HT 2012: Schuld – Sühne – Recht. Gerechtigkeitsvorstellungen, Rachephantasien und juristische Interventionen um 1945/46

HT 2012: Schuld – Sühne – Recht. Gerechtigkeitsvorstellungen, Rachephantasien und juristische Interventionen um 1945/46

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Mainz
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.09.2012 - 28.09.2012
Url der Konferenzwebsite
Von
Christoph Dieckmann, Fritz Bauer Institut, Frankfurt am Main/Keele University, UK

Stefanie Schüler-Springorum und Ulrike Weckel (beide Berlin) hatten eingeladen, über das Verhältnis von Rache und Recht 1945/1946 nachzudenken, die Schuldfrage zu historisieren und selbstkritisch unser Moralisieren der NS-Nachgeschichte in den Blick zu nehmen. Die extremen Massenverbrechen der Deutschen lagen bei Kriegsende offen zu Tage. Wie konnte man darauf reagieren und wie wurde reagiert? Es ging in dieser Sektion um verschiedene zeitgenössische Perspektiven, vor allem aus jüdischer und deutscher Sicht, um Rachephantasien und -realitäten sowie die juristischen Überlegungen und Interventionen der Alliierten. Elisabeth Gallas (Leipzig/Wien) und Laura Jockusch (Haifa/Jerusalem) untersuchten jüdische Institutionen, die Organisation „Jewish Cultural Reconstruction“ und den Jüdischen Weltkongress. Mark Roseman (Bloomington) trug zu Täterbildern und Holocaustnarrativen der jüdischen Opfer vor und Ulrike Weckel zu Opferbildern und den diversen Rachephantasien der Deutschen.

Noch bis Kriegsende war auf allen Seiten der Alliierten sehr kontrovers diskutiert worden, ob nicht Massenhinrichtungen von deutschen Kriegsverbrechern der beste Weg der Vergeltung seien. Dass schließlich ab Sommer 1945 der Weg der Gerichtsverfahren eingeschlagen wurde, hin zum Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess vor einem Internationalen Militärtribunal, den Nürnberger Nachfolgeprozessen und den vielen hundert Verfahren in den jeweiligen Besatzungszonen, war keineswegs so selbstverständlich, wie es uns heute erscheinen mag. Weder war die Rechtsgrundlage geklärt, noch konnten die Empfindungen der Öffentlichkeiten eingeschätzt werden. Was für eine Strafe könnte überhaupt dem Ausmaß der Verbrechen gerecht werden? Hatten die deutschen Massenmörder es „verdient“, vor Gericht gestellt zu werden, wo sie sich öffentlich verteidigen konnten? Widersprach das nicht den nur zu verständlichen Rachewünschen, gerade auf Seiten der Opfer und Geschädigten? ULRIKE WECKEL (Berlin) hob die Errungenschaft hervor, die Chefankläger Robert Jackson zu Beginn seiner Eröffnungsrede aussprach: „That four great nations, flushed with victory and stung with injury stay the hand of vengeance and voluntarily submit their captive enemies to the judgement of law is one of the most significant tributes that Power has ever paid to Reason.“

