Im Spiegelkabinett der Paranoia

Im Spiegelkabinett der Paranoia

Organisatoren
Graduiertenkolleg »Mediale Historiographien« (Weimar/Erfurt/Jena); in Kooperation mit dem Germanistischen Seminar der Universität Siegen; und dem Institut für Medienwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum
Ort
Weimar
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.10.2012 - 26.12.2012
Url der Konferenzwebsite
Von
Hanna Engelmeier, Fakultät Medien, Lehrstuhl für Geschichte und Theorie künstlicher Welten, Weimar

Am 7. Dezember 1955 kommt Jacques Lacan in seinem Seminar über die Psychosen auf Daniel Paul Schreber zu sprechen, den Autor der Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, der in Freuds Aufsatz Psychoanalytische Bemerkungen zu einem autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia Paranoides) von 1911 im Zentrum der Überlegungen steht. Lacan sagt:

„Ich sehe nicht ein, daß das System Schrebers weniger wert wäre als diejenigen jener Philosophen, deren Hauptthema ich Ihnen soeben in Umrissen dargestellt habe. Und was Freud im Augenblick, wo er eine Erläuterung abschließt, klar wird, das ist, daß dieser Kerl im Grunde genommen großartige Sachen geschrieben hat, die dem ähneln, was ich beschrieben habe, Freud.“1

Die Schwierigkeit, die Grenze zwischen pathologischem Befund und literarischem Text oder künstlerischem Schaffen zu ziehen, die Lacan hier benennt, zeigte sich immer wieder in den verschiedenen Beiträgen des Workshops „Im Spiegelkabinett der Paranoia“, der am 25. und 26. Oktober am Graduiertenkollegs „Mediale Historiographien“ in Weimar stattfand. Die Autoren Schreber-Freud-Lacan, deren schwieriges Dreiecksverhältnis für die Geschichte der Paranoia-Forschung von so entscheidender Bedeutung war, stand in keinem der dreizehn Beiträge im Zentrum der vorgetragenen Überlegungen; alle drei erwiesen sich jedoch als die großen Anwesend-Abwesenden des Workshops.

Am deutlichsten wurde dies vielleicht im Beitrag von WOLFRAM BERGANDE (Weimar), der in einem fragmentarischen Werkstattbericht seine psychoanalytisch orientierten Thesen zum Fall des Kanadiers Denis Lortie vorstellte, der im Mai 1984 die Nationalversammlung von Québec stürmte, und dort in einem psychotischen Delirium mehrere Menschen erschoss, da er glaubte, einen göttlichen Auftrag dazu erhalten zu haben. Den von Freud am Psychotiker diagnostizierten Unglauben der Welt gegenüber, der durch eine subjektive Gewissheit über die Halluzinationen beim Psychotiker ergänzt wird, zeigte Bergande am Fall Lortie auf und kontrastierte ihn mit zeitgenössischen Videos der Sekte Scientology, die zur Gewinnung von Mitgliedern darauf setzt, die latent vorhandenen paranoiden Anteile verunsicherter Bürger ansprechen zu können.

Während im Falle Lorties das pathologisch-deviante Moment nahezu überdeutlich festzustellen ist, wiesen einige der interessantesten vorgestellten Quellen eher das auf, was in den einleitenden Worten der Veranstalter als „Exzesse der Vernünftigkeit“ bezeichnet wurde. Dazu zählte unter anderem die Geschichte Ted Kaczynskis, der als „Una-Bomber“ bekannt wurde, und in den USA der 1990er-Jahre einige Anschläge durch Briefbomben verübte, die er selbst als Versuchsreihe betrachtete. LARS KOCH (Siegen) führte hier Parallelen zu den jüngeren Taten Anders Breiviks an: beide Attentäter haben ein enormes Lektürepensum absolviert, bevor sie ihre Taten begingen, um so intellektuell die Weltanschauung zu konstruieren, die ihre Grausamkeiten rechtfertigten; beide empfanden die Diagnose „schizophrene Paranoia“ als größte Strafe, da diese ihre Intelligenz in Frage zu stellen schien.

RUPERT GADERERs (Bochum) Ausführungen über den Zeitungsverleger Lehmann-Hohenberg, der Anfang des 20. Jahrhunderts auf beinahe manische Art Zeitungen verlegte und sich parallel in der deutschen Justiz als Querulant einen Namen machte, stellte ein weiteres Beispiel für einen scheinbar im Rationalen operierenden Grenzgänger vor und konnte anhand seiner Darstellung der Pathologisierung der Prozesshaftigkeit der Verwaltung den Ursprung der Paranoia eben dort ausmachen.

