HT 2012: Macht und Gegenmacht im Konfliktraum der Volksrepublik Polen: Kulturelle Ressourcen für Formen des politischen Widerstands

HT 2012: Macht und Gegenmacht im Konfliktraum der Volksrepublik Polen: Kulturelle Ressourcen für Formen des politischen Widerstands

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VDG)
Ort
Mainz
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.09.2012 - 28.09.2012
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Von
Heidi Hein-Kircher, Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Leibniz-Gemeinschaft, Marburg

Ende der 1980er-Jahre war Polen der erste volkssozialistische Staat, dem es gelang, das sozialistische System durch Strukturwandel abzuschütteln. Weil dieses System durch die Sowjetunion gestützt wurde, konnten sich verschiedene hegemoniale Herrschaftspraktiken gegenüber der Bevölkerung – bis hin zur Gewaltausübung während des Kriegsrechts – entwickeln. Es gelang dem Regime aber nicht, die seit den 1970er-Jahren immer stärker werdende Oppositionsbewegung einzudämmen. Die mit deren Formierung zusammenhängende Ereignisgeschichte ist gut erforscht, während das Traditionsbewusstsein und der Nationalismus der Polen lediglich als bloße Voraussetzung und nicht als diskursiv gestaltete Ressource gesehen werden. Sie werden daher nicht weiter hinterfragt. Es gab jedoch spezielle Diskursräume, die bestimmte kulturelle Grundlagen nutzten, aber auch in spezifischer Form weiterentwickelten. So ist es ein Desiderat, die kulturellen Grundlagen der Oppositionsbewegungen unter einer zusammenfassenden Perspektive zu bewerten, die eben die diskursive Konstruktion und Nutzung dieser Ressourcen hinterfragt.

Bei diesem Befund setzte das Konzept der von BIANKA PIETROW-ENNKER (Konstanz) geleiteten Sektion an, in der die kulturellen Ressourcen der Opposition hinterfragt und benannt werden sollten. Schließlich sei im Konfliktraum Polen die Produktion von Kultur diskutiert worden. Sie habe die Formierung von Opposition überhaupt erst ermöglicht, wobei aber dieser Zusammenhang bislang nicht ausreichend beforscht worden sei.

Bianka Pietrow-Ennker verdeutlichte in ihrer Einführung das Anliegen der Sektion, demzufolge die Beschäftigung mit Polen auf Grund der Verflechtung mit der deutschen Geschichte eine Grundvoraussetzung für das Verständnis von Deutschland und Europa sei. Wie in einem Prisma könne man Faktoren erkennen, die die europäische Geschichte beeinflusst hätten. Hierbei stelle Kultur eine bedeutsame Ressource dar, deren Nutzung eine dynamische Entwicklung bewirkt habe.

Ziel der Sektion war es also das herauszuarbeiten, was in den zeitgenössischen Diskursen als kulturelle Ressource aufgefasst wurde, und zugleich die entsprechenden Gegenstrategien des Regimes aufzuzeigen. Der diskursive Prozess, so die Grundannahme und Leitfrage der Sektion, ließe verschiedene Formen von „Eigen-Sinn“, „widerständiger Abgrenzung“ und damit zusammenhängend Konstruktionen von Gegenstrategien und oppositionellen Praktiken erkennen. Es ging der Sektion also darum, neue Erkenntnisse darüber zu liefern, welcher Art die kulturellen Ressourcen waren, welche Symbolvorräte für die Bildung kollektiver Identität durch kulturelle Ressourcen entstanden, welche Gruppen Zugang dazu fanden und welche subversiven Praktiken sich in regionalen, nationalen sowie transnationalen Räumen daraus ergaben.

Eine solche subversive Praktik stellte der Jazz dar, der nirgends in Europa eine derartige Breitenwirkung erzielte wie in Polen. Daher stellte GERTRUD PICKHAN (Berlin) den Polski Jazz als eine solche kulturelle Ressource vor, indem sie wesentliche Ergebnisse eines von ihr geleiteten Forschungsprojektes, das über mehrere Jahre von der VW-Stiftung gefördert wurde, zusammenfasste. Ausgehend von der Feststellung, dass Jazz als Musik der Freiheit und des American Way of Life eine Art mythische Verklärung erfahren habe, stellte sie zunächst die Entwicklung des Jazz und der Jazz-Szene in Polen dar, die in der Entstehung einer eigenen polnischen Jazz-Schule gemündet sei.