Die Alliierten erhoben schließlich Anklage unter anderem wegen „crimes against humanity“. Diese beinhalteten auch die Ermordung der europäischen Juden. Die Shoah wurde somit – entgegen manchen Thesen in der Historiographie – beachtet, wenngleich nicht in einer Weise, die ihrer Bedeutung annähernd gerecht werden konnte. Gleichwohl kam LAURA JOCKUSCH (Haifa/Jerusalem) in ihrer Untersuchung, wie der 1936 in Genf gegründete Jüdische Weltkongress (World Jewish Congress, WJC), der sich als Nichtregierungsorganisation des Diasporajudentums und des „geretteten Rests“ (She’erit Hapleta, die Eigenbezeichnung der jüdischen Überlebenden) verstand, zu einem überraschenden Ergebnis. Der WJC hatte versucht, so Jockusch, die Shoah im Nürnberger Prozess sehr viel mehr herauszustellen, zeigte sich aber durchaus zufrieden mit dem Erreichten und das, obwohl viele seiner Initiativen gescheitert waren, weil den Alliierten aus unterschiedlichsten (und nicht immer guten) Gründen andere Gesichtspunkte wichtiger erschienen. Seit 1942 hatte sich das 1941 vom WJC gegründete Institute of Jewish Affairs mit der Dokumentation der Shoah und den Rechtsfragen zur Strafverfolgung der Täter befasst. Es sei dem WJC aber weder gelungen, als nichtstaatliche Organisation einen Sitz in der im Oktober 1943 in London gegründeten United War Crimes Commission (UWCC) zu erhalten, noch die Strafverfolgung von deutschen Verbrechen gegen deutsche und österreichische Juden in das Mandat der UWCC einzubeziehen, da nur Kriegsverbrechen an Bürgern feindlicher Staaten verfolgt werden sollten. Ende 1944 forderte der WJC eine offizielle jüdische Vertretung bei der Strafverfolgung der Täter, weil das jüdische Volk ein besonderes Schicksal erlitten habe. Im Juni 1945 sprach der WJC mit Robert Jackson über einen separaten Prozess zur Ermordung der Juden, und schließlich stand die Möglichkeit im Raum, den Präsidenten der Zionistischen Weltorganisation, Chaim Weizman, als Zeugen auftreten zu lassen. Zwar schlugen all diese Initiativen fehl. Aber Jackson nutzte gerne das vom Institute of Jewish Affairs zusammengestellte Material, und der Leiter des Instituts, Jacob Robinson, formulierte alle diejenigen Passagen der Anklagerede Jacksons, die sich auf Juden bezogen. Das war vielleicht schon mehr als der WJC realistischerweise erwarten konnte, so Jockusch. Denn das jüdische Volk stellte zu diesem Zeitpunkt noch kein „Rechtssubjekt“ dar, die Staatsgründung Israels stand noch bevor, es gab keine offizielle jüdische Delegation. Daher seien jüdische Vertreter auf die Gunst anderer staatlicher Repräsentanten angewiesen gewesen.

Dieses Problem beschäftigte auch die Ende 1943 gegründete und vom Historiker Salo Baron geleitete Organisation „Commission on European Jewish Cultural Reconstruction“ (JCR), wie ELISABETH GALLAS (Leipzig/Wien) herausstellte. Der JCR sei es um die Auffindung und Rückgabe geraubter jüdischer Kulturgüter gegangen und um die Frage, ob jüdische Kultur in Europa wiederhergestellt werden könnte. Es war Hannah Arendt, die ab August 1944 die Forschungsabteilung des JCR leitete. Das Ausmaß der Zerstörung und des Raubes wurde durch Recherchen immer klarer. Damit sei die Absicht der Wiederherstellung jüdischen kulturellen Lebens in Europa in den Hintergrund gerückt, und die Rückerstattung sollte an die neu entstehenden Zentren jüdischen Lebens außerhalb Europas erfolgen. Wie aber konnte das nichtstaatliche, transterritoriale Kollektiv der Juden als Rechtssubjekt anerkannt werden, da Rückerstattungsvereinbarungen seit 1907 auf dem Territorialprinzip beruhten? Arendt hatte schon seit 1941 für die Aufstellung einer jüdischen Armee plädiert, um so das Recht zu erstreiten, eine gestaltende Rolle in der Nachkriegsordnung einzunehmen. Da dies nicht geschah, war ab 1945 ganz unklar, an wen geraubte jüdische Kulturgüter zurückgegeben werden sollten. Die JCR habe daher auf eine Treuhandorganisation gedrängt und sich 1947 mit 17 weiteren jüdischen Organisationen zusammengeschlossen; das „European“ verschwand aus dem Namen, Hannah Arendt übernahm die Geschäftsführung. 1949 wurde die JCR tatsächlich als Treuhänderin für erbenlose jüdische Kulturgüter anerkannt, allerdings nur in der amerikanischen Zone. In diesem Zusammenhang, so Gallas, reiste Arendt Ende 1949 nach Deutschland und schrieb ihre niederschmetternden Erfahrungen in ihrem Essay Besuch in Deutschland auf. Ihr zentrales Anliegen, die Anerkennung des universellen „Rechts, Rechte zu haben“, fand seinen Ausdruck in ihrer Arbeit für die JCR.

