Neue soziale Bewegungen als Herausforderung sozialkirchlichen Handelns. Zur Neuformatierung der Zivilgesellschaft seit dem Ende der 1960er-Jahre

Neue soziale Bewegungen als Herausforderung sozialkirchlichen Handelns. Zur Neuformatierung der Zivilgesellschaft seit dem Ende der 1960er-Jahre

Organisatoren
Traugott Jähnichen / Wilhelm Damberg, Ruhr-Universität Bochum; in Verbindung mit der DFG-Forschergruppe „Transformation der Religion in der Moderne. Religion und Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“
Ort
Bochum
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.09.2012 - 07.09.2012
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Von
Katharina Kunter / Thomas Mittmann, Ruhr-Universität Bochum

Die 1960er-Jahre gelten als Zeit tiefgreifenden und beschleunigten Wandels, von dem die christlichen Großkirchen in der Bundesrepublik in vielfältiger, wenn auch durchaus ambivalenter Weise betroffen waren. Während sich die katholische Amtskirche und die Evangelische Kirche trotz aller Reformbemühungen mit einem zunehmenden Mitglieder- und auch einem gesellschaftlichen Bedeutungsverlust konfrontiert sah, konnten die beiden konfessionellen Wohlfahrtsverbände Caritas und Diakonie ihre seit dem BSHG von 1961 herausgehobene Position im Gefüge des Sozialstaates weiter ausbauen. Doch auch sie mussten auf neue Herausforderungen reagieren, speziell durch das Aufkommen neuer sozialer Bewegungen. Diese stellten konfessionelle Identitäten und soziale Traditionen grundsätzlich in Frage. An welchen Stellen es hier Konflikte, aber auch Weiterentwicklungen und Transformationen gab, die auch zu einem neuen zivilgesellschaftlichen Selbstverständnis führten, sollte an ausgewählten historischen Fallbeispielen auf der Konferenz diskutiert werden.

Zur Eröffnung der Tagung wies WILHELM DAMBERG (Bochum) auf die Ergebnisse der Bochumer Forschergruppe „Transformation der Religion in der Moderne“ hin, womit die Religionsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland in den “langen 1960er-Jahren” nun anhand zahlreicher Konkretisierungen und Tiefendimensionen sachgemäßer geschrieben werden könne. TRAUGOTT JÄHNICHEN (Bochum) erläuterte, dass sich in der zweiten Hälfte ein genereller gesellschaftlicher Wandel vollzogen habe, in dessen Folge traditionelle Werte zunehmend kritisiert wurden. In Reaktion darauf zogen sich die Kirchen aber nicht nur zurück, sondern passten sich durch grundlegende Veränderungsleistungen an, bzw. gaben selbst Impulse für gesellschaftliche Modernisierungsprozesse. Diese Entwicklungen am Beispiel der Interaktionen zwischen den Kirchen und den neuen sozialen Bewegungen in der Zivilgesellschaft deutlich zu machen, war Anliegen der Tagung.

Mit den beiden Eröffnungsvorträgen von JAMES KENNEDY (Amsterdam) und PAUL NOLTE (Berlin) wurden zunächst die größeren historischen Zusammenhänge in Europa, in den USA und in der Bundesrepublik in den Blick genommen. James Kennedy verglich modellhaft die Beziehungen der Kirchen zu den neuen „postmateriell“ ausgerichteten sozialen Bewegungen in den USA, in den Niederlanden und in der Bundesrepublik Deutschland. Er unterstrich die unterschiedlichen Verständnisse von „Kirche“ und die damit verbundenen verschiedenen Vorstellungen des Beziehungsgeflechts der christlichen Institutionen zur Zivilgesellschaft. Kennedy plädierte dafür, deutlicher zu analysieren, welche neuen sozialen Bewegungen welche Impulse in welchen Staaten hatten, welche Rolle sie dort für Religion und Zivilgesellschaft spielten und wie sich der Dualismus von etablierten Akteuren und „Newcomern“ auswirkte. Paul Nolte unterschied drei Phasen der Entwicklung der „religiös-kirchlichen Zivilgesellschaft“ in der Bundesrepublik Deutschland, die jeweils durch „hemmende“ und „fördernde“ Faktoren charakterisiert seien. In der zweiten, „dynamischen Phase“, von den 1970er- bis zu den 1990er-Jahren, hätten sich die christlichen Kirchen von ihrer Staatsorientierung abgekoppelt. In der dritten, „postsäkularen Phase“, die von 1990 bis heute andauere, seien die Kirchen selbst zum Gegenstand zivilgesellschaftlicher Konflikte geworden.

