HT 2012: Höfe und ,Humankapital’. Die höfische Konkurrenz um Fachleute aus Künsten, Wissenschaft und Diplomatie im 17. und 18. Jahrhundert

HT 2012: Höfe und ,Humankapital’. Die höfische Konkurrenz um Fachleute aus Künsten, Wissenschaft und Diplomatie im 17. und 18. Jahrhundert

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Mainz
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.09.2012 - 28.09.2012
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Von
Thomas Kirchner, Historisches Institut, RWTH Aachen

Der Wettbewerb der europäischen Fürstenhöfe in der frühen Neuzeit um einen Ausdruck ihrer Herrschaftsansprüche, der politische Konkurrenten überstrahlen sollte, war ein Wettbewerb um das Humankapital von Künstlern. So die Annahme CHRISTINE ROLLs (Aachen) und MATTHIAS SCHNETTGERs (Mainz), die sie ihrer Sektion auf dem Mainzer Historikertag 2012 zu Grunde legten. Unter dem Titel „Höfe und ,Humankapital’. Die höfische Konkurrenz um Fachleute aus Künsten, Wissenschaft und Diplomatie im 17. und 18. Jahrhundert“ untersuchten die Referent/innen die Bedeutung von Fachleuten der Repräsentation. Die Sektion behandelte also bildende Künstler, Architekten und Musiker als „knappe Ressourcen“, um welche die Höfe Europas stritten.

Die Sektion griff das Tagungsthema „Ressourcen – Konkurrenz“ auf, indem sie Menschen als historische Akteure und Ressourcen begriff. Einen vergleichbaren Ansatz verfolgten auch andere Sektionen. Wie Christine Roll bemerkte, eröffnete die Vorgabe Frühneuzeithistorikern eine neue und ungewohnte Perspektive auf ihr Forschungsthema – die frühneuzeitlichen Fürstenhöfe. Sie regte dazu an, den Wettbewerb um Fachleute der Repräsentation von zwei Seiten zu betrachten: Aus dem Blickwinkel der Höfe und aus dem der Künstler.

Von der Bedarfs- oder Nachfrageseite, also aus der Sicht von hofhaltenden Fürsten und Adligen stellte sich die Frage, welche Künstler sie benötigten um den Repräsentationsbetrieb ihrer Höfe zu einem erfolgreichen Unternehmen zu machen. War das Profil der gesuchten Fachleute geklärt, stellte sich die Frage, auf welchem Markt sie angeworben werden konnten.

Von der Produktions- oder Angebotsseite des diskutierten Humankapitals, also aus Sicht der Künstler, stellten sich die Fragen, welche Eigeninteressen die Fachleute verfolgten und welche Anziehungskraft verschiedene Höfe zwischen Versailles und St. Petersburg auf Künstler ausübten. Gleichzeitig geraten von dieser Seite her die Kosten und Einschränkungen in den Blick, die für Künstler damit verbunden sein konnten, an einem bestimmten Hof tätig zu werden. Die Beiträge der Sektion zeigten mehrheitlich, wie es nicht zuletzt die Künstler selbst waren, die im Rahmen dieser Motivationen, Anreize und Einschränkungen ihre Rolle an den Höfen und die Wirkung ihres Humankapitals an den Höfen mitgestalteten.

