Exploring Expertise: Uncertainty, Knowledge, and Trust in Democracies

Exploring Expertise: Uncertainty, Knowledge, and Trust in Democracies

Organisatoren
Lichtenberg-Kolleg der Georg-August-Universität Göttingen; Regina Bendix / Kilian Bizer, Göttingen; Don Brenneis, Santa Cruz; Dorothy Noyes, Columbus
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
15.06.2012 - 16.06.2012
Url der Konferenzwebsite
Von
Christoph Bossmeyer, Georg-August-Universität Göttingen

Im Rahmen des vom Lichtenberg-Kolleg organisierten Workshops ging ein interdisziplinäres sowie internationales Teilnehmerfeld in der Historischen Sternwarte der Universität Göttingen der Frage nach, welchen Stellenwert die wissenschaftliche Expertise heutzutage für den Abbau von Unsicherheit und die Schaffung von Vertrauen in Demokratien hat. Daneben war die Frage von Bedeutung, wie die Wissenschaft als Ganzes und speziell die Anthropologie als Wissenschaft vom Menschen sich und ihr Expertenwissen in diesem Zusammenhang im Informationszeitalter aufgestellt sieht. Wissenschaftliche Expertise ist keine Erfindung der Neuzeit. REGINA BENDIX (Göttingen) führte zu Beginn aus, dass es sie in unterschiedlichem Gewand in jeder Epoche und in jeder Wirtschafts- und Gesellschaftsform gegeben hat. Dennoch wirken unterschiedliche Formen und Ausprägungen von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik auf die Praxis der Expertise ein. Welchen Veränderungen sind die Ausübung von Expertise sowie der gesellschaftliche Umgang mit ihr in diesem Zusammenhang unterworfen? Heutzutage ist Expertenwissen ein weit verbreiteter Faktor des alltäglichen politischen und gesellschaftlichen Lebens, sieht sich jedoch deshalb gleichzeitig auch zunehmendem Druck zur fortwährenden Legitimation ausgesetzt. Die Teilnehmer/innen diskutierten in diesem Zusammenhang auch, ob und wie man als Wissenschaftler diesem Druck begegnen könne.

Der Workshop war in drei thematische Abschnitte unterteilt. Im ersten Abschnitt widmeten mehrere Teilnehmer/innen ihre Vorträge den sozialen Formen der Expertise mit besonderem Blick auf die anthropologische Expertise. So berichtete ANDRE GINGRICH (Wien) in seinem Vortrag, wie in der Wirtschaft vermehrt auf sozialwissenschaftliche oder ethnographische Expertise gesetzt würde, um zum Beispiel die Mechanismen der Zusammenarbeit innerhalb eines Unternehmens besser zu verstehen oder eventuelles Missmanagement aufzudecken. Ethnographie sei, nach Gingrich, aber kein Mittel, um Mitarbeiter zu überwachen, was die Unternehmensvertreter wiederrum ein wenig enttäuschte. Der folgende Vortrag von GRAHAM JONES (Cambridge) beleuchtete Politiker als Experten der Gesellschaft. Jones schrieb den Politikern Expertise auf dem Gebiet der Magie zu, mit deren Hilfe es ihnen möglich wäre, ihre Mitmenschen zu beeinflussen. Deutlich machte er dies an zahlreichen Karikaturen, die US-Präsident Barack Obama als Magier zeigten. Generell ergab Jones Vortrag, dass es neben der fachlichen Expertise auch die Art und Weise gibt, wie diese vermittelt wird. Ein Experte muss immer auch eine Art Performance zeigen, die Missstände in seiner Expertise überdecken oder aber im schlimmeren Fall auch die konkrete Aussage der Expertise komplett überlagern kann. Im Anschluss daran stellte DOMINIC BOYER (Houston) die Verbindung zum eingangs erwähnten Informationszeitalter her. Boyer verglich den Arbeitsalltag eines Journalisten mit dem eines Anthropologen und fand erstaunlich viele Gemeinsamkeiten, wie etwa der immer größer werdende Teil der Arbeitszeit, die beide Berufsgruppen am Computer und im Internet verbringen würden, um dortige Inhalte auf Relevanz hin zu prüfen, anstatt losgelöst vom Schreibtisch spannende Reportagen zu recherchieren oder Studien durchzuführen, die in der Lage wären neue Erkenntnisse zu bieten. Daran schließe sich der gestiegene Druck an, Ergebnisse vorweisen zu können. Beide Berufsgruppen stünden vor der Herausforderung, mit permanenter Erreichbarkeit, eigener Präsenz im Internet sowie der Beschleunigung der Arbeitsprozesse durch das Internet umzugehen. Zurückzuführen sei diese Entwicklung hauptsächlich auf das Internet als Agent kulturellen Wandels. Immer mehr Informationen sind in immer kürzerer Zeit von fast überall auf der Welt zugänglich, wobei es hier auch Ausnahmen gäbe. So ist der Zugang zum Internet in Syrien aktuell nur sehr begrenzt möglich, da die Regierung eine sehr umfassende Zensur des Internets aufrechterhält. Neben Journalisten und Wissenschaftlern ermöglicht das Internet jedem, der freien Zugang hat, ein Experte zu sein, wobei die fachliche und methodische Eignung selten eindeutig überprüfbar sei.

