Religion und Nation

Organisatoren
Urs Altermatt und Franziska Metzger
Ort
Fribourg
Land
Switzerland
Vom - Bis
30.04.2004 - 01.05.2004
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Von
Franziska Metzger, Universität Freiburg/Schweiz

Zwar kann mit Pierre Nora in Bezug auf das 19. und 20. Jahrhundert die Nation als "stärkste unserer kollektiven Traditionen" und als "unser Gedächtnismilieu par excellence" bezeichnet werden und ebenso wurde die Zugehörigkeit zu einem Nationalstaat und seiner Kultur zum entscheidenden Inklusions- und Exklusionsfaktor moderner Gesellschaften, doch verschwand damit der religiöse Faktor keinesfalls aus dem Kräftefeld von Gesellschaft, Staat und Nation. So wirkte auch der Katholizismus in verschiedenen Ländern in unterschiedlicher Weise auf die Herausbildung des Nationalstaates. Es zeigten sich unterschiedliche Verhältnisse der Definition religiöser und weltanschaulich-konfessioneller sowie nationaler bzw. nationalstaatlicher Identitäten, unterschiedliche Prozesse konfessioneller und nationaler Inklusion und Exklusion und verschiedene Modelle der Partizipation am liberalen Nationalstaat.

Mit solchen Fragenkomplexen setzte sich in komparativer Perspektive ein von Prof. Urs Altermatt und lic. phil. Franziska Metzger organisiertes internationales Kolloquium am 30. April und 1. Mai an der Universität Fribourg/Schweiz auseinander, auf dem elf Spezialisten der Katholizismus- und Nationalismusforschung referierten. Nach zwei einführenden Vorträgen zu möglichen Modellen und Zugängen zu Religion und Nation sowie den methodischen Fragen verschiedner kultur- und sozialgeschichtlicher Ansätze folgten die Hauptreferate zum Verhältnis von Katholizismus, Nation und Staat in den Niederlanden, in Belgien und Frankreich, in Italien und Spanien, in Deutschland und der Schweiz, in Ungarn und den böhmischen Ländern bzw. in der Tschechoslowakei. Diese wurden jeweils durch kurze Impulsreferate in die Diskussion übergeleitet. Die Tagung wurde durch den Hochschulrat der Universität Freiburg und die Schweizerische Akademie für Geistes- und Sozialwissenschaften unterstützt.

In seinem einführenden Referat präsentierte URS ALTERMATT (Fribourg) theoretische Modellideen, die eine Systematisierung des Verhältnisses von Katholizismus und Nation in vergleichender Perspektive beabsichtigten, und die in den Länderbeiträgen des Kolloquiums dann verschiedentlich aufgegriffen und diskutiert wurden. Über die von der Nationalismusforschung in den letzten Jahren immer wieder thematisierte Sakralisierung der Nation hinausgehend legte Altermatt den Fokus auf die vielschichtige Komplexität des Verhältnisses von Religion und Nation. Dabei räumte er kultur- und sozialgeschichtlichen Fragen nach der "Konfessionalisierung der Nation und der Nationalisierung religiöser Diskurse" vor dem Hintergrund einer "Pluralität synchroner und diachroner Gesellschaftsbeschreibungen" (Altermatt) zentralen Raum ein.

Auch OLIVER ZIMMER (Durham/Tübingen) ging in seinem auf methodische Fragen konzentrierten Referat von der Nation als einer gruppenspezifischer Konstruktion und "kompetitivem Prozess" (Zimmer) aus. Zimmer plädierte für den verstärkten Einbezug eines erfahrungsgeschichtlichen Ansatzes in der Nationsforschung. Ein solcher könne methodisch am besten in regional- bzw. städtegeschichtlicher Perspektive verfolgt werden, wobei, so Zimmer, vermehrt die komplexen Interaktions- und Aushandlungsprozesse der Konstruktion nationaler und konfessioneller Identitäten sowie die Erfahrung ihrer "institutionellen Realität" (Zimmer) zu analysieren seien.

In den vier Vorträgen zu mehrheitlich katholischen Ländern wurden Fragen hinsichtlich kontroverser Positionen zwischen Kirche und Staat, Laizismus und Traditionalismus thematisiert; konfliktiv-exklusive und konvergierende Situationen zeigten sich dabei als stark von der jeweiligen politischen und soziokulturellen Situation bestimmt.

EMIEL LAMBERTS (Leuven) verfolgte in seinem Vortrag Thesen zum Verhältnis von Katholizismus, Nation und regionalen Nationalismen in Belgien. Er demonstrierte, dass die Kirche seit dem 18. Jahrhundert zu einem der zentralen Mobilisierungsfaktoren des belgischen nation-building geworden war, wobei die Kirche auch an der Herausbildung des Staates wesentlich beteiligt gewesen sei. Im Unterschied zu anderen europäischen Ländern, wurde die enge Verbindung von Kirche und Staat in Belgien erst seit den 1840er Jahren und besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch liberal-antiklerikale Regierungen zurückgedrängt, wobei aber bereits seit der Wende zum 20. Jahrhundert der Katholizismus bzw. die katholische Partei und ihr Milieu wieder zur politisch und kulturell-national bestimmenden Macht wurden.