Die in beiden Vorträgen vorgenommenen großen Deutungslinien wurden an den folgenden Tagen an thematischen Fallbeispielen vertieft. So ging es in der Sektion I um die neue Frauenbewegung als Herausforderung des Frauenbildes sozialkirchlicher Dienste. Zunächst skizzierte JULIA PAULUS (Münster) die Verunsicherungen, die die neue, sich selbst explizit als ‘autonom’ definierende Frauenbewegung mit ihrer Forderung nach einer Politisierung auch des Privaten für die traditionellen katholischen Frauenverbände bedeutete. Unter der Überschrift “ ‘Da muss man doch was machen!’ Bewegungsgründe von Frauenprotestformen in der Provinz (1970-1990)” zeigte sie u.a. an den seit Mitte der 1970er-Jahren gegründeten Frauenhäuser grundsätzliche programmatische Differenzen zwischen den katholischen Frauenverbänden und den feministischen Studentinnen auf. ROSEL OEHMEN-VIEREGGE (Bochum) hob in ihrer Untersuchung über die Frauenleitbilder des Sozialdienstes katholischer Frauen in den 1960er- und 1970er-Jahren aber auch die unerwartete Modernität in diesem kirchlichen Frauenverband hervor, dessen Rollenbilder und Verständnis von Geschlechterverhältnissen in der Familie aufgrund der sozialen Arbeit an der Basis in vielen Aspekten sehr viel fortschrittlicher war als das gesellschaftspolitische Meinungsbild in der Bundesrepublik. Einen anderen Ansatz präsentierte dann NINNA EDGARDH (Uppsala), die am Beispiel der schwedischen Stadt Gävle eine genderkritische Betrachtung von Esping-Andersons Konzept der „Welfare Regimes“ vorlegte und fragte, inwiefern Kirche und Wohlfahrtsstaat nicht auch als „Genderregime“ betrachtet werden können, weil sie auf der größtenteils von Frauen geleisteten Hilfe und Solidarität aufbauen.

Die Sektion II mit dem Titel „Von der Betreuung zur Selbsthilfe“ thematisierte die Umbrüche in der Behindertenpolitik, die paradigmatisch das sozialkirchliche Handeln der Kirchen veränderten. ELSBETH BÖSL (München) betonte die kulturalistische Definition von Behinderung, welche auf die soziale Zuschreibung des Behindertseins abhebt. Erst der Conterganskandal Anfang der 1960er-Jahre und schließlich eine Kritik an gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen in den 1970er-Jahren veränderte den Blick der Arbeitsgesellschaft auf Behinderung weg von der „Rehabilitation“ hin zu einer Diskussion über Lebensqualität. Dabei frug eine selbstbewusst auftretende Behindertenbewegung die Herstellung von Behinderung durch konfessionelle Verbände ebenso an wie auch konfessionelle Akteure als engagierte Experten darin auftraten.

Ähnlich beschrieb JOHAN SMIT (Utrecht) die Entwicklung der Behindertenbewegung in den Niederlanden unter anderem am persönlichen Beispiel eines Freundes. Seit den 1960er-Jahren kam es zu einem Wechsel von großen Anstalten zu kleinen Wohnprojekten für Familien- und Kleingruppen sowie zu einer Vielzahl von Unterstützungsvereinen, in denen auch verschiedene Theologen sowohl der Leitungen der Kirche wie der Gemeinden engagiert waren. Dennoch haben die Kirchen seiner Ansicht nach bis heute nicht gelernt, inklusiv zu denken.

HANS-WALTER SCHMUHL (Bielefeld) konkretisierte den veränderten Blick in der Diakonie auf Menschen mit (geistiger) Behinderung. Ging es seit Mitte des 19. Jahrhunderts darum, die als nicht erziehbar und damit ebenso als nicht konfirmierbar angesehenen „Kinder“ zum rechten Glauben in Herstellung einer „sittlichen Selbstverantwortung“ zu bringen, so veränderte sich unter den neuen rechtlichen Rahmensetzungen die Wahrnehmung hin zu einem Klientenverhältnis in den 1970er-Jahren.

Anschließend leitete DIRK SCHUMANN (Göttingen) mit einem Vortrag zum Umgang mit jugendlichen Delinquenten in den Vereinigten Staaten die Sektion III über die Umbrüche in der Heimerziehung ein. Im Mittelpunkt standen die Juvenile Justice Courts. In den 1960er-Jahren wurden diese so reformiert, dass von nun an strafende Bestandteile hinter die zu behandelnden Aspekte zurück traten. Diese Reformen waren freilich das Resultat eines Expertendiskurses zwischen Juristen und Pädagogen, und nur höchst mittelbar von den Neuen Sozialen Bewegungen beeinflusst. Die 1970er-Jahre sahen in der Heimerziehung in den USA keinen so gravierenden Einschnitt wie in der Bundesrepublik.