Zum Abschluss des Abschnitts über die sozialen Formen der Expertise betrachtete STEFAN BECK (Berlin) in seinem Vortrag die Bedeutung von Erfahrungswissen als Voraussetzung für Expertise. In einem medizinischen Umfeld konnte Beck beobachten, dass sich durch die vermehrte Entstehung von Patientenorganisationen Mediziner und ehemalige Patienten als Laien auf Augenhöhe begegnen. Expertise an reine Erfahrung auf einem Sachgebiet zu knüpfen, erweitert nach Beck die Anzahl potentieller Experten immens. Ein klares Bild, wer Experte sein kann und wer nicht, erscheint nach Becks Betrachtung durchaus problematisch. Generell sei die Expertise jedoch ein Phänomen, das nicht unbedingt an höhere Bildung gekoppelt ist. Auch der Kraftfahrzeugmechaniker kann auf seinem Gebiet schließlich als Experte angesehen werden.

Im zweiten Abschnitt widmeten sich die Teilnehmer/innen den institutionellen Rahmenbedingungen von Expertise. Eine Zäsur historisch-politischer Natur kann im Übergang vom Keynesianismus zum Neoliberalismus als leitende Theorie in der Wirtschaftspolitik in den 1970er-Jahren gesehen werden. In der Diskussion der Teilnehmer/innen wurde argumentiert, dass diese Zäsur Auswirkungen auf die Praxis der Expertise gehabt habe. In der Folge fanden Experten mehr Bereiche vor, in denen Expertise gefragt war, da der Staat seine aktive Rolle in Wirtschaft und Gesellschaft zurückfuhr. Weitere Forschungen wären hier wünschenswert, um beispielsweise zeigen zu können, wie sich die Auswirkungen konkret darstellten. Im Zusammenhang mit den institutionellen Rahmenbedingungen wurde von DOROTHY NOYES (Columbus) über Anthropologen im Dienste des Militärs berichtet, die trotz ihrer Involviertheit eine Außenperspektive einnehmen konnten, welche sich aber mitunter klar gegen die offizielle Darstellung richtete. Damit konnte Noyes deutlich machen, dass es für die Anthropologie, die gesamte Wissenschaft sowie anderweitige Experten auch schwierig sein könne, ihre ehrliche fachliche Expertise zu äußern. Noch deutlicher als Anthropologen treten Ökonomen heutzutage als Experten auf. Nach der Ablösung der Lehren Keynes, die zu ihrer Blütezeit auch von führenden Ökonomen vertreten worden waren, ergab sich speziell für diese wissenschaftliche Disziplin ein viel breiteres und freieres Betätigungsfeld. Grundsätzlich berichtete KILIAN BIZER (Göttingen) von einem Dilemma, dem sich Ökonomen als Experten heutzutage ausgesetzt sähen. Nennen Ökonomen konkrete Zahlen, besteht die Gefahr, dass diese der Öffentlichkeit und den politischen Entscheidern nicht gefallen, da schon eigene Vorstellungen über bestimmte Ergebnisse vorherrschen. Sind Ökonomen aber so ehrlich und nennen keine konkreten Zahlen, zeigen sich Öffentlichkeit und politische Entscheider ebenso enttäuscht, da man sich eindeutige Erkenntnisse von der Ökonomie erhofft hatte. Da ökonomische Expertise heute immer häufiger verlangt wird, erscheint das Dilemma bei Ökonomen besonders ausgeprägt, jedoch auch Vertreter anderer Fachgebiete stecken regelmäßig in dieser Zwickmühle. Von einer vollkommen anderen institutionellen Ausprägung der Expertise wurde