Karitativ-pflegerische und kurativ-medizinische Versorgungslandschaften

Karitativ-pflegerische und kurativ-medizinische Versorgungslandschaften

Organisatoren
DFG-Projekt „Krankheit im Dorf – ‚Patienten’- und Sozialgeschichte im Umfeld der hessischen Hohen Hospitäler Haina und Merxhausen (1730-1810)“
Ort
Marburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
12.10.2012 - 13.10.2012
Url der Konferenzwebsite
Von
Natascha Noll, Marburg

Vom 12.-13. Oktober 2012 fand im Rahmen des DFG-Projekts „Krankheit im Dorf – ‚Patienten’- und Sozialgeschichte im Umfeld der hessischen Hohen Hospitäler Haina und Merxhausen (1730-1810)“ auf Einladung von Irmtraut Sahmland (Marburg) und Christina Vanja (Kassel) der Workshop zum Thema „Karitativ-pflegerische und kurativ-medizinische Versorgungslandschaften“ in der Arbeitsstelle für Geschichte der Medizin in Marburg statt. Der Workshop war gezielt auf einen kleinen Kreis von Teilnehmern und Teilnehmerinnen ausgerichtet, um Vorträge und Fragestellungen intensiv diskutieren zu können.

Zum Einstieg erläuterte IRMTRAUT SAHMLAND (Marburg), dass das laufende DFG-Projekt und ein aus diesem Kontext heraus geplantes Projekt zu Hospitälern und Krankenhäusern in Hessen vom Mittelalter bis zur Gegenwart Anlass dafür gewesen seien, den Workshop zu veranstalten. Der zentrale Begriff der Versorgungslandschaft eigne sich in besonderer Weise als eine betont offene Metapher, mit der a priori möglichst wenig Vorannahmen verknüpft seien. Sie verstehe ihn sowohl personell bezüglich der Verfügbarkeit von Heilpersonen als auch institutionell auf der Ebene stationärer Versorgung. Sie betonte die Notwendigkeit, einen solchen Ansatz mit einem festen regionalen Bezugsrahmen zu verbinden, um historische Landschaften medizinischer Versorgung generieren zu können, in der alle Einrichtungen erfasst werden. Die vielversprechende Perspektive liege darin, Entstehungs- und Wandlungsprozesse und deren Bedingungen in einem Flächenbezug analysieren zu können. Beispielhaft lotete sie sodann anhand einer Quelle Ansatzpunkte und Möglichkeiten hierfür aus. Das Zugangsbuch der hessischen Hohen Hospitäler erfasst alle Aufnahmebewilligungen für den Zeitraum 1792-1810. Die Analyse dieser Daten erlaubt Erkenntnisse unter anderem über die tatsächliche Wirksamkeit der drei Hospitäler für die Bevölkerung in der Fläche, im Vergleich von Städten und Dörfern ebenso wie in Bezug auf Nähe und Peripherie der Hospitäler. Zum Abschluss skizzierte Sahmland das geplante Projekt, in dem die institutionelle Versorgungslandschaft in Hessen in historischer Perspektive erfasst werden soll. Das Projekt soll als Modul innerhalb des Landesgeschichtlichen Informationssystems Hessen (LAGIS) verwirklicht werden. Die Referentin stellte eine Übersicht der zu erfassenden Institutionen und die inhaltlichen Punkte der Erfassungsmaske vor, während sie für die technische Umsetzung auf den Vortrag von Otto Volk am folgenden Tag verwies.

