Wissenschaftsgeschichtliche Forschungsprojekte mit Osteuropabezug

Wissenschaftsgeschichtliche Forschungsprojekte mit Osteuropabezug

Organisatoren
Martin Schulze Wessel / Jan Arend / Mirjam Voerkelius, München; Johannes Dafinger, Klagenfurt
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.07.2012 -
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Von
Matthias Golbeck, Abteilung für Geschichte Ost- und Südosteuropas, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Im Rahmen der hier besprochenen Konferenz stellten Anfang Juli 2012 in München sieben Nachwuchswissenschaftler/Innen aus dem gesamten Bundesgebiet ihre aktuellen Forschungsprojekte im Bereich der Wissenschaftsgeschichte des östlichen Europas vor. Gemeinsam diskutierten sie diese mit vier Experten beider Teildisziplinen. Martin Schulze Wessel (München) vertrat die Osteuropäische Geschichte. Kärin Nickelsen (München), Margit Szöllösi-Janze (München) und Helmuth Trischler (München) vertraten die Wissenschaftsgeschichte und kommentierten die Beiträge. Weiterhin nahm ein interessiertes Fachpublikum, auch aus benachbarten Hochschulstandorten, teil. Hervorzuheben ist, dass die Beteiligung von Vertretern beider Teildisziplinen eine fruchtbare Diskussion der Projekte beförderte, die nur mit der Expertise in beiden Feldern sinnvoll bearbeitet werden können.

KATJA BRUISCH (Moskau) untersuchte in ihrem Beitrag Institutionen, Paradigmen und Etablierung der Bauernwirtschaftstheorie vom ausgehenden Zarenreich bis in die 1930er-Jahre. Sie ging der Entwicklung dieser Theorie bis zur Etablierung als Wissenschaftszweig nach. Am Beispiel der Biographie des Fachvertreters Nikolaj Makarov (1887-1980) fragte sie nach den Gründen für den vorgefundenen Wandel der Theorie und zeigte deren Ursprünge in den Zemstvo-Statistiken für die Landwirtschaftssteuerung Ende des 19. Jahrhunderts sowie in der Vision der „ländlichen Moderne“ und dem sich entwickelnden Agrarismus. Anhand des Lebenslaufes wurde die Umetikettierung der Theorie unter den Vorzeichen des Sozialismus-Leninismus bis hin zu ihrer akademischen Institutionalisierung, mit dem sozialen Aufstieg ihrer Trägerschicht, deutlich. Katja Bruisch demonstrierte darüber hinaus deutlich den Wandel der sozialen Gruppe, ihren Versuch, sich in den frühen Sowjetjahren zu integrieren sowie ihre bereitwillige Instrumentalisierung durch die Bolschewiki und schloss mit dem Bruch durch die stalinistische Verfolgung. Von den vielfältigen Fragen, schien besonders interessant, auf welche Weise im Zarenreich etablierte Experten, wie der hier vorgestellte, innerhalb der aufgezeigten Entwicklung den sozialen Aufstieg in der Sowjetunion schafften.

JAN AREND (München) thematisierte am Beispiel der Disziplingenese der Bodenkunde, wie sich die Entstehung von Disziplinen als Prozess der Konstruktion und Besetzung von Wissensräumen verstehen lässt. Er zeigte, wie im Zarenreich ein wachsendes Interesse an der geographischen Verteilung fruchtbarer Böden und die Etablierung dieser wissenschaftlichen Disziplin mit einander einhergingen. Der Referent band die Bodenkunde in den sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelnden internationalen Kontext ein und zeigte beispielsweise das Ringen der Bodenkundler um das Prädikat des Disziplingründers. So wurde sichtbar, wie die Bodenkunde eine nationale Erzählung begann und es zeigte sich, wie ein Prozess der wissenschaftlichen Erschließung nationalen Raumes einsetzte. Weiterhin wurde die typische Entwicklung einer nationalen zur transnationalen Disziplin deutlich. Mit ausgewählten Beispielen gelang es Jan Arend die Disziplinengenese als Prozess der Raumkonstruktion darzustellen, in deren Mittelpunkt der untersuchte physische Raum stand. Museen und Kongresse erwiesen sich hierbei als Orte der Repräsentation und des Austausches.