von ELLEN HERTZ (Neuchâtel) aus der Schweiz berichtet. Dort zielten Bestrebungen in einem bestimmten Sachverhalt darauf ab, eine sogenannte „Expertise von unten“ zu schaffen, sprich auf breiter Ebene die Öffentlichkeit nach ihrer Meinung in einem bestimmten Sachverhalt zu fragen. Ein denkbares Problem hierbei war, dass man aufgrund der zu erwartenden Vielzahl an Ansichten keinen beschlussfähigen Konsens erreichen oder gar keine Ansichten erhalten würde. Des Weiteren sei eine „Expertise von unten“ schwer herzustellen, sondern müsse sich idealerweise natürlich ergeben. Ganz egal wie Expertise in der heutigen Zeit ausgeübt wird, es blieb zum Abschluss des zweiten Abschnitts von GEORGINA BORN (Oxford) in ihrem Vortrag festzuhalten, dass mitunter Experten auch Sachverhalte analysieren würden, für die sie überhaupt nicht die nötige fachliche Qualifikation haben. Deutlich machte sie dies an Produktionsbedingungen kulturellen Schaffens, bei denen mitunter die Ansprüche der kulturell Schaffenden denen des Managements gegenüberstünden.

Der letzte Abschnitt widmete sich Möglichkeiten, wie man die geschilderten Probleme der sozialen Formen und institutionellen Rahmenbedingungen von Expertise bereinigen und die wissenschaftliche Expertise wieder angesehen und wirkungsvoll in Demokratie und Gesellschaft machen könne. Einen entscheidenden Punkt sah DON BRENNEIS (Santa Cruz) in der Frage, wie man angesichts des Informationszeitalters eine durchgehend hohe Qualität der anthropologischen, aber auch der wissenschaftlichen Publikationen im Allgemeinen, sicherstellen könnte. Einen Angriffspunkt stellte nach Brenneis das in der Wissenschaft weit verbreitete Review-Verfahren dar. Das so genannte Peer-Review-Verfahren würde zudem durch bibliometrische Methoden ergänzt, etwa die Erfassung der Häufigkeit von Zitationen einer Publikation. Unter Umständen werden jedoch nicht alle Publikationsformen erfasst. Ein quantitativ höherer Output könne so auf Forschungsleistungen hindeuten, die die Qualität der Forschungsleistung letztlich jedoch nicht einlösen kann. Wie die fragliche Publikation in den erfassten Zitationen bewertet wird, bleibt mitunter unberücksichtigt. Eine Beurteilung der wissenschaftlichen Qualität einer Publikation durch unabhängige Fachkollegen kann andererseits zur Folge haben, dass andere oder neue, von der vorherrschenden Lehrmeinung abweichende, Ansichten weniger Chancen haben sich zu etablieren. Weiter ist es auch nicht immer hilfreich, seinen Expertenstatus offen zu zeigen, wie SUMMERSON CARR (Chicago) in ihrem Vortrag referierte. Im Falle des Motivational Interview, einem klientenzentrierten direktiven Ansatz der Gesprächsführung zur Erhöhung der Eigenmotivation von Menschen, sei dies sogar ein Grund dafür, dass die Methode scheitern könne. Motivation und Erkenntnis müssten allein vom Patienten ausgehen. In diesem Zusammenhang ist Expertise also etwas, dass der Wissenschaftler verstecken oder geschickt verpacken müsse, um seine Ziele zu erreichen. An dieser Stelle wies Carr somit im Grunde wieder auf die Bedeutung der Performance im Zusammenhang mit Expertise hin.