Nach 1945 sei er zum Symbol der Demokratie, der Moderne und der westlichen Werte geworden und seine Bedeutung sei in dem Maße gestiegen, wie die Freiheit eingeschränkt wurde – insofern habe der Jazz sich in Polen einer Beliebtheit und Vitalität erfreut wie in kaum einem anderen europäischen Land. Als kulturelle Alternative zu dem offiziell propagierten sozialistischen Kulturmodell sei der Polski Jazz zum wichtigsten kulturellen Exportschlager neben den Plakaten und dem polnischen Film avanciert. Diese Bedeutung als kulturelle Alternative habe aber „naturgemäß“ das Regime gestört.

Gertrud Pickhan zeigte die im Jazz bzw. in der Jazz-Szene inhärente Ambivalenz auf: Problematisch sei ein staatliches Eingreifen insofern gewesen, als der Jazz eben nicht nur als amerikanische Musik, sondern auch als die Musik des unterdrückten schwarzen Proletariats wahrgenommen wurde. Zugleich habe aber die körperbetonte Lebensfreude des Jazz, die häufig als „pornografisch“ verbrämt wurde, das Regime provoziert, während die mit dem Jazz verbundene religiös-spirituelle Dimension wiederum auf fruchtbaren Boden in der vom Katholizismus geprägten polnischen Gesellschaft gefallen sei. Sie betonte aber auch, dass der Polski Jazz keine Formen offenen Widerstands propagiert, sondern scheinbar apolitisch agiert habe. Die Jazzszene sei insgesamt nur schwer zu kontrollieren und Keimzelle einer Alternativkultur gewesen. Insofern habe der Jazz in den 1950er- und 1960er-Jahren, in denen er sich allmählich institutionalisiert habe, einen „eigen-sinnigen“ Charakter angenommen. Die genuin amerikanische Musik habe in Ostmitteleuropa insgesamt und insbesondere in Polen als Ausdruck der Freiheit zugenommen und als Möglichkeit für alternative Lebensentwürfe gegolten. Insofern hätten es auch Repressionen nicht verhindern können, dass sich der Polski Jazz als kulturelle Alternative entwickelt habe.

Kulturelle Gegenstrategien entstanden aber auch im polnischen Untergrund. ROBERT BRIER (Warszawa) diskutierte die nationalen und transnationalen Untergrunddiskurse und stellte damit die gängige Interpretation der polnischen Zeitgeschichte in Frage, die die Solidarność einerseits mit Blick auf die Ereignisse des Jahres 1989 und andererseits als eine auf die Romantik hin reduzierte polnische Nationalgeschichte sieht. Um Kultur als Ressource für die politische Opposition untersuchen zu können, definierte Robert Brier zunächst den Ressourcen-Begriff als Mittel, um eine Handlung zu tätigen oder ein Ziel zu erreichen, wies auf die Abhängigkeit vom Kontext hin und verdeutlichte, dass (knappe) Ressourcen stets im Zentrum von Konflikten stehen. In den 1970er-Jahren sei der öffentliche Raum durch den sozialistischen Erfolgsdiskurs der Industrialisierung dominiert worden, doch sei in ihrer zweiten Hälfte zunehmend deutlich geworden, dass dieser Diskurs im Widerspruch zur Wirklichkeit stand. Dagegen seien religiöse Handlungsweisen eine Erfahrung von Authentizität gewesen, was zu einer Graswurzelbewegung, die sich für den Bau von Kirchen einsetzte, geführt habe.

