HT 2012: Zur Ökonomie römischer Nahbeziehungen

HT 2012: Zur Ökonomie römischer Nahbeziehungen

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Mainz
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.09.2012 - 28.09.2012
Url der Konferenzwebsite
Von
Jan Meister, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

In vormodernen Gesellschaften werden Nahbeziehungen kaum je als rein emotionale Bindungen gesehen, sondern sind gleichzeitig Netzwerke, über die Ressourcen verhandelt und ausgetauscht werden. Dabei kann es sich um materielle Güter, aber auch um persönliche Dienste oder Unterstützung handeln. Dieser Austausch erfolgt zwar auf der Basis einer grundsätzlich anerkannten Reziprozität, das heißt der Erwartungshaltung, dass auf eine Gabe auch eine Gegengabe folgt, doch weder die Art der Gegengabe noch der zeitliche Rahmen ist fix vorgegeben. So können solche Austauschbeziehungen sowohl als egalitäre Freundschaften wie auch als asymmetrische Abhängigkeiten strukturiert sein. Im antiken Rom sind solche Nahbeziehungen in den Quellen – auch im Vergleich zu anderen vormodernen Gesellschaften – auffallend präsent. Die Frage, inwiefern dies eine Besonderheit der römischen Gesellschaft oder gar der Schlüssel zu deren Verständnis sei, ist dementsprechend in der Forschung ein schon lange kontrovers diskutiertes Thema. Die von Elke Hartmann geleitete Kurzsektion zur „Ökonomie römischer Nahbeziehungen“ am diesjährigen Historikertag in Mainz hat sich zum Ziel gesetzt, diese Debatten neu zu beleben, etablierte Prämissen zu hinterfragen und neue Perspektiven zur Diskussion zu stellen. Diesem Anspruch wurde die Sektion eindeutig gerecht, was nicht nur an der durchwegs hohen Qualität der einzelnen Beiträge lag, sondern auch am gewählten Format der Kurzsektion, das ein hohes Maß an innerer Stringenz sicherstellte. Der Fokus lag dabei ausschließlich auf Nahbeziehungen zwischen einzelnen Personen – also unter bewusster Ausklammerung anderer Phänomene wie beispielsweise Stadtpatronaten. Ferner standen nicht die in mancherlei Hinsicht problematischen „Klientel“-Beziehungen, sondern die Netzwerke der Oberschicht im Zentrum und diese wiederum wurden vornehmlich in Hinblick auf ökonomische Aspekte untersucht.

Den Auftakt machte WILFRIED NIPPEL (Berlin) mit einem Forschungsüberblick vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Dabei machte Nippel drei Perspektiven aus, welche die Debatten prägten. So suchte man im 19. Jahrhundert primär nach dem Ursprung römischer Klientelverhältnisse. Dabei ging man von der Prämisse aus, dass die Klientel in grauer Vorzeit ein rechtlich definiertes Abhängigkeitsverhältnis gewesen sei, das sich (zumindest teilweise) bis in historisch hellere Zeit erhalten habe. Freilich sind die Indizien für solche „survivals“ eher dünn und Rekonstruktionen der Frühzeit müssen zwangsläufig spekulativ bleiben. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts vollzog sich dann mit Matthias Gelzers einflussreicher Habilitationsschrift zur Nobilität der römischen Republik ein Perspektivenwechsel.1 Gelzer interessierte sich nicht für frühere Rechtsverhältnisse, sondern untersuchte die horizontalen Verflechtungen der römischen Oberschicht zur Zeit der späten Republik. Das Problem, so Nippel, sei jedoch gewesen, dass Gelzer es nicht dabei beließ, sondern behauptete, diese Verflechtungen hätten nicht nur die Oberschicht, sondern die gesamte Gesellschaft durchdrungen – eine Behauptung, die durch die tatsächlichen Indizien seiner Untersuchung jedoch kaum gedeckt wurde, die aber die Rezeption der Arbeit entscheidend bestimmte. Bekanntlich folgte in den 1980er-Jahren eine angelsächsische Reaktion auf die angebliche „deutsche Orthodoxie“, der vorgeworfen wurde, sie würde das Funktionieren der Republik einzig über starre Klientelbindungen erklären.2 Doch auch wenn Peter A. Brunt die Belege für eine Klientel der Frühzeit quellenkritisch zerpflückte, so widerlegte er damit dennoch nicht das, was Gelzer eigentlich untersucht hatte, nämlich die Verflechtungen der Oberschicht in spätrepublikanischer Zeit. Man redete, so Nippels Resümee, schlicht aneinander vorbei.