KATRIN DORT (Trier) präsentierte Ergebnisse ihrer Dissertation über die karitativen Einrichtungen in der Stadt und im Bistum Lucca vom frühen 8. bis ins frühe 13. Jahrhundert. Auf Grundlage der guten urkundlichen Überlieferung Luccas identifizierte sie 28 Fürsorgeinstitutionen im Frühmittelalter sowie 60 Hospitäler im Hochmittelalter, die in zwei unabhängigen Gründungsphasen entstanden. Dort zeigte, dass die Einrichtungen Funktionen sowohl im karitativ-gemeinnützigen wie im politischen und strategisch-herrschaftlichen Bereich erfüllen konnten. Sie dienten als Herberge für Pilger und boten Unterstützung und Speisung für Arme, Witwen und Waisen. Darüber hinaus nutzten Adlige und Angehörige der Luccheser Führungsgruppen die Einrichtungen zu sozialen, wirtschaftlichen und politischen Zwecken, zum Beispiel um Klientelbindungen zu stärken, Grundbesitz zu akkumulieren oder den politischen Einfluss in der Stadt zu erhöhen. Durch ihre Lage an wichtigen Straßen und an strategisch bedeutsamen Punkten wie Brücken oder Kastellen halfen die Hospitäler ihren Besitzern, Verkehrswege zu kontrollieren und den Raum herrschaftlich zu durchdringen.

MARTIN UHRMACHER (Luxemburg) stellte zentrale Ergebnisse seiner Dissertation zu Leprosorien in den Rheinlanden vor. Diese nahm er als Ausgangspunkt für die weiterführende Frage nach raumbezogenen Forschungsansätzen, welche in der bisherigen Forschung zu Leprosorien nicht bewusst angewendet worden seien. Aufbauend auf dem Konzept der Städtelandschaft und daran anschließenden Überlegungen von Michel Pauly für die Hospitalsgeschichte verfolgte Uhrmacher die Idee, eine Landschaft zu konstruieren, indem Institutionen mehrere Merkmale zugeordnet werden, die diese von anderen Institutionen abgrenzen. Gleichzeitig problematisierte er diese Herangehensweise für die Leprosorien der Rheinlande, weil es hier eben gerade nicht möglich sei, eine Häufung mehrerer abgrenzbarer Merkmale festzustellen. Der Blick auf andere europäische Forschungen biete hingegen zu wenige Vergleichsmöglichkeiten, da ein Bewusstsein von räumlichen Zusammenhängen nicht vorhanden sei. Leprosorienlandschaften seien daher bisher nicht herauszuarbeiten, dafür bedürfe es mehrerer Studien mit Raumbezug und eines detaillierten Katalogs zu den einzelnen Einrichtungen.

MARIA HEIDEGGER (Innsbruck) ging zunächst auf Ergebnisse des Projekts „Psychiatrische Landschaften“ in Tirol und Südtirol ein. Dabei kennzeichnete sie die Verwendung des Begriffs Landschaften im Plural als wesentlich für den Umgang mit verschiedenen historischen Gebieten in Tirol. Die zeitweise eng verbundene, zeitweise weit auseinanderdriftende Entwicklung der psychiatrischen Einrichtungen im deutschsprachigen und italienischsprachigen Gebiet Tirols verdeutlichte auch den großen Einfluss, den politische Prozesse auf die Versorgungslandschaft in einer Region haben können. Im zweiten Teil des Vortrags stellte Heidegger ein neues Projekt mit dem Titel „Sorge um die Seele“ vor, das den Fokus auf die Pastoralmedizin und hier insbesondere auf die Patientengeschichte legen soll. Die Herangehensweise sei eine erfahrungshistorische, die säkulare und religiöse Orientierungsmuster in den Blick nehme. Die Referentin plädierte zum Abschluss dafür, dass die historische Forschung zu psychiatrischen und pastoralmedizinischen Versorgungslandschaften die Akteure in den Blick nehmen sollte, um diese in Beziehung mit der Struktur und Funktionsweise der Räume zu setzen.

Die Diskussionen des ersten Workshoptages waren geprägt von der Frage, wie Landschaft(en) überhaupt zu erfassen und von nahe verwandten Begriffen wie Region und Gebiet abgegrenzt werden könnten. Dabei kristallisierte sich heraus, dass Landschaft je nach Forschungsinteresse sehr unterschiedlich verstanden wird. Landschaften können unter anderem naturräumlich oder nach politischen und religiösen Grenzziehungen definiert werden, lassen sich aber auch aufgrund des Vorhandenseins spezieller Institutionstypen oder des Einflussbereichs bestimmter Akteure konstituieren. Als Fazit der Diskussionen stellte sich somit dar, dass der Begriff der Landschaft sich einer festen Kategorisierung bisher entzieht, er sich aber vielleicht gerade deshalb für flächen- oder raumbezogene historische Forschungen besonders eignet.