KATHARINA KREUDER-SONNEN (Giessen) sprach über den internationalen Wissenstransfer in der Bakteriologie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und im frühen 20. Jahrhundert, von und nach Polen. Auch sie wählte einen biographischen Zugang, mit dem sie den Wissensaustausch zwischen der polnischen und der deutschen Wissenschaftsgemeinschaft untersuchte. Ihr Protagonist, der polnische Bakteriologe Odo Bujwid (1857-1942), kam über ein Stipendium zu Robert Koch nach Berlin und war so in der Lage, dessen praktisches und technisches Wissen bei der Erforschung von Bakterien zu erlernen. In seinen schriftlichen Beiträgen für die polnische Medizin betrachtete die Referentin besonders seine literarischen Vermittlungsversuche des neu erlernten Wissens, mit dem er und seine Kollegen wissenschaftliches Neuland verständlich machen wollten. Interessant erschienen hierbei die minuziösen Beschreibungen und der Gebrauch von Alltagsmetaphern für komplexe Zusammenhänge. Bujwid trat auch mit der französischen Wissenschaftsgemeinde in Austausch. Bei Louis Pasteur in Paris erlernte er die Methode der Tollwutimpfung und bemühte sich in der Folge um deren Anwendung in Warschau. Anhand der gewählten Biographie konnte gezeigt werden, dass neben schriftlichen und bildhaften Aufzeichnungen, auch technische Aufbauten und wissenschaftliche Praktiken als Transfermedien für das neue Wissen dienten, selbst wenn der Transfer nicht unter idealen Bedingungen stattfand.

MIRJAM VOERKELIUS (München) folgte mit ihrem Vortrag über die Entstehung der Skulpturanthropologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, um ihren bekanntesten Vertreter Michail Gerasimov (1907-1970). Er erreichte in den 1950er-Jahren die Gründung eines Instituts, das sich mit der Rekonstruktion der menschlichen Physiognomie befasste. Die Referentin fragte nach den Gründen dieser Entwicklung und unterstrich zwei Aspekte: Erstens stellte sich die neue Disziplin konsequent in den Dienst der Sowjetunion, indem sie ihr anschauliche Heldenbilder schuf. Der Staat nutzte ihre „wissenschaftliche Expertise“ für die Rechtfertigung bestimmter Geschichtsauffassungen. Zweitens diente sie dem System zur gezielten Popularisierung von Wissen. Die Referentin verdeutlichte am Beispiel des Skeletts eines Neandertalers und der Wiederherstellung seines Äußeren durch das Institut, dass dessen Arbeit über die bloße Rekonstruktion hinausging und auch die umfassende Inszenierung des Objekts mit einschloss. Beispielsweise war es hinsichtlich des Neandertalers das Ziel des Regimes, die Abstammungslehre zu widerlegen und ihn im Sinne Marxscher Theorie für die staatliche Propaganda nutzbar zu machen. Wenn diese Form der Anthropologie gezielt zur Vermittlung bestimmter Aussagen eingesetzt worden ist, so resümierte die Referentin, mussten die disziplinären Vermittlungsstrategien das Vorwissen des Betrachters sowie zeitgenössische Sehgewohnheiten und Anspielungen beachten.

