Auf dem Weg zum Verfassungsstaat. Preußen und Österreich im Vergleich. 1790–1947

Auf dem Weg zum Verfassungsstaat. Preußen und Österreich im Vergleich. 1790–1947

Organisatoren
Arbeitsgemeinschaft zur Preußischen Geschichte, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
04.10.2012 - 06.10.2012
Url der Konferenzwebsite
Von
Jens Leuteritz, Historisches Institut, Universität Greifswald

Die diesjährige Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft zur Preußischen Geschichte vom vierten bis sechsten Oktober hatte – thematisch und zeitlich anknüpfend an das letzte Jahr – das Ziel, sich den beiden Staaten vergleichend zu widmen. Hierbei stand insbesondere das Zeitalter von Revolution und Parlamentarismus im Vordergrund und wurde durch die zahlreichen sehr unterschiedlichen Beiträge mannigfaltig beleuchtet. Um diesen Vergleich effektiver zu gestalten, wurde die Tagung in drei thematisch untergliederte Panels aufgeteilt: Kulturelle Aspekte, Wirtschaft und Finanzen sowie Politik im Vergleich. Im Folgenden sollen die wesentlichen Aspekte der Vorträge sowie der Diskussionen konzise vorgestellt werden.

ANDREA MEISSNER (Augsburg) warf in ihrem Beitrag „Kriegsmythologie und kulturelle Demilitarisierung in preußischen und österreichischen Lehrbüchern nach 1918“ die Frage auf, wie weit die Fähigkeit der hier betrachteten Gesellschaften reichte, Militarismus kritisch zu sehen. Während sich in Preußen zwei Geschichtstraditionen in den Büchern formten – antirepublikanische Glorifizierung der Weltkriegssoldaten und prorepublikanische Deeskalation der Niederlage – war es in Österreich schneller gelungen, die Lehrbücher zu reformieren und anhand einer „kulturellen“ Demilitarisierung militärische Helden durch alltägliche zu ersetzen sowie die Niederlage des Krieges in eine Art Erweckungsmoment umzudeuten. Der wohl wichtigste Unterschied zwischen der Lehrbuchsituation beider Staaten bestand im komplizierten Umgang mit den verschiedenen sinnstiftenden Erinnerungssymbolen. Insbesondere die preußische Identität bediente sich starker militärischer Narrative und baute den deutschen Reichsgründungsmythos auf kriegerische Traditionen. In Österreich wurde eine kulturelle Demilitarisierung zwar schneller umgesetzt, durch den schulpolitischen Dualismus zwischen Staat und Ländern jedoch erschwert. Die Diskussion zu diesem Beitrag machte besonders auf die Miniaturebene der militaristischen Auseinandersetzung (Schüler-Lehrer) aufmerksam und stellte das Fehlen einer Schulbuchkommission in Preußen als Defizit heraus.

Daraufhin stellte MICHAEL C. SCHNEIDER (Frankfurt am Main) „Die amtliche Statistik in Preußen und Österreich-Ungarn im 19. Jahrhundert“ vor und bettete sein Thema einführend in den globalen Prozess der Etablierung statistischer Erhebungen in der Jahrhundertmitte ein. Während Preußen mit dem Statistischen Bureau bereits länger eine Erfassungsinstanz besaß und Protagonisten wie Ernst Engel die Verwissenschaftlichung der Disziplin als Maßgabe für die sozial- und gesundheitspolitischen Herausforderungen propagierten, gelang es Österreich erst in der Jahrhundertmitte, aufzuholen. In diese Zeit fallen auch die Statistischen Kongresse in Wien (1857) und Berlin (1863), auf denen nicht nur die wissenschaftliche Bedeutung statistischer Erhebung betont, sondern auch die Formung eines Seminarwesens zur Ausbildung qualifizierten Personals gefordert wurde. 1864 gelang Österreich die Errichtung einer solchen Institution, bei der das preußische Bureau Pate stand. In der Diskussion wurde vor allem die zunehmende Wichtigkeit der städtischen Ämter betont und auf die Schwierigkeiten im Verhältnis dieser zu den Reichsämtern hingewiesen.