Diese Form der Selbstorganisation habe dem kulturellen Erbe einen festen Rahmen verliehen und zu einer wechselseitigen Verstärkung geführt. Mit dem Menschenrechtsdiskurs sei aber ein transnationaler Aspekt hinzu gekommen: Die Menschenrechte seien durch die Kirche als Wert übernommen worden, sie hätten die Legitimität des Systems in Frage gestellt. Dies habe wiederum zu einer symbolischen Koalition mit Menschenrechtsbewegungen in anderen Staaten geführt. In einem weiteren Schritt zeigte Brier dann auf, dass Kultur fortan nicht als eine gegebene Größe angesehen worden sei und sich daher zu einer umkämpften Ressource entwickelt habe: Die Kultur sei innerhalb der Oppositionsbewegung ebenso umkämpft gewesen wie die Nationalkultur zwischen Regierung und Opposition. Schließlich sei mit den Menschenrechten eine weitere umkämpfte Ressource hinzugekommen.

Der wichtigste Gegenspieler der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PZPR) war die katholische Kirche, auch wenn sie keine politische Macht angestrebt habe. KLAUS ZIEMER (Warszawa/Trier) diskutierte daher ihre Rolle bei der Entwicklung oppositionellen Denkens. Die katholische Kirche habe sich dem sozialistischen Gesellschaftsentwurf entgegenstellt und alternativ die traditionellen Werte der Nation propagiert. Diese Entwicklung zeichnete Ziemer in dem ersten Teil seines Vortrags nach und kam zu dem Schluss, dass sich der Primas als der eigentliche Repräsentant der Nation betrachtete, aber lediglich Maßstäbe für die Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens aufgezeigt habe. Die katholische Kirche habe das staatliche Informationsmonopol leichter als andere gesellschaftliche Gruppen durchbrechen können. Immer wieder, beispielsweise durch die Gründung der Klubs der Katholischen Intelligenz (KIK) 1956 oder auch durch den Versöhnungsbrief an die deutschen Bischöfe 1965 habe sie alternative Denkmodelle zur parteioffiziellen Interpretation der zeitgenössischen Kultur geliefert, die einen Monopolanspruch vertrat. Mit der Etablierung der politischen Oppositionsbewegung habe die katholische Kirche eine neue Funktion erhalten. So habe sie einerseits in Teilbereichen einer Kooperation mit dem Staat zugestimmt, um bestimmte Ziele zu erreichen, andererseits hätten zahlreiche Priester die Solidarność unterstützt. Etwa durch Wallfahrten und ein landesweites Netz von katechetischen Punkten habe sie die Gesellschaft mobilisieren können, wodurch sie spirituelle Ressourcen zur Verfügung gestellt habe, in denen sich religiöse und nationale Elemente verbunden hätten. Schließlich hätten die „Pilgerreisen“ Johannes Pauls II. für die Kirche integrierend und das Selbstbewusstsein stärkend gewirkt. Das so gefestigte Ansehen, das 1989 seinen Höhepunkt erreicht habe, habe es der Kirche ermöglicht, während der Verhandlungen zum Runden Tisch eine Schlüssel- und Vermittlerrolle einzunehmen.

DIETER BINGEN (Darmstadt) betonte in seinem die Sektion zusammenfassenden Kommentar, dass angesichts des totalitären Anspruchs jeder Ausdruck von kultureller, religiöser oder gesellschaftlicher Ausstrahlung immer politisch sei, so wie etwa die Musikästhetik die Parteiwerte durchbrochen habe. Insofern habe es insgesamt eine Ambivalenz des Widerständischen gegeben, die etwa auch am Selbstverständnis der Kirche deutlich geworden sei. So habe die katholische Kirche mit dem Anspruch spiritueller Macht gegenüber dem Regime agiert, aber die nationale Rolle der Institution Kirche habe eine größere Bedeutung gehabt und es sei der Kirche nicht gelungen, wirklich mit diesen Ressourcen zu arbeiten. Die Kirche als zeitweise systemstabilisierende Kraft habe aber letztlich die Niederlage des Systems herausgezögert. Ihre Transnationalität sei für die PZPR die größte Herausforderung gewesen, jedoch habe die Kirche ihr transnationales Potential bis 1989 nicht genutzt. Zugleich habe es eine das System bedrohende Wiederherstellung von Werten, Codes und Mentalitäten durch die Oppositionsbewegung gegeben. Jede der diskutierten kulturellen Praktiken hätte daher auch die Rolle eines Ventils verschiedener gesellschaftlicher Gruppen übernommen.

