Französische Historiographie um 1500 – Im Spannungsfeld zwischen Markt und Hof

Französische Historiographie um 1500 – Im Spannungsfeld zwischen Markt und Hof

Organisatoren
Maike Priesterjahn, Mittelalterliche Geschichte II, Humboldt-Universität zu Berlin; Thomas Schwitter, Abteilung für Mittelalterliche Geschichte, Universität Bern
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
16.05.2012 -
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Von
Maike Priesterjahn, Mittelalterliche Geschichte II, Humboldt-Universität zu Berlin; Thomas Schwitter, Abteilung für Mittelalterliche Geschichte, Universität Bern

Der Durchführung des Workshops lag eine internationale Kooperation zwischen Berner und Berliner Historikern zugrunde: Thomas Schwitter aus dem Projekt „Erinnerung im Umbruch: Untersuchungen zu Entstehung, Verwendung und Wirkung höfischer Chroniken im Frankreich des 15. und frühen 16. Jahrhunderts am Beispiel der Grandes Chroniques de France“ am Historischen Institut Bern und Maike Priesterjahn aus dem Projekt A4 „Historiographie des Humanismus: Soziale Praxis, Narrativität, historische Semantik“ des Sonderforschungsbereiches 644 „Transformationen der Antike“ an der Humboldt-Universität zu Berlin. Beiden Projekten ist ein starker Fokus auf die in diesem Zeitraum entstandenen französischen Historiographien gemein. Ziel des Workshops war es, für die Zeit um 1500 die Forschungen zum ‚Alten’ (Grandes Chroniques de France) mit den Forschungen zum ‚Neuen’ (De Rebus gestis Francorum), den mediävistischen Diskurs zur Historiographie mit demjenigen der Humanismusforschung zu verbinden. Damit wurde eine umfassendere Sicht auf die Ablösungs- und Transformationsprozesse innerhalb der französischen Historiographie an der Schwelle zur Frühen Neuzeit möglich, als dies die Projekte einzeln zu leisten vermögen. Dieser Zugang bedingte wiederum, dass zwei weitere Werke, die unter ähnlichen Konstruktionsbedingungen eine prominente Stellung im historiographischen Druckmarkt einnahmen, in den Untersuchungshorizont mit einbezogen wurden: die Chroniques et annales de France (1483) von Nicole Gilles und das Compendium (1495) von Robert Gaguin. Bei allen vier Werken stellte sich die Frage, wie herrschaftsnah sie sind, wo von einer offiziellen Historiographie gesprochen werden kann und in welchem Verhältnis die Werke zueinander stehen.

In einem ersten Schritt wurde diskutiert, inwiefern die einzelnen Werke als historiographischer Auftrag anzusehen sind. Die Grandes chroniques de France (GCF) waren seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert die offizielle Geschichte der französischen Könige und wurden in mehreren Etappen fortgesetzt. Die bis zum Ende des 15. Jahrhunderts fortgesetzten Editionen konnten sowohl auf einen Auftrag Karls VIII. als auch auf Initiative der jeweiligen Drucker zurückgeführt werden, die vermutlich ebenfalls nicht unabhängig von einem offiziellen Kontext tätig waren. Die beiden Humanisten Robert Gaguin und Paolo Emilio hatten sich im ausgehenden 15. Jahrhundert um einen königlichen Auftrag, eine neue Erzählung der französischen Geschichte zu verfassen, beworben, wobei Emilio den Auftrag bekam und Gaguin sein Werk außerhalb eines ‚offiziellen’ Kontextes verfasste. In diesem Zusammenhang wies JOHANNES HELMRATH (Berlin) darauf hin, dass in der Regel nicht nur ein Autor mit dem Werk beauftragt wurde. Am Beispiel Kaiser Maximilians verdeutlichte er, dass erst die Räte der Herrscher darüber entschieden hätten, welches der vorliegenden Werke gedruckt werden sollte. Auch am französischen Hof wurden verschiedene Historiographen für unterschiedliche Arbeiten beansprucht. Beispiele sind Jean Chartier und Noël de Fribois unter Karl VII., Guillaume Danicot und Jean Castel unter Ludwig XI. oder eben Paulus Aemilius und Jean de Coutilz unter Karl VIII. Dies leitete zu der Frage über, ob es tatsächlich nur einen Privilegierten für das Verfassen einer ‚neuen‘ Nationalgeschichte gegeben hat, inwiefern die offizielle Historiographie ausdifferenziert werden kann und welche graduellen Abstufungen es zur inoffiziellen und kommerziell ausgerichteten Historiographie gab.

Einen ersten Ansatzpunkt für die Klärung der Frage lieferte ALBERT SCHIRRMEISTER (Berlin), der darauf hinwies, dass nach Alain Bouchart ein Werk nur als „Chronik“ tituliert werden durfte, wenn es einen offiziellen Auftrag gegeben hat. Nach diesem Kriterium galten die Werke von Gaguin und Emilio zum Zeitpunkt ihrer Publikation nicht als offizielle Werke. Auch ihre Prologe liefern keine Hinweise auf einen offiziellen Entstehungskontext, obwohl es der historiographischen Regel entsprochen hätte, einen offiziellen Auftrag eindeutig als solchen zu kennzeichnen. Insbesondere für die Chroniques et annales de France (CAF) Nicole Gilles steht die These der Titulierung jedoch vor einem Problem: Der erste Band wurde ab 1525 (nachdem Gilles bereits seit 20 Jahren Tod war) als Les tres elegantes et copieuses Annales gedruckt, der zweite Band trug den Titel Chroniques et annales de France. Die herrschaftsnahe Position von Nicole Gilles als Notar, Sekretär und contrôleur du trésor des Königs, ließ sein Werk im Verlauf des 16. Jahrhunderts als offizielle Chronik erscheinen. Folgerichtig setzte sich ab der Mitte des Jahrhunderts auch die Bezeichnung als ‚Chronik‘ durch, was wiederum den offiziellen Eindruck verstärkte.