FRIEDRICH POLLEROSS (Wien) fasste die fürstliche Seite des Wettbewerbs um Humankapital ins Auge. Er zeigte, wie der „Repräsentationswettkampf“ zwischen Versailles und Wien die Anforderungen prägte, die Leopold I. und dessen Nachfolger an Künstler stellten. Die ausgewählten Künstler, die in der Folge nach Wien kamen, prägten durch ihr Humankapital wiederum den repräsentativen Stil der Hofburg. Der Wiener Hof habe als Reaktion auf die „kulturpolitische Offensive“ die Frankreich am Ende des 17. Jahrhunderts in Form von künstlerischen, architektonischen und wissenschaftlichen Großprojekten sowie begleitenden publizistischen Maßnahmen gestartet habe, eine Doppelstrategie entwickelt. Zum einen habe Habsburg die französische Repräsentativkunst für ihre Überheblichkeit und übertriebene Prachtentfaltung kritisiert. Gleichzeitig habe der Wiener Hof versucht, eben diesen Repräsentationsstil zu kopieren und zu überbieten. Noch vor der Wende zum 18. Jahrhundert seien dabei Ansätze zur Etablierung einer dezidiert antifranzösischen Kunst in Wien erkennbar. In der Regierungszeit Josephs I. brachten diese Bemühungen einen charakteristischen habsburgischen Repräsentationsstil hervor. Dieser habe sich neben anderem auch in Schloss Schönbrunn, der „ersten steinernen Antwort Wiens auf Versailles“ ausgedrückt. Die Gestaltung des Baus in italienischen Stilformen repräsentierte die italienische Herrschaft der Habsburger und damit ihre imperialen Ansprüche. Die Habsburger mussten, um ihre Herrschaft in dieser Form dauerhaft zu repräsentieren, Künstler mit spezifischem Humankapital verpflichten. Besonders Herkunft und Ausbildung der Architekten und bildenden Künstler waren von Bedeutung, konnte die Überwindung der französischen Repräsentationskultur, doch am besten dann gelingen, wenn die Hofkünstler unter keinem französischen Einfluss standen. Trotzdem konnte sich Wien dem französischen Einfluss nie ganz entziehen. Nach dem Friedensschluss von Utrecht beschränkte der Wiener Hof seine Anwerbung von Franzosen nicht mehr nur auf Spitzenkräfte und mit der Neugründung der Wiener Akademie der Künste nach französischem Vorbild 1726 gaben die Kaiser ihr Projekt auf, den Stil der eigenen Hofkunst von dem des französischen Konkurrenten abzugrenzen. Nun sei die Phase der Imitation der französischen Repräsentationskultur durch Wien eingeleitet worden. Polleross konnte so am Beispiel der französisch-österreichischen Repräsentationskonkurrenz zeigen, wie bestimmte Fähigkeiten von Künstlern, in diesem Fall die Fähigkeit, in einem spezifisch habsburgisch-italienischen Stil zu gestalten, ihren Wert als „Humankapital“ durch veränderte Repräsentationsanforderungen eines Hofes einbüßten. Im Anschluss daran zeigten Arne Karsten und Gesa zur Nieden, nach welchen Kriterien der Wert von Künstlern für Höfe genauer bemessen werden kann.

ARNE KARSTEN (Wuppertal) beschäftigte die Frage, wie künstlerisches Humankapital aufgebaut und an den frühneuzeitlichen Höfen bemessen wurde, von der Seite der Fürsten her. Ausgehend von Peter Paul Rubens, dessen Humankapital als Hofkünstler gerade auch in seiner „Nebentätigkeit“ als Diplomat begründet war, entwickelte Karsten Kategorien, um die Aufgaben, die Hofkünstler für ihren Fürsten erfüllten, zu ordnen. Künstler konnten demnach bei Hofe sehr unterschiedliche Positionen einnehmen, in denen sie unterschiedlich stark an den Hof gebunden waren. Einen besonders privilegierten Status genossen gerade diejenigen Künstler, die ständig am Hof anwesend waren, ohne dadurch zum Hofstaat zu gehören. Sie profitierten vom Status einer „formalisierten Nicht-Formalität“, den überhaupt nur Künstler erreichen könnten. Unter den Künstlern seien es vor allem berühmte Ausnahme- und Großkünstler gewesen, die zu Hofkünstlern der so umrissenen Kategorie aufstiegen und als solche einen besonderen Wert für Fürsten entwickelten. Wenn ein solcher Künstler von seinem Patron beispielsweise in päpstliche Dienste vermittelt wurde, seien damit meist konkrete Dankbarkeitsforderungen verbunden gewesen. Umgekehrt konnte sich der Wert eines Künstlers bereits in der Forderung manifestieren, er solle für einen bestimmten Hof arbeiten. In dieser Hinsicht war Gian Lorenzo Bernini das Paradebeispiel eines Hofkünstlers mit hohem Wert für seinen Auftraggeber. Seine Werke sowie auch seine bloßen Besuche an bestimmten Fürstenhöfen seien wegen ihrer geringen Verfügbarkeit stets mit diplomatischer Bedeutung aufgeladen gewesen. Dieser Zusammenhang verweist darauf, dass diplomatische Dienste eng mit kunstpolitischen Aktionen verbunden waren. Päpstliche Diplomaten, hatten Kunstwerke im Gepäck, um sie zu verkaufen und betätigten sich auch als „Talentscouts“ für Hofkünstler. Beim Studium solcher Verknüpfungen von Diplomatie, Kunsthandel und Kunstpolitik ließe sich auch die in der Abschlussdiskussion gestellte Forderung erfüllen, die Hofkünstler und ihr Humankapital auch in Zusammenhängen zu untersuchen, die im eigentlichen Sinne ökonomisch sind. Die besondere Befähigung von prominenten Künstlern für den diplomatischen Dienst, hatte allerdings weniger mit der Umwandlung von humanem in ökonomisches Kapital zu tun. Karsten stellte heraus, dass Ausnahmekünstler häufig gerade, weil sie aus den Rangordnungen der höfischen und ständischen Gesellschaft herausgehoben waren, politische Probleme frei von den formalen Zwängen des diplomatischen Protokolls verhandeln konnten.