Zu Beginn des zweiten Workshoptages stellte ELKE SCHLENKRICH (Frankfurt/Oder) sowohl das Patientenspektrum als auch das Zusammenspiel zwischen drei Einrichtungen der Leipziger Armenfürsorge in der Frühen Neuzeit in das Zentrum ihres Vortrags. Dabei verdeutlichte sie, wie der Funktionswandel, den die einzelnen Einrichtungen durchliefen, einerseits von wechselnden Bedürfnissen bestimmt wurden, sich andererseits aber auch in Ergänzung zum Angebot anderer Einrichtungen entwickelten. So wurde zum Beispiel das Lazarett für Pestkranke nach der Zerstörung des Georgenhospitals zum Sozialasyl, während es im 18. Jahrhundert kranke Soldaten aufnahm. Im 19. Jahrhundert seien diese Transformationsprozesse zum Abschluss gekommen, indem sich spezielle Profile herausgebildet hätten, die sich wiederum ergänzten.

Mit einem akteurszentrierten Ansatz beleuchtete ARNE THOMSEN (Bochum) das katholische Krankenhauswesen im Ruhrgebiet in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Dabei identifizierte er die Pfarrer als diejenigen, die eine zentrale Rolle sowohl bei der Gründung als auch bei der weiteren Betreibung der Krankenhäuser spielten. Die Entwicklung der Krankenhäuser stellte Thomsen nicht zuletzt auch als Aushandlungsprozess zwischen Pfarrern, Schwesternkongregationen, Ärzten und Spendengebern dar. Trotz der Gründungswelle katholischer Krankenhäuser sei jedoch keine gezielte Gründungspolitik der Diözesen zu erkennen und auch kein Netzwerk katholischer Krankenhäuser entstanden.

ANDREA PRASCHINGER (Wien) stellte drei Herangehensweisen vor, die stationäre Versorgung in Österreich greifbar zu machen. Zuerst zeigte sie anhand von statistischen Auswertungen die Zusammenhänge zwischen Bevölkerungs- und Krankenhausentwicklung auf, die zum Beispiel in der Bettenanzahl, der geographischen Lage und der fachlichen Ausrichtung der Krankenhäuser deutlich wurden. Als zweites hob sie Postkarten als für die Forschung interessante Quellen hervor, aus denen sich unter anderem Informationen zur Selbstdarstellung von Krankenhäusern, aber auch zum Einzugsgebiet derselben gewinnen ließen. Im dritten Teil nahm sie das heutige Personalproblem von Krankenhäusern in ländlichen Gebieten zum Anlass, um über Umleitungsmechanismen nachzudenken, die einer besseren Verteilung von Medizinstudenten dienen könnten. Zum Abschluss stellte Praschinger einen Ansatz vor, der es ermöglichen könnte, historische Themen stärker im Wechselspiel von Fähigkeiten und Wissen zu untersuchen, als „Gedankenexperiment“ zur Diskussion.

Mit den abschließenden beiden Vorträgen rückte der Aspekt der Vermittlung von Forschungsergebnissen stärker in den Vordergrund. ROLF BRÜGGEMANN (Göppingen) vom psychiatrischen Museum „MuSeele“ berichtete zunächst, wie aus zahlreichen Besuchen von Psychiatriemuseen in Europa eine Zusammenarbeit zwischen diesen Museen entstand. Unter anderem wurden und werden EU-Projekte in Kooperation von 11 Museen durchgeführt. Brüggemann stellte drei geplante Projekte vor, an denen das Museum in Göppingen beteiligt ist: eine Ausstellung zur Syphilis, eine Initiative zur aktuellen Problematik der „Kettenmenschen“ in Westafrika und eine Ausstellung zur Lobektomie nach dem 2. Weltkrieg. Der Referent verdeutlichte eindrücklich, wie Kooperationen gerade kleinen Institutionen ermöglichen, Projekte zu verwirklichen. Zum Abschluss betonte er die Wichtigkeit, Dinge weiterhin sichtbar und spürbar zu machen und nicht ausschließlich auf eine Medienpräsentation zu setzen.