FRANCIS PYTHON (Fribourg) demonstrierte, wie es sich auch im Falle Frankreichs um ein komplexes, mehrdimensionales Verhältnis von Katholizismus bzw. Kirche und Nation handelte. Python widmete sich primär den Interaktionen zwischen den "deux Frances", dem republikanisch-laizistischen und dem katholisch-traditionalistisch-royalistischen Frankreich. Das komplexe Verhältnis zwischen diesen differenzierte er aus kulturgeschichtlicher Perspektive indem er ein Spektrum zwischen absoluter Opposition auf der einen und Transfer von Werten bzw. Integration im Sinne von Überlagerung nationaler und religiöser Diskurse auf der anderen Seite eröffnete. Dabei gelangte Python zum Schluss, dass sich im französischen Diskurs über die Nation das Integrationsmodell seit Anfang des 20. Jahrhunderts durchgesetzt hätte, was gerade über die symbolisch-integrative Konstruktion der Nation als "union sacrée" geschehen sei.

Im Zentrum der Ausführungen von CARLO MOOS (Zürich) über das komplexe Verhältnis von Kirche, Staat und Nation im mehrheitlich katholischen Italien stand die These, dass die durch das Risorgimento hervorgerufene starke Gegnerschaft zwischen Kirche und Staat einen der wichtigsten Gründe für das Scheitern des "nation-building" und des bis heute schwach ausgebildeten Staatsbewusstseins in Italien darstellte. Moos zeigte auf, wie das Verhältnis zwischen Kirche und Staat in Italien von einer starken Ablehnung der Kirche gegenüber dem italienischen Staat in eine "provisorische Symbiose" (Moos) seit der Wende zum 20. Jahrhunderts überging. Diese fand in der konsensualistischen Politik der Katholiken im faschistischen Italien ihre Fortsetzung. Interessant ist in diesem Zusammenhang gerade das Spannungsverhältnis zwischen Katholizismus, säkularisierter faschistischer Religion und Sakralisierung der Politik durch das faschistische Italien.

Im Mittelpunkt von MARIANO DELGADOS (Fribourg) Vortrag standen zum einen die politisch-philosophischen Diskurse der katholischen Traditionalisten des 19. Jahrhunderts, die für Spanien eine Symbiose von Religion und Nation verfolgten und "eine messianische Sicht der spanischen Geschichte" (Delgado) konstruierten. Zum anderen behandelte Delgado die Ideologie der liberalen Laizisten, die die Symbiose von Religion und Nation in der spanischen Geschichte für einen fatalen Irrtum hielten. In einem zweiten Teil des Referats zeigte Delgado drei historiographische Tendenzen der Verbindung von Religion und Nation im Spanien des 19. und 20. Jahrhunderts auf: eine erste, exklusiv-katholische, eine zweite, die die Konvivenz der drei abrahamitischen Religionen als identitätskonstituierenden Faktor betrachtete, und eine dritte, welche die Aufhebung der Gegensätze zwischen den "zwei Spanien" intendierte.

In den fünf Referaten zu gemischtkonfessionellen Ländern standen Fragen der kompetitiven Konstruktion der Nation, deren Versprachlichung (Weichlein) ebenso wie die Konvergenz mit den nationalen Mehrheitsdiskursen und die Integration der Katholiken in den Nationalstaat zur Debatte.

THEO SALEMINK (Utrecht) knüpfte in seinem Beitrag zu den Niederlanden an im Rahmen von Milieutheorien aufgestellte Modelle zur Ambivalenz des Verhältnisses zwischen Katholizismus und moderner Gesellschaft an. Er stellte die These einer paradoxen katholischen Modernisierung auf, welche sich gerade hinsichtlich des Verhältnisses der Katholiken zu Nationalstaat und Demokratie gezeigt hätte. Trotz der religiös-antiliberalen, ultramontanen Wendung des niederländischen Katholizismus seit den 1860er Jahren akzeptierte dieser den demokratischen Rechtsstaat und partizipierte an diesem, unterschied also zwischen Liberalismus und Demokratie als politischem System und Liberalismus und Demokratie als Weltanschauung (orthodoxe Modernisierung). Salemink erklärt sich dieses "doppelte Paradigma" nicht zuletzt mit der doppelten Betrachtung der Wirklichkeit durch die Neuscholastik. Es ist denn gerade die Beobachtung der Integration der Katholiken in den Staat auf der einen und der Weiterexistenz des antimodernistischen orthodoxen Paradigmas auf der anderen Seite, welche Salemink auch als ergiebig für die aktuelle Diskussion über die Beurteilung des Islams in Europa präsentierte.