Daraufhin trug JOHANNES DAFINGER (Klagenfurt) über den Einfluss des nationalsozialistischen Kulturverständnisses auf den akademischen Austausch zwischen dem Deutschen Reich und Staaten in Osteuropa vor. Zu dessen Verständnis führte er aus, dass die Nationalsozialisten Kultur als „Eigenheiten der jeweiligen Völker“ begriffen. Dieser auf den ethnisch homogenen Nationalstaat begrenzte Kulturbegriff, lehnte eine „gesamteuropäische Kultur“ ab. Dennoch existierte für das NS-Regime eine „Nationalsozialistische Völkerfamilie“, als Schicksalsgemeinschaft verstanden, mit dem Deutschen Reich als Führung. Ziel war nicht die Verbreitung der deutschen Kultur, so der Referent, sondern die Herausstellung des Führungsanspruches. Anhand ausgewählter Publikationen belegte Johannes Dafinger beispielhaft die umfassende propagandistische Inszenierung dieses Konzeptes. Der Referent betrachtete die Konsequenzen dieses Kulturverständnisses für den akademischen Betrieb im Deutschen Reich. An einem biographischen Fallbeispiel aus München zeigte er den Einfluss dieses Kulturbegriffes. Ziel engagierter deutscher Hochschullehrer war es, ein Verständnis für sowie die angestrebte Achtung vor der deutschen Kultur während des Auslandsaufenthaltes der ausländischen Akademiker zu vermitteln. Dabei übernahm beispielsweise der Mitteleuropäische Wirtschaftstag die Finanzierung der Stipendien. Insgesamt wurde deutlich, wie Kulturideologie und Wissenschaft strategisch verbunden, gezielt der Außendarstellung des deutschen Reiches dienten.

BJÖRN FELDER (Göttingen) referierte in vergleichender Perspektive über die Rassenanthropologie in Estland, die Eugenik in Lettland sowie vergleichbare Bestrebungen in der Sowjetunion, in den 1920er- und 1930er-Jahren. Auch er wählte einen biographischen Zugang. In den ersten Jahren des estnischen Nationalstaates begriff sich die Rassenanthropologie als „nationale Wissenschaft“ und stellte sich in den Dienst des Staates. Am Beispiel Juhan Auls (1897-1994) sowie der sogenannten „Mongolenfrage“, wurde beispielhaft auf die disziplinären Inhalte eingegangen. Aul untersuchte, ob Esten und Finnen den asiatischen oder den nordischen Völkern zuzuordnen seien. Der Referent zeichnete die Veränderungen des paläanthropologischen Ansatzes Auls sowie dessen Bestreben nach, das estnische Volk als „hochwertiges“ nordisches Mischvolk einzuordnen. Für Lettland zeigten sich ähnliche Zielsetzungen, allerdings mit eugenischem Anspruch. Demnach ginge es, neben der rassenanthropologischen Einordnung, auch um die Umformung der Rasse. Für die Entwicklungen in der Sowjetunion wurde das Beispiel Viktor Bunaks (1891-1979) angebracht, der unter Verwendung derselben Methodik, das staatlich formulierte Ziel verfolgte, die Slawen als nicht-asiatisch sondern nordisch einzustufen. Die drei Beispiele zeigten deutlich, wie versucht wurde, sich eines europäischen Narratives zu bedienen. Bedenkenswert erschien in diesem Zusammenhang der dargestellte Kontrast zwischen dem gegen die bürgerliche Genetik gerichteten Lyssenkoismus und der aufgezeigten wissenschaftlichen Praxis.