In den Vorträgen von MARK ROSEMAN (Bloomington) und ULRIKE WECKEL (Berlin) ging es weniger um Rechtsfragen als vielmehr darum, welche Rolle Rachewünsche und Rachephantasien bei Juden und Deutschen gespielt haben. Roseman illustrierte das in Frage stehende Problem mit einem Witz, den überlebende Juden in Israel erzählten: Hitler, trying to hide his post-war identity, enters a Café in Prague and sees a survivor reading the daily newspaper. „Could I borrow your paper?“ whispers Hitler politely. The Jew, recognizing Hitler, answers in fury: „No, Herr Führer, you will never get a newspaper from me after what you have done to my people during the war.“ Der Mangel an Rache wurde ironisiert. Und tatsächlich sind nicht viele Quellen überliefert, in denen Rache an den nationalsozialistischen Deutschen eine Rolle spielt, weder zeitgenössisch, noch nach Kriegsende. Aber stimmt es wirklich, so fragte Roseman, dass die ungeheuren Ohnmachts- und Verlusterfahrungen der jüdischen Opfer nicht zu mehr Wut, Zorn und Rachewünschen geführt haben? Ist die weitgehende Abwesenheit von Rache, oder besser die Nichtthematisierung von Rachebedürfnissen, nicht vielleicht eher ein Resultat von Selbstzensur auf allen Seiten und hat mehr mit Wünschen nach dem Bild vom schwachen, aber „edlen“ Opfer zu tun? Einige israelische Historiker weisen auf die Fülle von letzten Worten der Opfer hin, in denen der Schrei nach Rache und Vergeltung deutlich sei, oft geradezu als bleibende Verpflichtung für die Überlebenden formuliert. Erst seit einigen Jahren ist bekannt, dass es auch organisierte Versuche gab, Rache an Deutschen und Nazis zu üben; erinnert sei an die Versuche jüdischer Partisanen aus Litauen und Polen, sechs Millionen Deutsche zu vergiften, die bis zu 150 Hinrichtungen von österreichischen SS-Männern durch Mitglieder der Jüdischen Brigade und die jahrzehntelang weltweit agierenden jüdischen Untergrundkommandos, die führende Nazis jagten. Die Nichtthematisierung von Rachebedürfnissen und -aktionen wirft die Frage nach der Gestaltung von Erinnerungen und Holocaustnarrativen auf. Die Unterschiede in der jiddischen und der englischen, bzw. französischen Version der Erinnerungen von Eli Wiesel verdeutlichen das Problem: Hieß es auf Jiddisch: „Am Morgen des nächsten Tages machten sich die jüdischen Jungs auf nach Weimar, um Kleidung und Kartoffeln zu stehlen. Und deutsche Schicksen zu vergewaltigen“, lautete die englische Fassung: „On the following morning, some of the young men went to Weimar to get some potatoes and clothes – and to sleep with girls. But of revenge, not a sign“. Roseman verwies in diesem Zusammenhang auch auf die seit Beginn des 20. Jahrhunderts entstehende jüdische Tradition, antijüdische Greueltaten in „objektiver“ Weise festzuhalten, um spätere Gerichtsverfahren zu ermöglichen. Das heißt, der brennende Wunsch nach Rache konkretisierte sich womöglich in den Aufzeichnungen selbst, ohne ausdrücklich Rachewünsche zu artikulieren.

Es gab also durchaus Anlass für die Ängste von Deutschen vor Rache von Juden, gerade vor dem Hintergrund, dass Rache gewissermaßen als normal und gerechtfertigt angesehen wurde („Wir haben das getan, und das ist jetzt die Quittung dafür“). Aber diese Ängste waren verbunden mit der antisemitischen projektiven Phantasie einer „jüdischen Weltmacht“, die die Bomben der Alliierten dirigieren könne. An diese Frage nach den deutschen Vorstellungen zu „jüdischer“ Rache schloss ULRIKE WECKEL (Berlin) an, indem sie Quellen zu Angeklagten und Verteidigern im Hauptkriegsverbrecherprozess sowie Kommentare zum Prozess aus der deutschen Bevölkerung untersuchte. Glaubten Deutsche, in Nürnberg würden Juden Sühne fordern oder Rache nehmen? Sie stellte den pauschalisierenden Antisemitismusverdacht in Frage und kam zu differenzierten Ergebnissen. Zwar schürte die NS-Propaganda ab 1943 eine Weile gezielt Ängste vor der Rache von Juden, interessanterweise weniger als Drahtzieher des Bolschewismus denn als Hintermänner der westlichen Regierungen. Aber im Propagandaministerium hielt man das schließlich für kontraproduktiv und setzte auf Ermahnungen zu heldenmütigem „Abwehrkampf“. Inwiefern war den Deutschen klar, dass Nürnberg gerade einen Verzicht auf Rache darstellte? Von den Angeklagten ereiferte sich nur Julius Streicher, dass der Prozess „ein Triumph des Weltjudentums“ sei. Weder bei Robert Ley noch bei Hermann Göring, Baldur von Schirach, Joachim von Ribbentrop oder Hans Fritzsche lassen sich ähnlich eindeutige Äußerungen finden, ebenso wenig bei ihren Verteidigern. Die amerikanische Militärregierung versuchte zu ermitteln, wie die deutsche Bevölkerung über den Prozess dachte, sofern sie ihn nicht – wie so viele – schlicht zu ignorieren suchte. Erstaunlicherweise sank die Quote derjenigen, die angaben, den Prozess für fair zu halten, nie unter 75 Prozent; die Urteile hielten 55 Prozent für gerecht, Kritik gab es vor allem an den drei Freisprüchen. In Tagebüchern und Briefen ist eine Vielzahl unterschiedlicher Stimmen zu finden. Am auffälligsten erscheint dabei, dass zum einen die Sorge vor kollektiven Schuldzuschreibungen kursierte, zum anderen, dass viele sich selbst zum Opfer der Nationalsozialisten stilisierten. Daher entwickelten sie ihrerseits Rachegelüste gegen prominente Nationalsozialisten. Relativ wenige Quellen belegen antisemitische Verschwörungsannahmen. Weckel kam zu dem Schluss, dass, obwohl der Mord an den Juden Europas in Nürnberg nicht zu einem eigenständigen Anklagepunkt geworden war, den meisten Deutschen 1945/1946 klar war, dass der Judenmord ein ungeheuerliches, nicht angemessen zu sühnendes Verbrechen darstellte.