Besonders anhand dieses Beitrags wurde deutlich, dass das Leben des Paranoikers durch die beständige, große Anstrengung dominiert wird, sich in der Bestätigung eigener Weltanschauung zu erschöpfen, die maßgeblich durch Verschwörungstheorien gekennzeichnet ist. Dazu gehört vor allem die fortwährende Identifikation von Freund und Feind, letzterer scheint dabei immer in der Überzahl und erschwerend auch noch unsichtbar zu sein, und muss dementsprechend deutlich markiert werden, um drohende Gefahr abzuwenden. Die politischen Implikationen dieses Befunds wurden in je ganz unterschiedlichen Wendungen von Friedrich Balke (Bochum), Timm Ebner (Weimar) und Christian Geulen (Koblenz) behandelt. FRIEDRICH BALKE untersuchte mit dem Fokus auf Carl Schmitt und Thomas Hobbes eine politische Situation, die von dem Wirken unsichtbarer Mächte bestimmt wird. Unter dem Stichwort des „Zutagetretens einer enormen Bedeutung, die nach nichts aussieht“, zielte seine Analyse schließlich auf die Biopolitik, in der diese „enorme Bedeutung“ auf den Körper verschoben wird. TIMM EBNERS Vortrag griff den Roman „Verrräter“ des NS-Schriftstellers Henrik Herse auf, um den Verräter als zentrale Figur der NS-Literatur zu etablieren. In seiner Typologie von vier Verräter-Figuren hob Ebner vor allem die Konzeption der Rasse-Differenz und weitere nationalsozialistisch geprägte Dichotomien hervor, deren Wirksamkeit seinen Ausführungen nach vor allem durch die paranoische Destabilisierung der Gesellschaft im Dritten Reich möglich war. Die Frage der Differenzierung oder Entdifferenzierung, die im Verbund mit dem Rasse-Begriff Paranoia auslöse, war im Anschluss Gegenstand der Diskussion, in der danach gefragt wurde, inwiefern nicht eben besonders fehlende Unterscheidungsmöglichkeiten von Individuen als Ursprung von Paranoia ausgemacht werden können. CHRISTIAN GEULEN ging in seinem Vortrag dem Zusammenhang von Paranoia und Determinismus nach; dazu wandte er sich den Lebenswissenschaften seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zu. Den Lamarckismus, der die Vererbung erworbener Eigenschaften propagierte, und im frühen 20. Jahrhundert noch immer im Zentrum evolutionärer Debatten stand, stellte Geulen als einen Auslöser für eine Paranoia dar, die auch einen herrschaftsinstrumentellen Zweck habe, beispielsweise in der Rede von der „Rassenschande“ in der nationalsozialistischen Ideologie.

Einen weiteren Schwerpunkt des Workshops stellten einerseits Untersuchungen zur Paranoia in der bildenden Kunst dar (Elena Meilicke, Martin Stingelin, Jörn Ahrens), andererseits ging es um Verarbeitungen von Paranoia in literarischen Texten (Hubert Thüring, Burkhardt Wolf, Luisa Banki, Anna Häusler). In seinem Vortrag zur Bedeutung der Paranoia in Leben und Werk von J. M. R. Lenz kam HUBERT THÜRING (Basel) zu einer Charakterisierung von Paranoia, die diese als ein Medium beschrieb, in welches das Subjekt eingeschlossen sei, obwohl es sich ausgeschlossen fühle. In dieser Fassung des Begriffs zog Thüring schließlich besonders den sich seit 1750 entwickelnden vitalistischen Lebensbegriff heran, den er als Voraussetzung für seine Deutung der Lenzschen Paranoia markierte.

BURKHARDT WOLF (Berlin) nahm in seinem Vortrag zu Georg Heyms Novelle „Der Dieb“ vor allem auf den die Paranoia bestimmenden Affekt der Angst Bezug, den er anhand der Beiträge von Kierkegaard, Freud und Lacan zu diesem Komplex erklärte. Die affirmativ-negierende Haltung, die Heym in „Der Dieb“ laut Wolf gegenüber einer Deutung von Poesie einnimmt, die sie (mit Lacan) als eine Erfahrung beschreibt, die es erlaube, einen Vorstoß ins Reale vorzunehmen, bildete die abschließende Betrachtung seines Vortrags. Eine Untersuchung der grundsätzlich paranoiden Strukturen moderner Literatur unternahm LUISA BANKI (Konstanz) in ihrem Beitrag, der sich vor allem mit W.G. Sebald beschäftigte. Die Analyse eines Beziehungswahns („everything’s connected“), der in der Literatur zu einem Bedeutungswahn umgebaut wird, stand dabei im Vordergrund ihres Interesses, das sich besonders semiotischen Überlegungen zu diesen Fragen zuwandte. ANNA HÄUSLER (Berlin) arbeitete in ihrem Beitrag mit einem anderen Theorieansatz, der Systemtheorie, die paranoischen Strukturen der Texte Rainald Goetz’ auf. Goetz hat verschiedentlich auf sein besonderes Faible für diese Denkschule hingewiesen, seine Auseinandersetzung mit dem Werk Luhmanns schlug sich auch in Häuslers Ausführungen zu Texten wie „Das Polizeirevier“ oder „Rave“ nieder, die durch die Konstruktion komplexer Beobachtungssituationen gekennzeichnet sind, wie sie auch in der paranoischen Wahrnehmung immer wieder wichtig werden.