In den letzten Jahren freilich haben sich neue Perspektiven eröffnet. Hier nannte Nippel die Arbeiten von Aloys Winterling und Fabian Goldbeck, die den Blick auf die Bedeutung von Interaktion beispielsweise bei der Salutatio richten.3 Der Fokus dieser Arbeiten liegt vor allem auf der „symbolischen Dimension“ von Nahbeziehungen, also dem Prestige, das die Inszenierung von Freunden vermitteln konnte. Eine der zentralen Thesen, nämlich dass diese symbolische Dimension gegenüber der instrumentellen mit dem Wechsel von der Republik zur Kaiserzeit an Bedeutung gewann, relativierte Nippel freilich: Dies entspreche zwar der Sicht des Gebenden, vernachlässige aber, dass für den Nehmenden die instrumentelle Dimension von Nahbeziehungen nach wie vor bedeutsam blieb. Möglicherweise, so Nippels abschließende Überlegungen, böten sich in diesem Bereich auch Anknüpfungspunkte an die auf den ersten Blick gänzlich anders gelagerten Untersuchungen Koenraad Verbovens, der gerade die materiellen Aspekte römischer „Freundschaft“ betont.4 Auch wenn Nippel in seinem Überblick auf klare Thesen verzichtete, so ließ sich doch eine Linie herauslesen, die in Hinblick auf die nachfolgenden Beiträge zentral war: Deutlich wurde, dass Nippel Versuche, Nahbeziehungen pauschal für die gesamte Gesellschaft zu postulieren, für einen Irrweg hält und stattdessen eine Beschränkung favorisiert, entweder auf die jeweiligen Kontexte, in denen Nahbeziehungen eine Rolle spielen, oder aber auf konkret fassbare Personenkreise, also vornehmlich die römische Oberschicht. Die beiden nachfolgenden Beiträge zeigten denn auch Perspektiven auf, die genau diesen Problemen der bisherigen Forschung Rechnung trugen.

ANN-CATHRIN HARDERS (Bielefeld) analysierte das Erbverhalten der römischen Elite aus einer sozialanthropologischen Perspektive. Im Gegensatz zu modernen Bestrebungen, Vermögen in der Familie zu halten, so ihre einleitenden Überlegungen, scheinen sämtliche Modi des römischen Erbrechts darauf ausgelegt gewesen zu sein, Vermögen nicht kompakt in der Familie zu halten, sondern im Gegenteil möglichst breit über ein Netz von Freunden und Verwandten zu verteilen. So wurden bei der Intestaterbfolge ursprünglich alle Hauserben, Männer wie Frauen, zu gleichen Teilen berücksichtigt – anthropologisch gesehen ein egalitäres Erbrecht. Das alternative Modell wäre ein nicht-egalitäres Erbrecht gewesen, bei dem ein Haupterbe bestimmt und so der ungeteilte Fortbestand des Hauses garantiert wird. Da in Rom nicht nur alle Söhne als gleichberechtigte Erben fungierten, sondern zusätzlich auch noch die zum Haus gehörenden Frauen, kann dieses Erbrecht als besonders egalitär gelten. Dass Frauen nicht nur erbten, sondern auch selbst ein Testierrecht besaßen und dass das weit gefasste Testierrecht des Paterfamilias in der Praxis nicht etwa dazu benutzt wurde, den Besitz beisammen zuhalten, sondern im Gegenteil ihn durch Legate weit über die engere Verwandtschaft hinaus zu streuen, zeigt, dass dies durchaus gewollt war. Das Erb- und Testierrecht von Frauen, so Harders, sei daher nicht als „Unfall“ zu sehen und auch nicht als Ausdruck einer irgendwie gearteten Emanzipation, sondern als Teil einer Strategie, die darauf abzielt, Vermögenswerte über ein weites Netz von Nahbeziehungen über die engere (männliche) Verwandtschaft hinaus zu vererben und so dieses Beziehungsnetz zu pflegen. Für die Entwicklung des römischen Erbrechts habe dies ferner die Konsequenz, dass wohl nicht das agnatische Prinzip als das ältere anzusehen ist, sondern das kognatische, das zwar in der Rechtssprechung erst später auftaucht, von seiner Stoßrichtung her aber der umfassenden Testierfähigkeit des Paterfamilias wie auch der Erb- und Testierfähigkeit der Frauen entspricht. Anders als moderne Bestrebungen, die unter dem Motto „keeping it in the family“ Vermögen über Generationen zu erhalten suchen, hätten die Römer, so Harders, wohl eher von einem „keeping it in the peer-group“ gesprochen: Vermögenswerte sollten möglichst breit innerhalb einer Elite zirkulieren und so ein Netz aristokratischer Nahbeziehungen festigen und perpetuieren.