BIRTE KOHTZ (Giessen) befasste sich in ihrem Beitrag mit dem Zusammenhang von Psychiatrie und Ethnizität im russischen Zarenreich ab ca. 1850, anhand zweier Beispiele. Erstens referierte sie über die Arbeiten eines russischen Nervenarztes zur Psyche von Russen und Polen. Zweitens betrachtete sie die Selbstdarstellung eines Kazaner Krankenhauses. In den Schriften des Psychiaters, der bis ins frühe 20. Jahrhundert im Russischen Reich tätig gewesen ist, hob sie dessen Verknüpfung ethnischer Kriterien und beobachteter Phänomene hervor. Beispielsweise sei er der Auffassung gewesen, dass angeblich zügelloser Sex im Kaukasus ein Erbe der Osmanen sei. Implizit sei bei vielen dieser Annahmen auch das Christentum über den Islam gestellt worden. In Warschau unternahm er jüdische Studien, welche ein spezifisches „Psychogramm der Juden“ zum Ziel hatten. In diesem Zusammenhang führte er beispielsweise den Beweis, wie er glaubte, der allgemeinen Untauglichkeit der Juden für den Kriegsdienst. Für das Kazan’er Krankenhaus für psychisch Kranke betrachtete die Referentin dessen Selbstdarstellung anhand von Werbemitteln. Hier interessierte sie, neben der Darstellungsweise der Heilanstalt, das Menschenbild, welches entworfen wurde. Für alle Fallbeispiele konnte die Referentin den eingangs konstatierten Zusammenhang von ethnisch religiösen Kriterien bei der Betrachtung von psychischen Krankheitsbildern verdeutlichen.

Abschließend formulierte MARTIN SCHULZE WESSEL (München) als übergeordnete Frage dieses Konferenztages: „Was kann die Osteuropaforschung zur Wissenschaftsgeschichte beitragen?“. Ein Aspekt, so führte er aus, stelle die bereits seit vielen Jahren aktive Erforschung der sowjetischen Wissenschaftskultur dar, auf deren Erkenntnissen die hier vorgestellten Arbeiten vielfach aufbauten. Auf einer abstrakteren Ebene könne es sich, seiner Auffassung nach, heute um die Betrachtung regionaler Phänomene im Kontext übergeordneter Entwicklungen handeln. Hierbei sollte Osteuropa immer als selbstständiger und in sich diverser Raum, mit eigenen Zentren und peripheren Gebieten, betrachtet werden. Anhand der vorgestellten Arbeiten wurde für ihn deutlich, dass zum einen von Interesse sei, was passiert, wenn verschiedene nationale Ableger einer wissenschaftlichen Disziplin international auf einander träfen, die in sich hierarchisiert aber nicht miteinander vernetzt seien. Zum anderen scheine von Bedeutung, zu fragen, wie bereits kanonisiertes Wissen in die jeweiligen Peripherien gelangte. Endgültige Antworten seien hier noch nicht zu erwarten. Vielmehr bestand der Beitrag dieser Konferenz darin, über aktuelle Forschungsprojekte zu informieren sowie den Austausch der jungen Forschenden untereinander, über die vorgestellten Themen und Fragen zu initiieren beziehungsweise auszubauen.

Konferenzübersicht:

Panel 1

Katja Bruisch (Moskau): Auf der Suche nach der ländlichen Moderne. Agrarismus und wissenschaftliche Expertenkultur im ausgehenden Zarenreich und der frühen Sowjetunion.

Jan Arend (München): Die Wissensräume der Bodenkunde. Naturkundliches Wissen und kollektive Identitäten in Russland, 1870-1930.

Katharina Kreuder-Sonnen (Giessen): Wie man bakteriologisches Wissen auf Reisen schickt. Über literarische und materielle Inskriptionsformen in der Bakteriologie um 1900.

Kommentar: Kärin Nickelsen (München)

Panel 2

Mirjam Voerkelius (München): Skulpturanthropologie und Popularisierung von Wissenschaft in der Sowjetunion.

Johannes Dafinger (Klagenfurt): Wissenschaftliche Beziehungen des „Dritten Reiches“ mit ost- und südosteuropäischen Staaten in Theorie und Praxis.

Kommentar: Margit Szöllösi-Janze (München)

Panel 3

Björn Felder (Göttingen): Sind Esten „Mongolen“? Rassenbiologie als „nationale Wissenschaft“: Biopolitik, Nation und transnationale Wissenschaft in Estland, Lettland und der Sowjetunion 1918-1960.

Birte Kohtz (Giessen): Im Reich der kranken Männer? Psychiatrie, Ethnizität und Geschlecht in Russland.

Kommentar: Helmuth Trischler (München)


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