Ganz handfest war das in den Vorträgen ersichtlich, die sich mit Arbeiten aus dem Bereich der bildenden Kunst beschäftigten: ELENA MEILICKE (Weimar) stellte die Arbeiten des Polaroid Künstlers Horst Ademeit vor, der als „social media Künstler avant la lettre“ versuchte, eine genaue Kontrolle des Blicks des Betrachters seiner Werke zu erzielen; in Verbindung mit Erläuterungen zur Entwicklung der Polaroid-Fotografie als Mittel der Kriegstechnik entwickelte Meilicke ihre Gedanken, dass dieses Medium als eine paranoid gefärbte Technik der Blickbeherrschung aufgefasst werden kann.

Zuvor hatte MARTIN STINGELIN (Dortmund) bereits die Arbeiten des Art-Brut-Künstlers Adolf Wölflis vorgestellt, die er mit den Schriften des Arztes Morgenthaler, der Wölfli in der psychiatrischen Klinik Waldau behandelte, in Zusammenhang setzte. Diese Konstellation kann als ein weiteres Beispiel für die Schwierigkeiten gelten, die Lacan bereits 1955 für das Verhältnis Freud-Schreber beschrieben hatte. Die gegenseitige Beeinflussung von Psychiatrie und Kunst, die Stingelin hier ausmachte, verhandelte er mit Hilfe des begrifflichen Instrumentariums, das Jürgen Links „Versuch über den Normalismus“ bereitstellt. Den vielleicht ungewöhnlichsten Paranoia-Patienten stellte JÖRN AHRENS (Siegen) im letzten Vortrag des Workshops vor: Der Comic-Held Batman diente ihm als Beispiel dafür, wie sich eine Persönlichkeit erst durch Paranoia herstellen lasse. Die Inszenierung einer Paranoia (die jedoch, wie Ahrens bemerkte, nicht ganz „lupenrein“ sei) im Medium des Comics schloss somit den Workshop mit einer Perspektive auf die Paranoia ab, die noch einmal die Aufmerksamkeit auf die medientheoretischen Potentiale des Begriffs lenkte. Die Vielfalt der Zugriffe auf ein Thema, das ursprünglich dem psychiatrischen Bereich entstammt, bewies ein weiteres Mal die enormen Potentiale, die eine Zusammenführung wissenschaftshistorischer und medien-, bzw. kulturwissenschaftlicher Forschung eröffnet. Dabei muss allerdings im Auge behalten werden, dass gerade solche interdisziplinären Kooperationen zu Diskussionen führen, die so voraussetzungsreich sind, dass es schwerlich gelingen kann, sich auf einem gemeinsam gesicherten Terrain zu bewegen. Da die Diskussionen bei diesem Workshop sehr lebendig waren und durchweg konstruktiv verliefen, bleibt jedoch vor allem die Offenheit der Organisatoren und Beitragenden zu vermerken.

Konferenzübersicht:

Timm Ebner / Elena Meilicke (Berlin/Weimar): Einführung

Hubert Thüring (Basel): Vom Lebens/Geist verfolgt: J.M.R. Lenz

Rupert Gaderer (Bochum): Weimars „Echte Paranoia“: J. Lehmann-Hohenberg

Martin Stingelin (Dortmund): Ringen um das Wissen des Wahns: Walter Morgenthaler und Adolf Wölfli

Burkhardt Wolf (Berlin): Der Irre und das Weib. Georg Heyms paranoischer ‚Dieb’

Timm Ebner (Berlin): Doppelgänger nationalsozialistischer Romanhelden auf kolonialem Schauplatz: der ›Verräter‹

Friedrich Balke (Bochum): Das „Zutagetreten einer enormen Bedeutung, die nach nichts aussieht”. Politik und Paranoia in der Moderne

Christian Geulen (Koblenz): Über Wahn, Wahrheit und populäres Wissen: Der Determinator

Wolfram Bergande (Weimar): Unglaube und Vergeltung: Denis Lortie

Luisa Banki (Konstanz): Erzählung und Buchstäblichkeit. Die Paranoia der Literatur

Anna Häusler (Berlin): Gegenwahn: Rainald Goetz

Elena Meilicke (Weimar): Polaroid Paranoid: Horst Ademeit

Lars Koch (Siegen): Netz der Verweise: Ted Kaczynski

Jörn Ahrens (Siegen): „He’ll never catch us”: Batman

Anmerkung:
1 Jacques Lacan, Die Psychosen. Das Seminar Buch III. Weinheim 1997, S. 67.