Die anschließenden beiden Vorträge beschäftigten sich mit Entwicklungen in Deutschland. Das Referat von ANDREAS HENKELMANN (Bochum) zeigte am Beispiel des Deutschen Jugendhilfetages, dass die Caritas nicht nur die Integration von Kirche in die Gesellschaft unterstützte, sondern sich auch umgekehrte Entwicklungen beschreiben lassen. Vor allem auf dem Jugendhilfetag von 1970 wurde deutlich, dass eine Verständigung kaum mehr möglich war, da die „Sozialistische Aktion“ mit Forderungen wie der vollständigen Entkonfessionalisierung der Vorschul- und Heimerziehung sich nicht mehr in den bestehenden Konsensrahmen einbinden ließ.

UWE KAMINSKY (Bochum) referierte über Wandlungen im Feld der evangelischen Heimerziehung angesichts des Veränderungsdrucks durch die APO und die linke Sozialarbeitsbewegung, die sich insbesondere auf dem Jugendhilfetag 1970 in Nürnberg manifest zu Wort meldete. Die reformwilligen evangelischen Vertreter nutzten den 'linken' Rückenwind, um in Form einer Denkschrift neue konzeptionelle Vorgaben zu machen. Deren Realisierung in einer heimerzieherischen Praxis erfolgte allerdings in den 1970er-Jahren nur rudimentär, was gerade in Einrichtungen für weibliche Schulentlassene belegbar ist.

Den Tagungstag beschloss eine Zeitzeugenrunde, an welcher der stark von der lateinamerikanischen Befreiungstheologie beeinflusste Pfr. Norbert Arntz, Prof. Dr. Günter Brakelmann, der als Theologe enge Beziehungen zu den alten sozialen Bewegungen, speziell zu den Gewerkschaften, unterhielt, die Südafrika-Boykottfrau Ursula Trautwein und der Mitbegründer der Zeitschrift “Publik Forum” Heinz-Wilhelm Brockmann teilnahmen.

In der Sektion IV am Freitag morgen ging es schließlich um die internationale Ebene der Ökumene, und inwiefern hier seit den 1970er-Jahren Impulse für die Herausbildung einer weltweiten Zivilgesellschaft ausgingen. KATHARINA KUNTER (Bochum) stellte am Beispiel der 1972 erfolgten Gründung des Steering Commitees for Humanitarian Response dar, wie sich zu Beginn der 1970er-Jahre die wichtigsten Player in der Katastrophenhilfe zusammenschlossen und wie selbstverständlich dabei auch die drei christlichen Hilfsorganisationen (Caritas Relief, Lutheran World Federation und World Council of Churches) mit säkularen Hilfsorganisationen wie der International Federation of Red Cross, die Red Crescent Societies und Oxfam zusammenarbeiteten. SEBASTIAN TRIPP (Bochum) widmete sich in seinem Vortrag christlichen Anti-Apartheid-Gruppen in der Bundesrepublik. Am Beispiel der Boykottaktion „Kauft keine Früchte aus Südafrika“ der Evangelischen Frauenarbeit in Deutschland illustrierte er, wie die Unterstützung von Befreiungsbewegungen im südlichen Afrika dazu beitrug, dass sich Einflüsse der neuen Frauenbewegung und der feministischen Theologie in den Evangelischen Frauenverbänden weiter verbreiteten. Der dritte Referent in dieser Sektion, PETER VAN DAM (Amsterdam), der über Fair Trade in den Niederlanden referieren sollte, musste leider kurzfristig absagen, wird seinen Beitrag aber für den Tagungsband einreichen. In der Auswertung orientierte sich Traugott Jähnichen an dem von Nolte vorgeschlagenen Phasenmodell der bundesdeutschen Zivilgesellschaft. Seit Mitte der 1960er-Jahre entstanden zahlreiche neue Initiativen und Gruppen, die zu einer Internationalisierung, Pluralisierung und gesellschaftskritischen Politisierung des Protestantismus führten. Der Protestantismus wurde wie kaum eine andere gesellschaftliche Großorganisation von diesen Impulsen der neuen sozialen Bewegungen durchdrungen.