Wie genau sich Künstler dieses Privileg erarbeiten konnten und wie sie den Fürsten, unter deren Patronat sie standen damit nutzten, untersuchte GESA ZUR NIEDEN (Mainz). Mit Johann Jakob Froberg, der unter Ferdinand III. über Jahre hinweg eine Stelle an der Wiener Hofkapelle besetzte, stellte zur Nieden einen Musiker vor, der über die nötige „Soziabilität“ verfügt habe, um seinen Fürsten auch während ausgedehnter Reisen zu repräsentieren. Die nötigen künstlerischen Fähigkeiten und den damit verbundenen Ruhm habe er nicht zuletzt durch seine Ausbildung in Italien und seine Vernetzung mit europäischen Musikerkollegen eingebracht. Sein Humankapital als anerkannter Komponist konnte er in „symbolisches Kapital“ für seinen Fürsten und dessen Hof umwandeln. So trat er beispielsweise in einen friedlichen Musikerwettstreit mit anderen Künstlern – ein beliebtes Mittel der Diplomatie. Ähnlich wie Bernini oder Rubens durch künstlerische Exzellenz konnte Froberg durch musikalisches Fachwissen kompensieren, was ihm an Stand und Rang fehlte und so Verbindungen auch mit hohen Adeligen knüpfen. Froberg habe seine Kompetenz zur Repräsentation seines Herrschers schließlich dadurch abgerundet, dass er flexibel auf dessen Anforderungen reagierte. Zu dieser Anpassungsfähigkeit gehörte schon die Konversion zum katholischen Glauben vor Beginn seiner Karriere an der Hofburg. Auch die Aneignung eines italienischen Stils machte Froberg wertvoller für den kaiserlichen Dienst. Zur Nieden verwies in diesem Zusammenhang auf die spannende Frage, inwieweit „Konfession hörbar war“.

Die von Karsten und zur Nieden entwickelten systematischen Gesichtspunkte sind geeignet, um die Probleme zu behandeln, mit denen Paul Friedl und Christine Roll das Humankapital-Konzept in ihren Vorträgen konfrontiert hatten. PAUL FRIEDL (Mainz) formulierte die These, dass es zwischen König und Magnaten in Polen-Litauen einen Repräsentationswettkampf gegeben habe, in dem der König nicht immer der Sieger blieb. Die Grundlage für diesen Wettstreit sei bereits unter der Regierung Jan III. Sobiewskis und seines Vorgängers Michael Korybut Wiśniowiecki gelegt worden. Die Könige und Magnatenfamilien hätten ihre Residenzen in Warschau und auf dem Land zu dieser Zeit repräsentativ ausgestaltet. Dabei entwickelten sie einen polnischen Stil der Repräsentationsarchitektur. Dieser basierte zum einen auf der bevorzugten Anstellung von Architekten, die wie Tilman van Gameren oder Augustyn Wincenty Locci im italienischen Stil bauten. Zum anderen hoben sich die in Polen-Litauen in dieser Zeit verwirklichten Bauten von traditionellen Formen ab und entwickelten ein differenziertes Symbolprogramm – beides auf Initiative der Auftraggeber. Beim Regierungsantritt August II. hatte sich in Polen also bereits ein Netzwerk von Architekten gebildet, die in der Lage waren, den Repräsentationsbedürfnissen des polnischen Adels zu entsprechen. Außerdem verfügten die wichtigsten Magnatenfamilien bereits über vollendete Repräsentativbauten – auch in der Hauptstadt. Die Wettiner mussten dahingegen bei Null anfangen. August II. trug kaum dazu bei, diesen Rückstand aufzuholen, und versuchte der Form nach erst gar nicht, den polnischen Repräsentationsstil zu übernehmen. Anstelle von italienischen Architekten bevorzugte er den französischen Stil. Der polnische Adel habe erst um 1750 begonnen, diesen Stil zu adaptieren. Ohne dass dadurch der italienische Einfluss verschwand, stieg nun auch die Nachfrage nach sächsischen Architekten mit Kenntnissen des französischen Stils. Weil auch August III. nur eine geringe Bautätigkeit entfaltete, war es wiederum die innermagnatische Konkurrenz, die nun sächsischen Architekten ihr Auskommen in Polen-Litauen sicherte. So konnten vor allem die Magnaten, nicht die polnischen Könige, Bauten verwirklichen, die für den Empfang von ausländischen Gesandten und Monarchen geeignet waren. Das dazu nötige Humankapital erhielten sie durch die Etablierung einer italienischen Bautradition in Polen und durch eigene Anwerbungsinitiativen.

