HT 2012: Historische Außenansichten auf Europa: Annäherungen aus (post)kolonialer und transatlantischer Perspektive

HT 2012: Historische Außenansichten auf Europa: Annäherungen aus (post)kolonialer und transatlantischer Perspektive

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Mainz
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.09.2012 - 28.09.2012
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Von
Katharina Stornig, Leibniz-Institut für Europäische Geschichte, Mainz

Europa, seine Grenzen und die mit ihm korrespondierenden Vorstellungen beschäftigen Wissenschaftler vieler Disziplinen. Die historische Europa- und Europäisierungsforschung erfreut sich aktuell großen Interesses. Während die theoretischen und methodischen Ansätze in diesem Bereich vielfältig sind, bilden die kritische Diskussion bzw. Substitution eines festen geographischen Europabegriffs zugunsten eines Verständnisses von Europa als einer spezifischen politischen, kulturellen und/oder sozialen Konstellation, welche sich sowohl über Gemeinsamkeiten und Konflikte als auch über Abgrenzungen nach außen konstituierte, oft den gemeinsamen Ausgangspunkt. Des Weiteren herrscht weitgehend Konsens darüber, dass Europa auch durch seine Interaktionen mit anderen Weltregionen geprägt wurde. Die von Bekim Agai (Bonn), Judith Becker (Mainz) und Jan Logemann (Washington), alle drei Nachwuchsgruppenleiter in der BMBF-Förderlinie „Europa von außen gesehen“, initiierte interdisziplinäre Sektion brachte am 49. Historikertag historische Außenansichten auf Europa als eine neue Ressource in diese Debatten ein: Die durch Binnenperspektiven entstandenen Selbstwahrnehmungen Europas, so die Ausgangsüberlegung der Organisatoren, müssten durch die externen Rezeptionen und Repräsentationen Europas ergänzt werden. Das Programm wurde breit angelegt und beinhaltete neben der Diskussion chinesischer und lateinamerikanischer Europabilder sowohl die Europavorstellungen emigrierter Europäer als auch diejenigen afrikanischer Europareisender. Ziel der Sektion war es, einen multiperspektivischen Blick auf Europa zu werfen, um die Pluralität der Europakonstruktionen und ihre Relationalität zu untersuchen.

Während HEINZ DUCHHARDT (Mainz), der durch die Sektion führte, bereits in seiner Anmoderation die Frage nach der besonderen Qualität europäisch-afrikanischer Beziehungen durch die gemeinsame koloniale Vergangenheit aufwarf, lieferte der erste Vortrag von JUDITH BECKER (Mainz) eine theoretische Einführung und ein Plädoyer für die Anwendung postkolonialer Theorien in der historischen Europaforschung. Nach einem Überblick über die für die Konzeption der Sektion relevante postkoloniale Literatur (Said, Spivak, Pratt, Bhabha), identifizierte sie spezifische Probleme in den beiden Hauptströmungen der Europaforschung: Der „diskursanalytische Ansatz“ schränke seinen Untersuchungsgegenstand durch seinen Fokus auf explizite Nennungen Europas und konkrete Debatten zu Europakonzepten sehr ein. Der zweite Ansatz, den Becker als „normativ-essentialistisch“ bezeichnete, ginge hingegen präskriptiv vor: Mit Vordefinitionen Europas arbeitend, lege dieser seinen Untersuchungsgegenstand vorab fest und liefe somit Gefahr, durch die jeweilige Arbeitsdefinition Europas das Erkenntnisinteresse mitzubestimmen. Die Aufnahme historischer Außenperspektiven in die Analyse könne die angesprochenen Probleme zwar nicht lösen, jedoch wesentlich entschärfen, so Becker, indem Eurozentrismus vermieden, Dichotomien dekonstruiert und der Dialog mit der Regionalgeschichtsschreibung eröffnet würde. Die parallele Präsentation unterschiedlicher Vorstellungen von Europa trüge zudem Dipesh Chakrabartys Forderung nach einer Provinzialisierung Europas Rechnung.1