OTTO VOLK (Marburg) stellte das „Landesgeschichtliche Informationssystem Hessen“ (LAGIS) vor. Er betonte die Vorteile des modularen Aufbaus des Internetportals, was eine schrittweise Erweiterung des Angebots ermögliche. Nach einem Überblick über die Funktionen und Inhalte von LAGIS ging er auf das geplante Modul „Hospitäler und Krankenhäuser“ ein, das zusammen mit Irmtraut Sahmland erarbeitet wurde und sich in einer ersten Testphase befindet.

In die Abschlussdiskussion führte CHRISTINA VANJA (Kassel) mit der Frage ein, welchen Nutzen Darstellungen zu karitativ-pflegerischen und kurativ-medizinischen Versorgungslandschaften haben. Dabei umriss sie die Felder der allgemeinen Geschichtswissenschaft, der Medizingeschichte und des Interesses der heutigen Krankenhausträger.

Die sich anschließende Diskussion drehte sich um die Frage, wie sich die Hospitals- und Krankenhausgeschichte in den verschiedenen Feldern stärker verorten könnte, besonders auch in Hinsicht auf finanzielle Fördermöglichkeiten. Ausführlich wurde die Position und Rolle der heutigen Krankenhausträger diskutiert, wobei Konsens unter den Teilnehmern und Teilnehmerinnen herrschte, dass Möglichkeiten zu einer stärkeren Einbeziehung von Krankenhausträgern bei der Finanzierung von Forschungsvorhaben vor allem darin lägen, deutlich den Mehrwert der eigenen Geschichte für Marketing und Außendarstellung hervorzuheben. Grundlegend dafür erscheine die Anknüpfung an aktuelle Themen, aber auch an konkrete Problemlagen der jeweiligen Institution, die diese zu einer Auseinandersetzung mit der Geschichte zwingen können.

Für die Hospitals- und Krankenhausgeschichte insgesamt wurde die Ausweitung der bisherigen Forschungsschwerpunkte diskutiert. Einerseits sei eine Überwindung der vorherrschenden rein lokalen Ansätze nötig, die sich vor allem auf eine Institution oder eine Stadt beziehen. Andererseits müsse das Potenzial der Hospitals- und Krankenhausgeschichte stärker als Ausgangspunkt für interdisziplinäre Forschungen erkannt und genutzt werden, um unter anderem an allgemeine soziale, wirtschaftliche, medizinische, städtische etc. Fragestellungen anzuknüpfen.

Konferenzübersicht

Begrüßung und Einführungsvortrag

Irmtraut Sahmland (Marburg): Die hessischen Hohen Hospitäler und der Plan der Erarbeitung einer stationären karitativen und medizinisch-kurativen Versorgungslandschaft in Hessen vom Mittelalter bis in die Gegenwart

Kathrin Dort (Trier): Karitative Einrichtungen in Stadt und Bistum Lucca vom frühen 8. bis zum frühen 13. Jahrhundert

Martin Uhrmacher (Luxemburg): Die Rheinlande als Beispiel einer Versorgungslandschaft Leprakranker in Mittelalter und früher Neuzeit? Eine kritische Analyse raumbezogener Forschungsansätze im internationalen Vergleich

Maria Heidegger (Innsbruck): Psychiatrische und pastoral-medizinische Versorgungslandschaften im historischen Tirol

Elke Schlenkrich (Frankfurt/Oder): Erste Schritte zu spezialisierten Behandlungskonzepten in geschlossenen Einrichtungen der Leipziger Armenfürsorge (17.-19. Jh.)

Arne Thomsen (Bochum): Katholisches Krankenhauswesen im Ruhrgebiet 1840-1914

Andrea Praschinger (Wien): Wandel in der stationären Versorgung an drei ausgewählten Beispielen aus Österreich

Rolf Brüggemann (Göppingen): Die Zusammenarbeit der Psychiatriemuseen in Europa. Verschiedene Projekte mit EU-Förderung

Otto Volk (Marburg): LAGIS - das Landesgeschichtliche Informationssystem des Landesamtes für geschichtliche Landeskunde

Christina Vanja (Kassel): Thesen und Abschlussdiskussion