Im folgenden Beitrag präsentierte INGO LÖPPENBERG (Greifswald) „Preußens und Österreichs wissenschaftlich[en] Wettlauf im 19. Jahrhundert“ und wies auf die Funktion wissenschaftlicher Expeditionen als Prestigeobjekte nationaler Kultur hin. Interessanterweise bildete Brasilien den Anziehungspunkt preußischer und österreichischer Forschungsreisen. Während man im Habsburgerreich auf eine regelrechte Tradition wissenschaftlicher Expeditionen mit dem Anspruch ganzheitlicher Erfassung alles ‚Neuen’ zurückblicken konnte, waren es in Preußen eher kleine private Abenteuer, die die ethnografischen Sammlungen in Berlin zwar bereicherten, ihnen aber keineswegs zu einer gleichwertigen Bedeutung wie in Wien verhalf. Dieses Defizit konnten preußische Forscher in den 1860er Jahren zu ihren Gunsten umwandeln, in dem sie mehrere Reisen in das nördliche Polarmeer durchführten, deren wissenschaftlicher Stellenwert zwar umstritten, deren kultureller Prestigegewinn aber bedeutend war und für die stärkere wissenschaftliche Fundierung und finanzielle Ausstattung künftiger Forschungsreisen wichtig wurde. Daraufhin rüstete auch Österreich 1873 eine Polarfahrt aus, musste aber erkennen, dass das öffentliche Interesse in diesem turbulenten Jahrhundert sich bereits anderen Wissenschaftszweigen zuwandte. Als wohl wichtigstes Ergebnis der Diskussion kann die Feststellung gewertet werden, dass sich erstaunlich wenig Veränderungen in den Ausgangsimpulsen der Expeditionen zeigten und stattdessen eine Orientierung an den Zwecken der meist nicht-staatlichen Geldgeber stattfand.

Am ersten Tagungsabend hielt JÜRGEN ANGELOW (Potsdam) einen öffentlichen Abendvor-trag mit dem Titel „Benedek und Moltke. Parallele Biographien“ und machte schnell deutlich, dass die beiden Protagonisten durchaus ähnliche Lebensgeschichten hatten. Sowohl Moltke als auch Benedek arbeiteten sich von einfachen Anfängen bis in die Generalstäbe und betrieben nebenher private Weiterbildungen mittels Sprachkursen oder – im Falle des ersteren – ausgedehnter Reisen. Das vereinigende Moment beider Charaktere war die Schlacht bei Königgrätz 1866, die Moltkes Ruhm ein für allemal festigte, für Benedek jedoch den tiefen Fall bedeutete. Der schnelle Deutsche Krieg hatte nicht nur die technologischen Defizite Österreichs und im Gegenzug dazu die planerische Meisterleistung Moltkes gezeigt, sondern machte auch deutlich, dass Benedek, der sich selbst nicht für zureichend strategisch befähigt hielt, dem kaiserlichen Machtkalkül zum Opfer fiel. Dies führte auch dazu, dass der habsburgische Feldherr in der Historiographie in Verdammnis geriet, aus der ihn erst die jüngere Forschung befreien konnte. Moltke dagegen, obgleich ein bescheidener und stiller Charakter, wurde zu einer beinahe mythologisierten Gründerfigur des deutschen Nationalismus.

Im Panel „Wirtschaft und Finanzen“ am fünften Oktober referierte KURT DÜWELL (Düsseldorf) zum Thema „Preußische Seehandlung und Österreichischer Lloyd. Zwei Varianten von „Staatsnähe“ (1772–1947)“. Er stellte heraus, dass es sich bei der Seehandlung um ein durchweg staatliches Unternehmen handelte, das ein Produkt der merkantilistischen Staatswirtschaft war. Demgegenüber und deutlich später gegründet (1833) stand der Österreichische Lloyd als nicht-staatlicher Versicherungsring, der sich zur Großreederei weiterentwickelte und bei dem es sich ausschließlich um ein Logistikunternehmen ohne eigene Handelsgeschäfte handelte. Deutlich wird der Unterschied zwischen beiden „staatsnahen“ Firmen in der kompletten Abwicklung der Flotte der Seehandlung in den 1850er Jahren und demgegenüber dem massiven Ausbau der Kapazität österreichischer Seefracht im gleichen Zeitraum. Der Wandel zur reinen Landunternehmung war für die preußische Firma jedoch kein Nachteil, im Gegenteil: der Aufstieg des Staates zur Großmacht wäre ohne die finanzielle Deckung der Seehandlung nicht denkbar gewesen. Auf ähnliche Weise begründete das Habsburgerreich seine maritime Stärke im Wesentlichen auf dem Österreichischen Lloyd. Doch die erstaunlich fortschrittliche Wandlungsfähigkeit der beiden Firmen konnte ein dauerhaftes Überleben nicht sichern: beide fielen den Weltkriegen zum Opfer. Die Diskussionsrunde machte besonders darauf aufmerksam, dass sich der Charakter von Seehandlung und Lloyd auch deutlich in der baulichen Ausgestaltung der jeweiligen Firmensitze wiederspiegelte.