Das erste Beispiel thematisierte Lateinamerika im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts und wurde von STEFAN RINKE (Berlin) vorgetragen. Dieser machte zunächst deutlich, dass die lateinamerikanischen Vorstellungen von Europa nur im Kontext einer wechselseitigen transatlantischen Perspektive verständlich wären. Rinkes zentraler These zufolge war die Nordamerikanisierung Lateinamerikas, welche in diesen Dekaden stattfand, untrennbar mit dem Prozess einer Europäisierung verbunden, wobei beide Prozesse nicht linear verliefen und durch sowohl Aneignung als auch Ablehnung geprägt wurden. Der Vortragende betonte die Bedeutung der entstandenen – zunehmend globalen – Kommunikationsräume und den Wandel von Diskursen im Rahmen dieser komplexen Zirkulationsprozesse. Rinke demonstrierte zunächst am Begriff des Yankee, wie lateinamerikanische Akteure Begriffe adaptierten, umdeuteten, symbolisch aufluden und somit politisch einsetzbar machten: Als lateinamerikanische Bezeichnung für den fremden amerikanischen Anderen, drückte der Begriff des Yankee sowohl das Eingeständnis von wirtschaftlicher Unterlegenheit als auch den Anspruch auf kulturelle Überlegenheit aus. Diese kulturelle Überlegenheit, so Rinke, leiteten die Lateinamerikaner von Europa und ihrem europäischen Erbe ab. Eine Zäsur in diesem Geflecht amerikanisch-europäischer Beziehungen habe der Erste Weltkrieg dargestellt. Der Krieg und seine sozialen bzw. ökonomischen Auswirkungen hätten das Bild Europas in Lateinamerika zum Negativen verändert; ein Prozess, der mit einer Umorientierung von Europa zu den USA verbunden war. Industrialisierung und Nationalismus der Zwischenkriegszeit hätten außerdem zur Entwicklung eines neuen Selbstbewusstseins und Selbstbilds Lateinamerikas geführt, welches auch ein neues Bild Europas hervorbrachte: Die Vorstellung des „alten Europas“, welchem ein „junges Amerika“ gegenübergestellt wurde.

Während die von Rinke untersuchten Lateinamerikaner Europa vor allem in transnationalen Kommunikationsräumen begegneten, analysierte KIRSTEN RÜTHER (Wien) Europa in den Reisebeschreibungen dreier Afrikaner in Großbritannien bzw. Deutschland. Die Südafrikanerin Katie Makanya bereiste Großbritanien 1891-92 als Mitglied eines fünfzehnköpfigen Chors. Der Katikiro Sir Apolo Kagwa besuchte England 1902, um auf Einladung an den Krönungsfeierlichkeiten Edward VII. teilzunehmen. Martin Aku verließ Togo 1913 im Alter von fünfzehn Jahren, um in Tübingen und Basel Medizin zu studieren. Die Afrikahistorikerin Rüther argumentierte für eine konsequente Historisierung wissenschaftlicher Fragen nach Europa, indem sie zeigte, dass Europa bereits vor Reiseantritt für keine der von ihr untersuchten Personen „außen“ lokalisiert war: Sie alle waren in oder mit europäischen Imperien bzw. der Präsenz Europas in Afrika aufgewachsen und hatten bestimmte Vorstellungen und Ideen darüber entwickelt, was dieses in Afrika präsente Europa war. Rüther gab zu bedenken, dass die Forschungsfrage nach der Außenansicht Europas im Kontext ihrer Studie problematisch ist, weil sie diese Menschen, welche mit kolonialen Herrschaftsformen seit langem vertraut waren, wieder als „fremd“ und in einem „Außen“ verortet. Statt Europa als zentrale Größe unhinterfragt zum Gegenstand der Forschung zu machen, müsse dieses „Außen“ problematisiert und neu gedacht sowie Dichotomien von „fremd“ und „eigen“ zugunsten der Untersuchung von Verflechtungen und Ambivalenzen in den Bildern Europas aufgegeben werden.

Zu einer ähnlichen Erkenntnis bezüglich der Schwierigkeit, Europa in einem außereuropäischen Diskurs eindeutig zu definieren, kam auch THORALF KLEIN (Loughborough), der über die Geschichte des Okzidentalismus in China im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert referierte. Der Begriff Europa sei im China des späten 19. Jahrhunderts zwar bekannt gewesen, habe aber im Kontext des chinesischen Okzidentalismus nur eine sehr untergeordnete Rolle gespielt. Stattdessen habe der Westen als Begrifflichkeit im Vordergrund gestanden, wobei "westlich" ein Attribut war, das vor allem die in China präsenten Gruppen von Ausländern (vor allem Amerikaner bzw. Russen) umfasste. Klein diskutierte anhand des Begriffs „fremde Teufel“ (oder „Dämonen“), wie chinesische Diskurse den Westen als ein Anderes konstruierten, wobei er betonte, dass diese Prozesse des Othering sowohl durch interne (sinozentrische) als auch externe Faktoren (Imperialismus) initiiert wurden. Gleichzeitig betonte Klein die sich veränderte Bedeutung dieses Begriffs im Kontext seiner konkreten Verwendung und der Einflüsse politischer und sozialer Entwicklungen. Während zunächst vor allem christliche Missionare als „fremde Teufel“ bezeichnet wurden, kam es während der Boxerbewegung zu einer Ausweitung seiner Verwendung auf die in China präsenten Ausländer sowie seiner teilweisen Kombination mit bestimmten physischen Merkmalen, wie zum Beispiel blauen Augen, welche laut Klein auch als Zeichen der Dämonen gesehen wurden. Im Zuge des anti-imperialistischen Nationalismus des 20. Jahrhunderts sei es jedoch zu einer Neubestimmung des Begriffes des „fremden Teufels“ im Kontext einer politischen Rhetorik der Abgrenzung vom Westen gekommen. Schließlich betonte Klein nachdrücklich, dass es sich bei dem vorgestellten Begriff nur um einen Aspekt des chinesischen Okzidentalismus in diesem Zeitraum handelte und dass dieser nicht auf eine Reaktion auf Europa reduziert werden könnte, sondern als eigenständiges Phänomen zu betrachten sei.