Dass diese Form des Vererbens zu Problemen führen konnte, zeigte der abschließende Vortrag von ELKE HARTMANN (Darmstadt). Ausgangspunkt ihrer Überlegungen bildete ein Epigramm Martials (Mart. 2,26), in welchem sich die reiche Naevia vom Erbfänger Bithynicus umsorgen lässt. Das dort verhandelte Phänomen der Erbfängerei begegnet in der kaiserzeitlichen Literatur häufig und hat bislang vergleichsweise wenig Beachtung gefunden: Während die ältere Forschung, insbesondere Friedländer, dem Duktus der Quellen verhaftet blieb und das Phänomen moralisch verurteilte, tendieren neuere Studien dazu, die oft in satirischen Kontexten auftretenden Erbfänger pauschal als literarischen Topos abzutun. Freilich entsteht auch ein Topos nicht im luftleeren Raum und genau hier setzte Hartmann an, indem sie dafür plädierte, literarische Typen wie „Naevia“ oder „Bithynicus“ nicht als historische Personen, wohl aber als Reflex realer gesellschaftlicher Probleme ernst zu nehmen.

Erbfängerei , so Hartmann, müsse im Kontext aristokratischer Nahbeziehungen gesehen werden: Gerade vor dem Hintergrund der Ausführungen Harders’ wird plausibel, wie zentral die Teilhabe an solchen Netzwerken auch in materieller Hinsicht war. In der Kaiserzeit wurde dies tendenziell noch wichtiger, denn anders als noch in republikanischer Zeit fielen externe Kriege als Einnahmenquelle für die Aristokratie weitgehend weg, während gleichzeitig der demonstrative Luxuskonsum zunahm und gesteigerte Ausgaben für den Statuserhalt verlangte. Die bei Martial vorgeführten Typen, so Hartmann, spiegeln diese Probleme. So ist die vom Erbfänger umworbene Neaevia offenbar kinderlos. Dies reflektiert den Umstand, dass in der Kaiserzeit Kinderlosigkeit in der römischen Oberschicht zunehmend als erfolgreiche Strategie eingesetzt wurde: Kinderlose Aristokraten wurden, gerade weil natürliche Erben fehlten, von potentiellen Erbfängern materiell und immateriell umsorgt – in der Hoffnung, dass sich die daraus resultierende Nahbeziehung in reichen Legaten niederschlagen werde. Dass mit Naevia eine Frau begegnet, ist in Anbetracht der vollen Testierfähigkeit römischer Frauen keineswegs überraschend, Hartmann vermutete gar, dass Frauen wegen des leicht zu Geld zu machenden mundus muliebris als besonders attraktive Erblasser angesehen wurden. Auch der Erbfänger Bithynicus kann ein reales Problem reflektieren: Sein Name deutet auf eine provinzielle Herkunft hin. Auf Aufstieg bedacht, versucht er, in die Freundschaftsnetzwerke der Aristokratie eingebunden zu werden – es geht ihm wohl also nicht nur um das materielle Erbe, sondern auch um die durch das Erbe symbolisierte Integration in die aristokratischen Netzwerke. Sein letztlich vergebliches Bemühen um Naevia zeigt jedoch das Risiko, das Erbfänger eingehen mussten: Die Zuwendungen zu potentiellen Erblassern konnten eine erhebliche finanzielle Belastung darstellen, doch ob und in welcher Höhe eine Gegengabe in Form von Legaten erfolgen würde, war völlig offen. Manch ein Aristokrat dürfte daher reicher erschienen sein, als er (oder sie) tatsächlich war, und sich den standesgemäßen Luxuskonsum über die Zuwendungen potentieller Erbfänger wesentlich mitfinanziert haben. Vor diesem Hintergrund erscheint es denn durchaus fraglich, wer eigentlich wen „fängt“. Und genau hier, so Hartmann, liege der Mehrwert, den die Dichtung als Quelle bietet: Die Netzwerke aristokratischer Nahbeziehungen, über die Legate verteilt werden, sind alt, doch in der Dichtung werden signifikante Veränderungen reflektiert. So suchen Provinziale wie Bithynicus sich in diese Netzwerke zu integrieren und aufzusteigen, während umgekehrt römische Aristokraten, nicht zuletzt auch Frauen, potentielle Erbfänger anzulocken suchen, um sich so den Lebensunterhalt zu finanzieren.