Anschließend entwarf MARION KOSCHIER (Klagenfurt) unter der Titelzeile „Es ist eine Arbeit der Danaiden...“ ein Bild „Zur prekären Lage der Staatsfinanzen in Österreich und Preußen in den Jahren nach dem Wiener Kongress“. Sie machte klar, dass die finanzielle Ausgangssituation beider Staaten nach den Napoleonischen Kriegen gleich schlecht war. Während es durch die preußischen Reformen unter Hardenberg zu einer Art wirtschaftspolitischer Erweckungsbewegung kam, dem Anfang der 1820er Jahre eine durchgreifende Steuernovelle folgte, welche Währung und Staatshaushalt wieder stabilisierte, kämpfte Österreich mit Währungsabwertung, instabilen Steuereinnahmen und einem schleppenden Landeskataster. In Preußen war es nicht nur gelungen, die indirekten Steuern und somit die direkten Staatseinnahmen deutlich zu erhöhen, sondern die Modernisierung war auch wesentliche Voraussetzung der Wandlung des Staates vom Absolutismus zum Konstitutionalismus. Die notorische Angst vor Veränderung, die Franz’ I. hemmte, sorgte hingegen bis weit in die Jahrhundertmitte hinein für eine fiskalische Lähmung des österreichischen Staatshaushaltes und das Scheitern zahlreicher Reformvorhaben. In der Diskussion wurde hervorgehoben, dass Preußen in einem finanziellen Vergleich mit Österreich deutlich besser dasteht, als in den sonst üblichen Analysen beispielsweise gegenüber England und Frankreich. Außerdem verwiesen die Diskutanten auf die Wichtigkeit des grundsätzlich anderen Herangehens an Reformen in Preußen, basierend auf einer deutlichen Wahrnehmung der Niederlage von 1806.

Das dritte Tagungspanel „Politik im Vergleich“ am sechsten Oktober eröffnete GIULIA LA MATTINA (Turin) mit ihrem Vortrag „Die Bewegung „Jung Österreich“ und Preußen: Aspekte eines widersprüchlichen Verhältnisses zwischen Vormärz und Revolution 1848“ und ging der Frage nach, wie sich das „Muster Preußen“ auf die Entwicklung des Liberalismus in Österreich auswirkte. Sie stellte heraus, dass der österreichische Liberalismus an einem Unterlegenheitsgefühl gegenüber dem restlichen deutschen Liberalismus litt und man nahezu neidisch auf die Prestigestellung Preußens in den Bereichen Wissenschaft und Kunst blickte. So übten die jungen Liberalen zunächst Kritik an der Korruption in der österreichischen Identität und betonten die kulturelle Rückständigkeit im Vergleich mit dem Deutschen Bund. Nachdem das Habsburgerreich offenbar wenig Interesse an den deutschen Nationsbildungsevents zeigte, versuchte man eine Erneuerung im Inneren zu forcieren und in Richtung Norddeutschland liberaler zu agieren. Im Osten hingegen wollte man eine umso striktere Außenpolitik anwenden. Mit der 1848er Revolution und der daraufhin sich anbahnenden Machtfrage im Deutsch-Deutschen Dualismus wandelte sich das Vorbild Preußens zu einem Feindbild. Hatten noch 48’ österreichische Liberale in Frankfurt die Einigungsbestrebungen unterstützt, kritisierten sie jetzt den mehr als offensichtlichen Führungsanspruch Preußens in Deutschland. Ihr Patriotismus vermischte sich schon bald mit dem deutscher Nationalisten, die Bismarcks „Bruderkrieg“ und die Umsetzung der kleindeutschen Lösung nicht als „Revolution von oben“ hinnehmen wollten. In der sehr angeregten Diskussion wurde unter anderem die Frage diskutiert, welchen Charakter – pro-habsburgisch oder pro-deutsch – der österreichische Liberalismus überhaupt hatte (Ergebnis: deutsche Identität und Liberalismus waren ausschlaggebend). Darüberhinaus wurde davor gewarnt, die nationalstaatlichen Probleme des späten 19. Jahrhunderts auf das frühe Jahrhundert zu projizieren.