Europa zu definieren sei aus der Sicht Chinas um 1900 problematisch. Am ehesten in chinesischen Quellen auffindbar ist laut Klein eine Definition von Europa als Kulturraum, wobei dieser europäische Raum jedoch nie klar von dem nordamerikanischen zu trennen sei. Allgemein betrachtet kann festgestellt werden, dass sowohl die USA als auch Europa historisch und aktuell als feste Bestandteile des Westens gesehen wurden und immer noch gesehen werden.

Die Dekonstruktion des Westens als ein homogenes Gebilde übernahm JAN LOGEMANN (Washington), der das transatlantische Spannungsverhältnis europäisch-nordamerikanischer Gemeinsamkeiten und Differenzen am Beispiel emigrierter europäischer Intellektueller des 20. Jahrhunderts diskutierte. Der zentralen These seines Vortrags zufolge waren die von ihm untersuchten Intellektuellen zwar wesentlich an der Konstruktion eines gemeinsamen Westens und der Errichtung von Brücken zwischen den USA und Europa beteiligt, jedoch akzentuierte ihre transatlantische Sichtweise stets auch die Heterogenität dieser Konstellation. Während die Einwanderer aus ihrer Position zwischen den USA und Europa einerseits ihr „Europäisch-Sein“ gezielt einsetzten, hätten sie sich in bestimmten Bereichen auch (bewusst) abgegrenzt. Diese Abgrenzungen führten laut Logemann auch zur Wahrnehmung des „Europäischen“ als das Andere des „Amerikanischen“. Gleichzeitig betonte er, dass der Umgang mit Ethnizität in den USA diese „Dazwischen“-Positionen und die Ausbildung hybrider Identitäten ermöglichte, wie zum Beispiel auch Bezeichnungen wie German-American deutlich machten. Europa als übergeordnete Einheit spielte dabei nur eine nebensächliche Rolle, so Logemann, denn diese Positionen blieben meist national bestimmt: die Bezeichnung European-American setzte sich zu keinem Zeitpunkt durch. Des Weiteren verwies Logemann auf den Klassenbezug des europäischen Bewusstseins, welches bei Eliten wesentlich stärker ausgeprägt war, und auf die Entwicklung alternativer Selbstverständnisse wie zum Beispiel das des Kosmopoliten.

Interessanterweise verwiesen beide Vorträge über die transatlantischen Perspektiven auf Europa auf den Ersten Weltkrieg als eine Zäsur, die das Europabild nachhaltig veränderte und, wie Logemann ausführte, Vorstellungen von Europa als verarmt und rückständig hervorbrachte und multiplizierte. Dies wiederum deutet darauf hin, dass die historischen Außenwahrnehmungen Europas zumindest aus der (nord- wie süd-)amerikanischen Perspektive auch stark von politischen Entwicklungen und Machtverhältnissen geprägt waren. Die Frage der Perspektivität war auch der erste Punkt, den Kommentator KIRAN KLAUS PATEL (Maastricht), der die Sektion insgesamt als einen wichtigen Beitrag einschätzte, weil sie sowohl die Pluralisierung der Europabilder als auch ihre Ambivalenzen und Fragilität deutlich gemacht hätte, als weiterführende Anregung aufwarf.