Die Auseinandersetzung mit Bouchart hat die Aufmerksamkeit verstärkt auf die Druckgeschichte der einzelnen Werke und die sie begleitenden Paratexte gelenkt. Aus dem Workshop konnten folgende Zwischenergebnisse erzielt werden:

1. Hinsichtlich der Frage nach offiziösen Kontexten der Werke scheint die Aussage von Bouchart für das Frankreich des ausgehenden 15. und frühen 16. Jahrhunderts nicht als hartes Kriterium zu funktionieren, rückte aber neue Aspekte ins Blickfeld. So musste es zum Beispiel gute Gründe gegeben haben, weshalb das Werk von Paolo Emilio weder im Titel noch im Prolog als offizielles Werk gekennzeichnet wurde, zumal eine Markt- und Prestigelogik dafür gesprochen hätten.

2. Bezüglich des Druckmarktes haben sich zudem einige interessante Aspekte offenbart: Die erste französische Übersetzung von Gaguins Werk trägt den Titel Grandes chroniques de France, wodurch die Herausgeber Gaguins Werk in die ältere Tradition der GCF stellten. Darüber hinaus ist die letzte Edition der GCF, welche von Jean de Coutilz zusammengestellt und erweitert worden ist, im selben Jahr erschienen, wie die Erstausgabe der De Rebus gestis Francorum (RGF) von Paolo Emilio (1517), was die Vermutung zuließ, dass die Edition von Jean de Courtilz als Konkurrenzprojekt zur RGF von Emilio gesehen werden kann.

3. Die CAF von Nicole Gilles haben sich als ‚Scharnierwerk‘ zwischen den GCF, dem Compendium von Gaguin und den RGF von Aemilio erwiesen, ohne das die französische Historiographie im Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit nicht adäquat erfasst werden kann. Anhand der Frage nach dem Ursprung der Franken lässt sich dies exemplarisch aufzeigen. Bei den beiden Humanisten Emilio und Gaguin ist eine kritische Distanz zum Trojanerursprung der Franken offensichtlich, die mit ihrer grundsätzlichen Skepsis bezüglich der historischen Wahrheit der Trojaerzählung zu erklären ist. Nicole Gilles Werk hält hingegen an der tradierten französischen origo‚ fest. Dabei zeigen sich Parallelen zu anderen französischen Historiographen und ihrem Antikenbild, wie bspw. Alain Boucharts Grandes croniques de Bretaigne.

4. Hinsichtlich des erklärungswürdigen Umstandes, dass erst 1425 – und damit rund 20 Jahre nach Gilles Tod – die Erstausgabe der CAF ediert worden ist, konnten die Teilnehmer des Workshops die These aufstellen, dass diese Ausgabe vor dem Hintergrund der Gefangenschaft des französischen Königs Franz I. (1494–1547) gesehen werden muss. Durch die Gefangenschaft Franz I. nach der Schlacht von Pavia bestand 1425 in Frankreich ein Machtvakuum und damit die Gefahr einer Paralysierung der Zentralgewalt. Dies evozierte wiederum die Erinnerung an den französischen Bürgerkrieg (1407–1435), dessen Hauptursachen Rivalitäten innerhalb des französischen Hochadels vor dem Hintergrund einer krankheitsbedingten Absenz Karls VI. waren und schürte die Furcht vor einer ähnlichen Entwicklung. Eben jene Schilderung dieser dramatischen Ereignisse nimmt nun breiten Raum in Nicole Gilles Werk ein und ist darüber hinaus sogar ausführlicher als die sonst bereits umfangreichen GCF. Gilles Narrativ funktionierte 1425 auf dreifache Weise: Erstens fungierte es als Schreckensszenario für die Zukunft, zweitens lieferte es Vorbilder für eine unerschütterliche Loyalität gegenüber dem französischen Königtum und zeigte drittens auf, dass sich diese Loyalität besonders lohnt, insofern Loyalität zu Erfolg sowie fama und memoria für den französischen Adel führe.

Durch den Workshop wurden die Veranstalter darin bestärkt, die einzelnen Werke nicht nur individuell, sondern stets im Kontext zu betrachten. Daher wird die Kooperation in dieser Form, in der Diskussion von ausgewählten Quellentexten, fortgesetzt. An der Teilnahme an einem unserer nächsten gemeinsamen Workshops Interessierte, sind zur Teilnahme herzlich eingeladen.

Konferenzübersicht:

Teilnehmer

Johannes Helmrath (Berlin)

Albert Schirrmeister (Berlin)

Stefan Schlelein (Berlin)

Ronny Kaiser (Berlin)

Maike Priesterjahn (Berlin)

Thomas Schwitter (Bern)


Redaktion
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Deutsch
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