An die Thematik des preußischen und österreichischen Liberalismus anknüpfend widmete sich FRANK MÖLLER (Greifswald) in seinem Referat „Eine zweite Chance des Konstitutionalismus von 1848? Die Regierungen Auerswald und Schmerling im Vergleich“ der Gegenüberstellung der Regierung der „Neuen Ära“ in Preußen unter Führung Rudolf von Auerswalds (1859–1861) und der Regierung Anton von Schmerlings in Österreich (1860–1865). Die Gemeinsamkeit der beiden Protagonisten als Vertreter eines bürokratischen Adelsliberalismus führte zu einer ähnlichen Politik: Durch liberale Reformen und die Errichtung eines konstitutionellen Systems sollte die Macht und Einheit ihres Staates als Voraussetzung für die jeweilige Großmachtstellung gesichert werden. In der Spannung zwischen den konservativen Kräften in Verwaltung, Militär und Adel und einer vorwärtstreibenden liberalen Parlamentsmehrheit verloren jedoch beide das Vertrauen ihres Monarchen und scheiterten.

In seinem, die Tagung beschließenden Abschlussvortrag „Preußens Untergang und Österreichs Überleben“, gab THOMAS STAMM-KUHLMANN (Greifswald) einen Überblick über die Konsitution der beiden Staaten vor und nach dem zweiten Weltkrieg. Er machte deutlich, dass Preußen als historischer Identitätsstaat des Deutschen Reiches in die nationalsozialistische Selbstdeutung integriert wurde und somit gemeinsam mit NS-Deutschland den Weg in den Untergang beschreiten musste. Hatte der Niedergang der preußischen Autonomie schon mit der Reichsverfassung von 1919 begonnen und wurde er mit der Gleichschaltung der Länder fortgesetzt, wurde dem 1945 de facto abgeschafften Flächenstaat nunmehr sein prekäres Verhältnis zum offensichtlich gefährlichen Militarismus zum Verhängnis. Österreich wurde mit dem Anschluss an das Deutsche Reich „deaustrifiziert“, die gesamte Reichskultur vielmehr „friderisiert“ und Wien somit zur Provinzhauptstadt degradiert, was für das Überleben Österreichs nach dem Krieg von eminenter Bedeutung wurde. Anders als Preußen, das den Siegermächten zu groß für eine Demokratisierung und nach wie vor als Hort des deutschen Militarismus erschien und somit 1947 endgültig beseitigt wurde, profitierte Österreich geradezu von seiner Opfersituation zur Zeit des Anschlusses an das Deutsche Reich. Die geforderte Ent-Habsburgisierung war relativ schnell umsetzbar und der österreichische Staat konnte bestehen bleiben.

Besonders bereichert wurde die Jahrestagung der APG durch eine Exkursion in die Alte Nationalgallerie, bei der der neue Leiter des Hauses – Dr. Philipp Demandt – höchstpersönlich die Führung übernahm und den Tagungsteilnehmern erklärte, inwiefern und warum er bei seinem Antritt als Direktor die Ausstellung umgestaltet hatte.

Insgesamt ist es der Tagung gelungen, im direkten Vergleich zwischen Preußen und Österreich interessante neue Perspektiven und tiefgreifende Analogien herauszuarbeiten. Somit bildete sie eine gute Fortsetzung des thematischen Auftaktes des Vorjahres. Die Abschlussdiskussion regte nicht zuletzt eine Vertiefung des Vergleiches für die Folgetagung beziehungsweise die Buchpublikation an und betonte wiederholt die Wichtigkeit einer Hinzuziehung weiterer österreichischer Kollegen für die Perspektivvielfalt.

Konferenzübersicht:

Thomas Stamm-Kuhlmann (Greifswald): Begrüßung

Panel I. Kulturelle Aspekte

Andrea Meissner (Augsburg): Kriegsmythologie und kulturelle Demilitarisierung in preußischen und österreichi-schen Lehrbüchern nach 1918

Michael C. Schneider (Frankfurt am Main): Die amtliche Statistik in Preußen und Österreich-Ungarn im 19. Jahrhundert

Ingo Löppenberg (Greifswald): Preußens und Österreichs wissenschaftlicher Wettlauf im 19. Jahrhundert

Jürgen Angelow (Potsdam): Benedek und Moltke. Parallele Biographien

Panel II. Wirtschaft und Finanzen

Kurt Düwell (Düsseldorf): Preußische Seehandlung und Österreichischer Lloyd. Zwei Varianten von „Staatsnähe“ (1772–1947)

Marion Koschier (Klagenfurt): „Es ist eine Arbeit der Danaiden…“ – Zur prekären Lage der Staatsfinanzen in Österreich und Preußen in den Jahren nach dem Wiener Kongress

Panel III: Politik im Vergleich

Frank Möller (Greifswald): Parlamentarismus in Preußen und Österreich

Giulia La Mattina (Turin): Die Bewegung „Jung Österreich“ und Preußen: Aspekte eines widersprüchlichen Verhältnisses zwischen Vormärz und Revolution 1848

Thomas Stamm-Kuhlmann (Greifswald): Preußens Untergang und Österreichs Überleben


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