Das Beispiel Chinas habe gezeigt, so Patel, dass Europa nicht immer alleine im Fokus der Fremdwahrnehmungen stand. Folglich könnten unterschiedlich Begriffe (zum Beispiel Lateinamerika, Westen, Ausland) in die Analyse miteinbezogen werden. Diese müssten jedoch gründlich und aus konkreten Perspektiven hinterfragt und mit Bezug auf ihre Grenzen sowie im Verhältnis zu Differenzkategorien (zum Beispiel race) untersucht werden. Der zweite Punkt des Kommentars betraf die Subalternität, indem Patel anregte, genau hinzusehen, wer in den Quellen über Europa spricht. Die in den Vorträgen identifizierte Gebundenheit an Europa sei eine Sache der Eliten gewesen, womit die Frage entstehe, ob Europavorstellungen auch für andere Gesellschaftsschichten relevant waren. Auch die pointierte Frage nach der Konnektivität und Rückwirkung dieser Diskurse und Vorstellungen auf Europa könnte aus Sicht Patels ertragreich vertieft werden. So sah er in der Frage nach möglichen Zäsuren, welche die Europäer zwangen, sich mit den Außenansichten Europas auseinanderzusetzen, eine spannende Frage für die zukünftige Forschung. Das vierte Schlagwort des Kommentars war die Provinzialisierung. Zur Bewältigung dieser Forderung plädierte Patel für einen Bezug auf den Begriff Europa, sei diese doch auch in außereuropäischen Kontexten mit multiplen Bedeutungen gefüllt worden und es wäre eben wichtig zu wissen, wann Europa und wann z.B. das British Empire gemeint waren. So sei „Europäer“ im kolonialen Kontext (Patel nannte das Beispiel Niederländisch-Ostindien) auch eine legale Kategorie gewesen, die mit der Vergabe bestimmter Rechte verbunden war.

Laut Patel brachte die Sektion insgesamt wichtige Erkenntnisse. Während einzelne Beiträge bereits darlegten, dass die Grenzen Europas fluide werden konnten und stattdessen soziale Kategorien wie „Rasse“, Klasse oder Geschlecht eine Rolle spielten, sei es nun die Aufgabe der zukünftigen Forschung zu untersuchen, inwieweit sich die Grenzen Europas in der Vergangenheit tatsächlich verflüssigt und vielleicht durch den Prozess der europäischen Integration wieder verfestigt hätten. Einzelne Aspekte aus dem Kommentar wurden in der anschließenden Debatte im Plenum noch weiter vertieft.

Dem Panel ist sehr anschaulich gelungen, neue Perspektiven für die historische Europaforschung aufzuzeigen. Außerdem konnten die Beiträge dieser interdisziplinären Sektion in unterschiedlichem Ausmaß die methodischen Herausforderungen deutlich machen, mit denen sich eine postkoloniale Dekonstruktion Europas durch die Auseinandersetzung mit pluralischen „Außenansichten“ konfrontiert sieht: Archive, Konzepte und Begrifflichkeiten müssen aus den verschiedenen Forschungsperspektiven hinterfragt und neue Quellen für die Geschichtswissenschaft fruchtbar gemacht werden. Die Bearbeitung dieser Quellen erfordert oft auch Kenntnisse in außereuropäischen Sprachen und die Auseinandersetzung mit vielfältigen kulturellen und historischen Traditionen. Während die Pluralität der Außenansichten auf Europa deutlich aufgezeigt wurde, blieb die Frage nach ihrer Relationalität (zum Beispiel in einem Süd-Süd Kontext) weitgehend offen.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Bekim Agai (Bonn), Judith Becker (Mainz) und Jan Logemann (Washington)

Heinz Duchhardt (Mainz): Moderation

Judith Becker (Mainz): Theoretische Einführung: Europa von außen: Zum Zusammenhang von Europa- und Postkolonialismusforschung

Bekim Agai (Bonn): Europabilder von Arabern und Osmanen im 19. Jahrhundert – Reisende aus dem Nahen Osten nach Europa im Spiegel des Kulturkontakts (abgesagt)

Stefan Rinke (Berlin): So nah und doch so fern: Lateinamerikas Europabilder zwischen Räumen im Zeitalter der Nordamerikanisierung

Kirsten Rüther (Wien): Globale Interaktion und regionale Differenzierung – gegenseitige Wahrnehmungen zwischen „Europa“ und „Afrika“

Thoralf Klein (Loughborough): Fremde Teufel. Zur Geschichte des Okzidentalismus in China

Jan Logemann (Washington): Der Blick zurück: „Europa“ in den Augen europäischer Migranten in den USA

Kiran Klaus Patel (Maastricht): Kommentar

Anmerkung:
1 Dipesh Chakrabarty, Provincializing Europe: Postcolonial Thought and Historical Difference, Princeton and Oxford 2000.


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