Eine in mehrfacher Hinsicht konzeptionelle Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung der Untersuchung des Verhältnisses des deutschen Katholizismus zu Nation und Staat präsentierte SIEGFRIED WEICHLEIN (Berlin/Köln). Er fokussierte zum einen auf die Versprachlichung der Nation im katholischen Milieu und unterschiedliche Definitionen eines eigenen katholischen, großdeutschen Nationalbegriffes. Des Weiteren hob Weichlein die Überlagerung der katholischen Kritik am Nationalstaat mit anderen, "regionalen und sozialen Interessenlagen" (Weichlein) und kulturellen Identifikationen hervor. Er zeigte auf, wie nicht nur die Konstruktion eines eigenen Nationalbegriffes für die deutschen Katholiken identitätsbildend wirkte, sondern insbesondere auch deren aktive Partizipation an für sie handlungsfähigen Ordnungsmodellen. Weichlein plädierte für die Unterscheidung der Souveränitätsfrage sowie der ethisch-religiösen Dimension als zentrale Kategorien bei einer differenzierten Analyse des komplexen Verhältnisses des deutschen Katholizismus zu Nation und Staat.

Ausgehend von der These der Beteiligung verschiedener Kommunikationsgemeinschaften an der Konstruktion der schweizerischen Nation in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stellte FRANZISKA METZGER (Fribourg) die Frage nach dem Verhältnis konfessioneller und nationaler Identitätskonstruktion, besonders nach der Überlagerung religiöser bzw. konfessioneller und nationaler Diskurse in den Geschichtskonstruktionen einer breiten Erinnerungskultur. Ausgehend von der These paralleler identitätsbildender Mechanismen der Konstruktion von Geschichte und Erinnerung im nationalen und katholischen Diskurs zeigte sie, wie sich das katholische Milieu als Erinnerungsgemeinschaft in Konkurrenz, Interrelation und Überschneidung mit den nationalen Masternarrativen definierte.

Die Konfessionalisierung des ungarischen nationalen Diskurses zwischen 1848 und 1948 stand im Zentrum von ÁRPÁD VON KLIMÓS (Bremen) Ausführungen. Er zeigte auf, wie die konfessionelle Prägung sich überlagernder und konkurrenzierender Nationsdefinitionen in Ungarn durch verschiedene Konfliktlagen verstärkt und politisiert wurden. Dabei hätte die Frage nach dem Verhältnis zwischen ungarischer Nation und Habsburg für die Zeit bis 1918 den "wichtigsten symbolischen Kampfplatz" (Klimó) dargestellt. In seiner kulturgeschichtlichen Analyse zeigte Klimó diese Mechanismen nicht nur an der Konfessionalisierung von Geschichtsdiskursen auf, sondern demonstrierte auch, wie gerade auch die Topographie Buda-Pests die Konfessionalisierung des ungarischen Nationalismus spiegelte. Das Zeitalter von Nation und Nationalismus von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts kann - so die These Klimós -, was die konfessionell-konfliktive Konstruktion der Nation und dominierender nationaler Narrative betrifft, denn auch als "konfessionelles Zeitalter" Ungarns bezeichnet werden.

In dem Referat von MARTIN SCHULZE WESSEL ging es um die Zusammenhänge zwischen der tschechischen Nationalbewegung und den Konfessionen in den böhmischen Ländern. Da sich der Entwurf der modernen tschechischen Nation seit der Geschichtsschreibung Frantisek Palackýs auf die Erinnerung an die tschechische Reformation und namentlich Jan Hus stützte, entstand seit der Revolution von 1848 ein Spannungsverhältnis zwischen der tschechischen Nationalbewegung und der katholischen Kirche. Letztere - zunehmend als eine Stütze der zentralistischen Habsburgermonarchie erachtet - wurde, obwohl sie die Mehrheitskonfession repräsentierte, in eine minoritäre Lage gedrängt. Erst in der ersten Tschechoslowakischen Republik, in der das laizistische Verständnis der tschechischen Nationalbewegung einen offiziellen Rang erhielt, formierte sich auch der Katholizismus wirkungsvoll mit nationalem Anspruch.

Die Fribourger Tagung näherte sich in bewusster Verbindung kultur- und sozialgeschichtlicher Ansätze und in einer komparativen Perspektive auf Länder West- und Mitteleuropas der Komplexität des Verhältnisses von Katholizismus, Nation und Staat im 19. und 20. Jahrhundert. Die Analyse von Prozessen der Interaktion nationaler und konfessioneller Kommunikationsgemeinschaften, von Mechanismen des Verhältnisses nationaler und religiöser bzw. konfessioneller Identitätskonstruktion sowie der Integration der Katholiken in der modernen Gesellschaft und dem Nationalstaat wurde besonders durch den Diskurs- und Handlungsebene verbindenden Approach der Beiträge und den synchronen und diachronen Vergleich gefördert.

Die Veröffentlichung der Kolloquiumsbeiträge in einem Tagungsband ist geplant.