Die sich anschließende Diskussion kreiste zunächst vor allem um die Bedeutung der katholischen Kirche im heutigen Polen und ihre ambivalente Haltung während der Volksrepublik Polen. Eher kursorisch wurde der Blick auf die Leitfragen und das Oberthema der Sektion gelegt. Eine notwendige Erweiterung der Vorträge bzw. der Diskussion hätte sicherlich der entfallene Vortrag von KRZYSZTOF RUCHNIEWICZ (Wrocław) gebracht, in dem oppositionelle Ausprägungen der Erinnerungskultur diskutiert werden sollten.

Erst abschließend wurde der Ressourcen-Begriff, dem die Sektion zugrunde lag, durch die diskutierenden Zuhörer in Frage gestellt. Hierbei wurde insbesondere der Mehrwert des Begriffs der kulturellen Ressourcen kritisch erörtert. Bianka Pietrow-Ennker als Sektionsleiterin und die Beitragenden verdeutlichten in ihren Wortbeiträgen, dass in bestimmten Konstellationen Kultur zur Ressource geworden sei. Aktiv sei sie etwa für die Wandlung der Kirche genutzt worden.

Bianka Pietrow-Ennker betonte hierbei mit Blick auf Pierre Bourdieu die Bedeutung von immateriellen Ressourcen, demzufolge kulturelles Kapital diskursiv gestaltet werden könne. So seien Werte und insbesondere das Verständnis von Freiheit, Nation und Unabhängigkeit durch die kulturellen Ressourcen in Polen in gewisser Weise modernisiert worden. Insofern sei der Ressourcen-Begriff für die weitere Beforschung der kulturellen Grundlagen der Oppositionsbewegung in Polen inspirierend.

Zusammenfassend stellten die Vorträge dieser Sektion für einschlägig arbeitende Historiker/innen kaum neue (faktische) Ergebnisse dar, sondern fokussierten bisherige Forschungsschwerpunkte der Vortragenden unter der neuen Perspektive der „kulturellen Ressourcen“. Hierzu wurden die mit den „kulturellen Ressourcen“ verbundenen Implikationen als Leitfragen angewendet, was leider durch die anschließenden Diskussionen wieder aus dem Fokus der Aufmerksamkeit geriet.

Deutlich wurde der Berichterstatterin durch die Vorträge und Diskussionen abschließend, dass der Begriff „Ressource“ notwendigerweise weiter geschärft und definiert werden muss, um ihn auch außerhalb wirtschaftlicher Zusammenhänge und vor allem in Verbindung mit kulturellen Grundlagen wirklich produktiv für die kulturwissenschaftliche Forschung nutzbar machen zu können – der Bezug allein auf Pierre Bourdieu genügt hierfür sicherlich nicht. Diese Perspektive kann aber zu pointierteren Bewertungen der Bedeutung oppositioneller Kultur führen, wenn diese Schärfung erfolgt ist.

Zu hoffen bleibt daher, dass diese Sektion einen Einstieg hierzu bietet. Zu hoffen bleibt auch, dass die Vorträge und anschließenden Diskussionen der Sektion zu weiteren Arbeiten anregen, die verdeutlichen, wie sehr politischer Widerstand durch kulturelle Grundlagen angeregt werden kann und auf diese zurückwirkt – und dies in einem vergleichenden Rahmen, um die Besonderheiten im polnischen Fall und die Gemeinsamkeiten mit anderen Oppositionsbewegungen herauszuarbeiten zu können.

Sektionsprogramm:

Sektionsleitung: Bianka Pietrow-Ennker (Konstanz)

Bianka Pietrow-Ennker (Konstanz): Einführung

Gertrud Pickhan (Berlin): „Body and Soul“. Eigensinn im Polski Jazz

Krzysztof Ruchniewicz (Wrocław): Widerständige Abgrenzung – Räume der Gegenerinnerung (entfallen)

Robert Brier (Warszawa): Kultur als Ressource von Oppositionspolitik. Nationale und transnationale Bezüge des Untergrunddiskurses der 1980er Jahre

Klaus Ziemer (Warszawa/Trier): Die Katholische Kirche als Gegenmacht zur Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei

Dieter Bingen (Darmstadt): Diskutant/Kommentar


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