Zuletzt wurde von TESS LEA (Sydney) ein Blick auf die Möglichkeiten der Implementierung einer guten Infrastrukturpolitik am Beispiel abgelegener, australischer Regionen geworfen. Die Koexistenz von Eingeborenen und Siedlern in den von Lea betrachteten Regionen mache ein solches Vorhaben etwa im Bereich der Infrastruktur, aber auch in vielen anderen Bereichen, nahezu unmöglich, da sich die politische Entscheidung immer auf die Lebensumstände einer der beiden Gruppen auswirken würde. Auch die wissenschaftliche Expertise müsste der Koexistenz beider Gruppen Rechnung tragen, was ihr, ähnlich wie der Politik, nur bedingt gelingen dürfte und eine erfolgversprechende Expertise somit erschwert.

Hinsichtlich des Stellenwerts der wissenschaftlichen Expertise kristallisierte sich in der abschließenden Diskussion immer stärker heraus, dass im Grunde zu viel Wert auf wissenschaftliche Expertise gelegt wird und dabei die Bedeutung der Lehre, neben der Forschung ein wichtiger Bestandteil der Universitäten, mitunter in der Ansicht von innen als auch von außen unterschätzt wird. Angesichts des großen Bedarfs nach Expertise übertragen sich immer stärker Merkmale der Industrie auf die Wissenschaft und umgekehrt. Während die Industrie vereinzelt lockerer und kommunikativer zu werden scheint, funktionierte die Wissenschaft zuletzt mehr wie eine Industrie, die Absolventen, und damit potentielle Experten, sowie Publikationen regelrecht produziert. Einen großen Beitrag zu dieser Entwicklung leistet die von Boyer beobachtete Annäherung bei den Arbeitsabläufen von Wissenschaftlern und modernen Journalisten und ebenso die Ausführungen von Brenneis zu den Problemen mit heutigen, stärker quantitativ operierenden Review-Verfahren. Anthropologen und Wissenschaftler generell dürften sich zwar nicht den technologischen Errungenschaften der letzten Jahre verschließen, sollten aber dennoch ihre Eigenheiten in der Art und dem Tempo der Generierung neuen Wissens beibehalten. Für die Anthropologie als Lehre vom Menschen gilt insbesondere, dass sie den Umgang der Gesellschaft mit dem Internet und sozialen Medien noch stärker zum Forschungsgegenstand erheben müsste, da sie wie keine zweite Disziplin aufgrund ihrer wissenschaftlichen Ansätze und Methoden dazu geeignet scheint, anstatt diese neuartigen Technologien lediglich in ihren Arbeitsalltag zwecks Produktion von Expertise zu integrieren.

Konferenzübersicht:

Introduction

I. The social forms of expertise

Andre Gingrich (Wien): The “Wild” and the Anthropologist

Graham Jones (Cambridge): Entertainment Magic as a Culture of Expertise

Dominic Boyer (Houston): Digital Expertise in News Journalism and Anthropology

Stefan Beck (Berlin): Ecologies of Expertise

II. Institutional frameworks

Dorothy Noyes (Columbus): Title tba

Kilian Bizer (Göttingen): Exploring Expertise – The Economics of Expertism

Ellen Hertz (Neuchâtel): Who says anthropologist don’t use experimental methods? “Expertising” intangible cultural heritage

Georgina Born (Oxford): What is a properly anthropological analysis of expertise, 25+ years after Anthropology as Cultural Critique?

III. Revising and fixing expertise

Don Brenneis (Santa Cruz): Crowds, Clouds and Conversations: Deliberating Peer Review

Summerson Carr (Chicago): Disavowal, Dissemination and the Cultivation of Clinical Expertise

Tess Lea (Sydney): Can there be good policy? Or is this a wrong-headed faith in the idea of expertise?

Concluding Discussion


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