporalitaet und Korporalitaetskonzepte zu fassen seien. Sie plaedierte fuer eine "leichte" Verschiebung der Begrifflichkeiten, die einen Raum eroeffnen koenne, der weitergehende Reflexion ermoegliche. Als Loesung stellte sie ihr Konzept der "staging gender" vor und erlaeuterte es anhand der Interferenz von Wissenschaft (z.B. die Universitaet als "Buehne des Wissens") und Kunst im 20. Jahrhundert an Beispielen aus Literatur (Arthur Schnitzler) und Performance (Xavier LeRoy, Katja Schenker).

Den zweiten Tag des Kolloquiums eroeffnete THOMAS STOeBER (Muenchen) mit einer zusammenfassenden kritischen Betrachtung des ersten Tages. Dabei entwickelte er eine versuchsweise Typologie von "Differenz" und schlug vor, der "Differenz" den Gumbrechtschen Praesenz-Begriff entgegenzustellen. Es folgte ANDREAS DEGEN (Berlin) mit einem Vortrag zum Thema "Selbstueberschreitungen bei H. H. Jahnn und J. Bobrowski". Jahnns Romantrilogie "Fluss ohne Ufer" und Bobrowskis Roman "Litauische Claviere" analysierend, fasste Degen Differenzerfahrung als "Rueckseite" von "Einheitserfahrung". Waehrend Jahnn Entgrenzung (zeitweise oder dauerhafte Uebergaenge in die Identitaet eines anderen) - symbolisch in leibhaftiger "Vermischung" durch einen Austausch des Blutes - als letzte Steigerung homoerotischer Freundschaft begreife, lasse Bobrowski seinen Protagonisten als "Gegenwartsflucht" einen halluzinativen Identitaetswechsel in eine historische Person vollziehen. Degen fuehrte ferner aus, dass beide Entgrenzungen stiftende Identitaetswechsel, obgleich entgegengesetzten Konzepten entspringend, letztlich zum Scheitern verurteilt seien.

BETTINA VON JAGOW (Muenchen) stellte den Anruf einer maennlichen Muse durch eine Dichterin in ihrem Vortrag "Musenanruf und Maennlichkeit: Zu den Begegnungen zwischen Rainer Maria Rilke und Ilse Blumenthal-Weiss" dar. Die europaeische Tradition des Musenanrufs (Homer, Parmenides, Vergil, Horaz, Ovid, Dante, C. F. Meyer), die die den Dichter inspirierende und belehrende Muse als "weiblich" benennt, kritisch reflektierend, eruierte von Jagow in der Korrespondenz zwischen Rilke und Blumenthal-Weiss die Tatsache, dass der Dichter durch seine Hinwendung zur Dichterin in deren Bewusstsein die klassischen Funktionen einer Muse erfuelle. Rilke werde zur maennlichen Muse stilisiert, die Blumentahl-Weiss die notwendige Inspiration zum Dichten einhauche.

Den letzten Vortrag des Kolloquiums hielt CHRISTINA PAREIGIS (Hamburg) zum Thema "Nur Traumfragmente in Saetzen, die ich im Weglaufen freigelassen habe. Wege der Flucht. Yitskhak Katsenelsons jiddische und hebraeische Schriften am Vorabend der Shoah". Pareigis fuehrte aus, dass die Flucht als Metapher und poetische Ueberlebensstrategie auf eine Kontinuitaet wechselnder, fuer Katsenelsons Dichtung konstitutiver Situationen, die stetig neu den Impuls des Aufbrechens evozieren, verweise. Seine poetischen Reflexionen zeugen in vielfaeltiger Weise von Schwellen- und Differenzerfahrungen. Der Koerper werde - physisch und textuell - zur Projektionsflaeche fuer die Bewegung zwischen fortschreitender Zerstoerung und zukunftgerichtetem Werden.

Insgesamt kann das Kolloquium als sehr gelungen bezeichnet werden. Die transdisziplinaere Ausrichtung versprach und hielt dank der Vortraege von ueberwiegend hohem Niveau wichtige Impulse fuer die Auseinandersetzung mit der Problematik von "Differenzerfahrung", "Selbst" und "Maennlichkeit". Sowohl in einer Reihe von Beitraegen als auch in den aeusserst fruchtbaren Diskussionen wurde allerdings deutlich, dass sich einige Teilnehmer nicht von einer durch das polare Geschlechtermodell gepraegten Betrachtungsweise von "Maennlichkeit" zu loesen vermochten. So wurde wiederholt von "der" Maennlichkeit, nicht aber von "Maennlichkeiten" gesprochen, in Einzelfaellen auf essentialistische Deutungen von "Maennlichkeit" rekurriert.


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