Das Referat von Wilhelm Damberg unterschied drei Entwicklungsperioden für den Katholizismus. Nach der ersten Phase, die bis in die 1960er-Jahre reichte und in dessen Zentrum die Hierarchie stand, führte das Zweite Vatikanische Konzil zu tiefgreifenden Wandlungsprozessen. Der Zugewinn des Individuums an Autonomie und die damit verbundene Pluralität zeigte sich nach außen beispielsweise 1969 in Wählerinitiativen einzelner Katholiken für die SPD. Gleichzeitig kam es zur Bildung einer innerkirchlichen Zivilgesellschaft, was auf dem Essener Katholikentag von 1968 erstmals deutlich erkennbar wurde.

In der abschließenden Diskussion wurden vor allem zwei Aspekte erörtert: a) die Notwendigkeit einer genaueren zeithistorischen Definition der Zivilgesellschaft sowie die Frage nach der Plausibilität bisher vorliegender Periodisierungen (auch im Hinblick auf Genderperspektiven) und b) die genauere Bestimmung des Einflusses der neuen Sozialen Bewegung im Kontext des sozialkirchlichen Engagements der Kirchen. Der Tagung gelang es, unter der Fragestellung Zivilgesellschaft-Soziale Bewegungen-Sozialkirchliches Handeln häufig vereinzelte Forschungsgebiete zusammenzuführen und in eine gemeinsame Untersuchungsperspektive einzubinden. Dabei wurde jedoch auch deutlich, dass viele grundlegende Bereiche (z.B. kirchliche Behindertenarbeit oder humanitäres Engagement) noch nicht einmal in Ansätzen historisch repräsentativ erforscht sind.

Konferenzübersicht:

James Kennedy (Amsterdam): Staat, Zivilgesellschaft, Religion und Sozialsysteme in Europa nach 1945

Paul Nolte (Berlin): Vorreiter oder Verlierer? Die Kirchen in den Umbrüchen der westdeutschen Zivilgesellschaft seit den 1960er-Jahren

Panel 1: Die Neue Frauenbewegung als Herausforderung des Frauenbildes sozialkirchlicher Dienste

Julia Paulus (Münster): „Da muss man doch was machen!“ Bewegungs-Gründe von Frauenprotestformen in der Provinz (1970-1990)

Rosel Oehmen-Vieregge (Bochum): Frauen helfen Frauen – Das Frauenleitbild des Sozialdienstes katholischer Frauen in den 1960er- und 1970er-Jahren

Ninna Edgardh (Uppsala): Welfare, religion and gender – Scandinavian experiences in a European perspective

Panel 2: Von der Betreuung zur Selbsthilfe: Umbrüche der (kirchlichen) Behindertenpolitik in Europa im Vergleich

Elsbeth Bösl (München): Transformationen und Konflikte in der politischen Behindertenpolitik der Bundesrepublik Deutschland seit den 1950er-Jahren

Johan Smit (Utrecht): Herausforderung für Kirche und Theologie: Die Behindertenbewegung in den Niederlanden seit den 1960er-Jahren

Hans-Walter Schmuhl (Bielefeld): Aus „Kindern“ werden „Klienten“. Der veränderte Blick der Diakonie auf Menschen mit (geistiger) Behinderung seit den 1960er-Jahren

Panel 3: „Neue Konzepte, alte Akteure“? – Die konfessionellen Wohlfahrtsverbände und die Umbrüche der Heimerziehung

Dirk Schumann (Göttingen): Von der Strafe zur „Behandlung“ (und zurück?). Der Umgang mit delinquenten Jugendlichen in den USA von den 1960er- bis zu den 1980er-Jahren

Uwe Kaminsky (Bochum): Die Diakonie im Angesicht des „Paukenschlages“ – Reformüberlegungen zur Heimerziehung nach 1968

Andreas Henkelmann (Bochum), „Der Konflikt ist da!“ – Der caritative Katholizismus und die Deutschen Jugendhilfetage der 1970er-Jahre

Zeitzeugengespräch: Die Kirchen und die Aufbrüche der alten und neuen sozialen Bewegungen in den 1970er-Jahren: Norbert Arntz / Günter Brakelmann, Ursula Trautwein, Heinz-Wilhelm Brockmann

Panel 4: Die christliche Ökumene und die Herausbildung einer weltweiten Zivilgesellschaft

Katharina Kunter (Bochum): Herausforderung UNO und globale humanitäre Hilfe: Die Gründung des Steering Committee for Humanitarian Response (SCHR) 1972

Sebastian Tripp (Bochum): Die globale Zivilgesellschaft in der Gemeinde: Christliche Anti-Apartheid Gruppen als gelebte Ökumene

Peter van Dam (Amsterdam): Handel im Tempel? Fair Trade in den Niederlanden seit 1945

Wilhelm Damberg/ Traugott Jähnichen: Thesen zur Neuformatierung des Religiösen während der „langen 1960er“-Jahre


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