Nachdem Friedl also in Polen-Litauen einen funktionierenden Markt für das Humankapital von Fachleuten der höfischen Repräsentation beschrieben hatte, der nicht von der Nachfrage des Monarchen getragen worden sei, beschäftigte sich CHRISTINE ROLL (Aachen) im Anschluss mit den russischen Zaren, die um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert erst in den Repräsentationswettbewerb der europäischen Höfe eintreten mussten. In Russland gab es ganz im Gegensatz zu Polen-Litauen keinen Repräsentationswettbewerb zwischen Zar und Adel.

Russland habe zunächst noch mit einer Reihe weiterer Standortnachteile zu kämpfen gehabt. So erschwerte schon die Abgelegenheit Moskaus die Anwerbung von geeigneten Hofkünstlern. Dieses Manko wurde durch die Verlegung der Residenz nach Sankt Petersburg nur zum Teil aufgehoben. Als noch beständigeres Hindernis in den Bemühungen der Zaren um das Humankapital von Künstlern konnten sich unter Umständen die im Westen Europas vorherrschenden Vorstellungen von Russland erweisen. Der russische Hof habe als rückständig gegolten, Russland insgesamt als „septentrional, barbarisch und nicht bewohnbar“. Angesichts dessen warf Roll die Frage auf, welche Ressourcen und Netzwerke die Zaren aktivierten, um sich dennoch im europäischen Repräsentationswettbewerb zu etablieren. Sie stellte zunächst fest, dass entsprechende Bemühungen, den Kreml zu einem Hof im Sinne von Versailles oder der Hofburg zu machen, im vorpetrinischen Russland ausblieben. Das habe sich etwa 30 Jahre später grundsätzlich geändert, als Johann Gottfried Tannauer für den Dienst als Hofmaler am russischen Hof verpflichtet wurde. Ähnliche Anwerbungsversuche hatte es zwischen 1707 und 1712 immer wieder gegeben. Sie stützten sich auf bestehende Netzwerke europäischer Künstler und Gelehrter und kamen ohne maßgebliche Beteiligung russischer Akteure aus. Agenten des russischen Hofes zeigten nun ein planmäßiges Vorgehen und eine regelrechte Strategie, um trotz der russischen Standortnachteile Humankapital für den Zaren zu gewinnen. Nicht zuletzt sollten Fachleute mit hohen Gehaltsversprechungen nach Sankt Petersburg gelockt werden. Nach der Schlacht bei Poltawa sei Peter I. in einen Repräsentationswettbewerb mit dem Westen eingetreten. Obwohl die für Russland gewonnen Künstler in gewisser Weise zweitklassig gewesen waren, erfüllten sie mit ihrem Humankapital das Repräsentationsbedürfnis des Zaren: Sie schufen ihre Werke für ausländische Gesandte und Monarchen und repräsentierten so das Bild des Zaren in Europa.

Insgesamt lohne sich das „Nachdenken über Humankapital an Höfen“, stellte Schnettger in seinem Abschlusskommentar fest. Besonders, wenn das Humankapital-Konzept so flexibel genutzt werde wie in der Sektion geschehen: Keiner der Referenten zwang sich mit dem exakten Humankapitalbegriff der Wirtschaftswissenschaften oder der Bildungssoziologie zu arbeiten. Vielmehr knüpften die thematisch sinnvoll aufeinander bezogenen Beiträge an die alltagssprachliche Bedeutung des Wortes an, um Anwerbung und Arbeit der Hofkünstler als Marktgeschehen, Wettbewerb und Wertschöpfung zu verstehen – aber auch als einen Vorgang, durch den die Künstler selbst Herrschaftsrepräsentation und Kulturtransfer gestalteten.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Christine Roll (Aachen) / Matthias Schnettger (Mainz)

Christine Roll (Aachen): Einführung

Friedrich Polleross (Wien): Konfrontation und Imitation. Habsburgische Künstler im Dienste antifranzösischer Politik um 1700

Paul Friedl (Mainz): Der König im Wettbewerb mit den Magnaten? Ausländische Architekten und ihre Bauherren in der sächsisch-polnischen Union

Christine Roll (Aachen): Attraktion Zarenhof? Russische Strategien der Anwerbung von ausländischen Fachleuten nach Moskau und St. Petersburg

Arne Karsten (Wuppertal): Rollenspiele. Zur Funktion der Künstler am frühneuzeitlichen Hof

Gesa zur Nieden (Mainz): „ihn vertrosstetermassen zu frescobaldi abgehen zu lassen“. Überregionale Karrieren europäischer Hofmusiker

Matthias Schnettger (Mainz): Kommentar


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