Dass viele Deutsche daher Gerichtsprozesse, Rache und Vergeltung in gewisser Hinsicht als erwartbar und normal ansahen, stellte MICHAEL STOLLEIS (Frankfurt am Main) in seinem Kommentar einleitend heraus. Er wies vor allem auf die Schwierigkeit hin, Gerechtigkeitsvorstellungen und Rachephantasien für 1945/1946 zu rekonstruieren. Je mehr Quellen man studiere, desto vielfältiger und uneinheitlicher werde das „Stimmengewirr“.

Er griff vor allem den Gedanken auf, dass Rache meist nicht thematisiert wurde. Enorme psychische Energien seien darauf verwandt worden, Rache-, Schuld- und Schamgefühle gleichsam einzusargen, nicht nur auf Opfer-, sondern auch auf Täterseite. „Der Feind als Frage nach der eigenen Gestalt“ habe bei den Tätern zur Epoche des „kollektiven Beschweigens“ geführt, die erst in den 1960ern aufgebrochen worden sei. Das Problem, dass die jüdischen Opfer im damals geltenden Völkerrecht kein „Rechtssubjekt“ darstellten, erfuhr gerade durch die internationalen Reaktionen auf die Verbrechen der Nationalsozialisten eine grundlegende Veränderung, wie die UN-Menschenrechtscharta von Dezember 1948 zeige. STOLLEIS endete seinen Kommentar mit dem Plädoyer, Historiker möchten sich angesichts der Komplexität der zu untersuchenden Geschehnisse nicht mit vorschnellen und simplifizierenden Antworten zufrieden geben. Gerade bei der Erforschung von Massenverbrechen und ihren Nachwirkungen nehme die Fassungslosigkeit eher noch zu, je mehr Details man erfahre. Der Berichterstatter kann sich dem nur anschließen und konstatieren, dass die Sektion der Komplexität des spannenden Themas gerecht wurde durch vier nachdenklich stimmende Vorträge, die neues Quellenmaterial vorstellten, den abrundenden Kommentar und eine lebhafte, interessante Diskussion. So sollten Sektionen auf dem Historikertag sein!

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Stefanie Schüler-Springorum / Ulrike Weckel (Berlin)

Mark Roseman (Bloomington): Zwischen Rache und Schweigen. Zum Täterbild der Opfer

Elisabeth Gallas (Leipzig/Wien): Recht und kulturelles Erbe. Hannah Arendt und die Initiativen der Jewish Cultural Reconstruction nach dem Zweiten Weltkrieg

Laura Jockusch (Haifa/Jerusalem): Ein Anwalt der Opfer? Der Jüdische Weltkongress und das Problem jüdischer Interessenvertretung bei den Nürnberger Prozessen

Ulrike Weckel (Berlin): Phantasien über „jüdische Rache“ in Nachkriegsdeutschland: Latentes Unrechtsbewusstsein oder eine weitere Variante von Antisemitismus?

Michael Stolleis (Frankfurt am Main): Kommentar


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