Dass es der Sektion durchaus gelungen war, neue Perspektiven zu eröffnen, zeigte nicht zuletzt die abschließende von UWE WALTER (Bielefeld) geleitete Diskussion. Zu Harders Beitrag wurde unter anderem angemerkt, dass die breite Streuung von Erbschaften nicht als binäre Opposition zu einer geschlossenen Besitzweitergabe gesehen werden muss, sondern auch als Diversifikation betrachtet werden kann – schließlich durfte man davon ausgehen, dass über Nahbeziehungen auch wieder Vermögenswerte zurückfließen würden. Generell scheint die römische Elite in vielerlei Hinsicht – weit über das Erbrecht hinaus – mehr auf Breitenwirkung und Netzwerkbildung als auf Besitzstandswahrung bedacht gewesen zu sein. In Bezug auf Hartmanns Beitrag wurde vor allem die Bedeutung der mit der Erbfängerei eng verschränkten Kinderlosigkeit hervorgehoben. Das Ausmaß der Kinderlosigkeit in der römischen Aristokratie ist, gerade in Anbetracht des von den Kaisern hochgehaltenen Ideals des Kinderreichtums, bemerkenswert. Das komplexe Geflecht römischer Nahbeziehungen bietet also noch reichlich Material für weitere Forschungen. Doch die Sektion hat einige wichtige Linien vorgegeben, an denen sich künftige Überlegungen orientieren können: Den Fokus primär auf die horizontalen Verflechtungen innerhalb der Aristokratie zu legen, anthropologische Modelle zu verwenden und nicht zuletzt auch bislang eher vernachlässigte Quellen wie eben die Dichtung mit der nötigen methodischen Vorsicht fruchtbar zu machen.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Elke Hartmann (Darmstadt)

Elke Hartmann (Darmstadt): Einführung

Wilfried Nippel (Berlin): Die ökonomische Dimension römischer Nahbeziehungen: Forschungsperspektiven vom 19. Jahrhundert bis heute

Ann-Cathrin Harders (Bielefeld): Keeping it in the Family – Zur Problematik des familialen Gütertransfers in der römischen Republik

Elke Hartmann (Darmstadt): Neue Netze: Erbfängerei (captatio) und ostentativer Konsum in der frühen Kaiserzeit

Anmerkungen:
1 Matthias Gelzer, Die Nobilität der römischen Republik, Leipzig 1912.
2 Nebst der Demokratie-Debatte um Fergus Millar sind hier primär zu nennen: Peter A. Brunt, Amicitia in the Late Roman Republic, in: Ders., The Fall of the Roman Republic and Related Essays, Oxford 1988, S. 351-381 sowie Ders., Clientela, in: ebd., S. 382-442.
3 Aloys Winterling, Freundschaft und Klientel im Kaiserzeitlichen Rom, in: Historia 57 (2008), S. 298-316; Fabian Goldbeck, Salutationes. Die Morgenbegrüßungen in Rom in der Republik und der frühen Kaiserzeit, Berlin 2010.
4 Koenraad Verboven, The Economy of Friends. Economic Aspects of Amicitia and Patronage in the Late Republic, Brüssel 2002.