HT 2012: Ressource Mensch. Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit der Netzwerke des europäischen Menschenhandels in der Frühen Neuzeit

HT 2012: Ressource Mensch. Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit der Netzwerke des europäischen Menschenhandels in der Frühen Neuzeit

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Mainz
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.09.2012 - 28.09.2012
Url der Konferenzwebsite
Von
Hannes Alterauge, Historisches Seminar, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Der diesjährige 49. Deutsche Historikertag stand unter dem Motto "Ressourcen-Konflikte". Ein Thema, welches in Zeiten des globalen Wandels, der wirtschaftlichen und politischen Machtverschiebungen, sowie der Verknappung von Rohstoffen und – zumindest in Europa – Facharbeitskräften aus den aktuellen gesellschaftlichen Debatten nicht mehr wegzudenken ist. Demographischer Wandel auf der einen Seite und prekäre Lebenssituationen auf der anderen Seite führen zu verstärkter Arbeitsmigration, die sich oftmals unter wirtschaftlichen Zwängen entwickelt und deren Freiwilligkeit somit in Frage gestellt werden muss. Gleichzeitig konnte in jüngerer Vergangenheit eine Wandlung in der Rezeption der Arbeitskräfte beobachtet werden. Arbeiter/innen werden zu "Humankapital" (Unwort des Jahres 2005) degradiert, vermehrt nur noch als rein ökonomische Größe wahrgenommen und somit in gewisser Weise "entmenschlicht". Weiter erleben wir – zumindest in den Staaten der westlichen Welt –einen stetigen medizinischen Fortschritt und einen damit verbundenen Anstieg der Lebenserwartung. Damit einher geht auch der Bedarf an der Ressource "menschliche Ersatzteile", welcher sich beispielsweise in der Debatte um die Gestaltung des "Marktes Organspende" wiederspiegelt.

Die Sektion beschäftigte sich daher mit dem Mensch als Ressource und beleuchtete das geschichtliche Verhältnis zu (meist) erzwungener Arbeitsmigration, zum Menschen als handelbare Ware und zur Nutzbarkeit menschlicher Körper zu kommerziellen Zwecken. Auch die mediale Inszenierung dieser Themen und deren Wirkung auf die Gesellschaft wurden diskutiert. Die Aktualität solcher Fragestellungen ist offensichtlich und es erscheint zum Verständnis dieser Phänomene hilfreich, den gesellschaftlichen Umgang mit ihnen in anderen Epochen zu betrachten.

Für die europäische Gesellschaft der Frühen Neuzeit sei die Sklaverei als Raubökonomie in den Mittelmeeranrainerstaaten etwas alltäglich präsentes gewesen, betonte LUDOLF PELIZAEUS (Mainz) in seiner Einführung. Dabei sei keine dichotomisch verstandene Sphäre zwischen Christenheit und muslimischer Welt entstanden, sondern es entwickelten und etablierten sich vielmehr internationale Netzwerke des Menschenhandels über Konfessionsgrenzen hinweg nach ökonomischen und kommunikativen Möglichkeiten, die die Ressourcenbeschaffung innerhalb dieser Ökonomie des Menschenhandels ermöglichen und sicherstellen sollten. Um den Umgang mit der "Ressource Mensch" zu ergründen, müsse den in Publikationen von Propaganda bis Literatur wiederkehrenden und das öffentliche Bild prägenden gebräuchlichen Narrativen der Zeit nachgegangen werden.

ANNE DUPRAT (Paris) wies darauf hin, dass zu einer Neubewertung des ideologischen Umgangs mit dem Phänomen des Menschenhandels in dessen Hauptphase zwischen 1550 und 1750 Berichte aus englischen, spanischen und italienischen Archiven eine weite Quellenbasis bieten. So finde sich in der literature barbaresque, welche sich nicht auf ein bestimmtes Genre festlege, jedoch in der europäischen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts stets eine bestimmte Gruppe von Narrativen beinhalte, eine Wechselwirkung von Fiktion und Gefangenenerzählungen und einer Diskrepanz zwischen ideologisch wirkmächtigen und singulären Berichten. Dabei, so Duprat, entwickelten sich die Erzählungen hin zu einer dramatischen "Theatralisierung", zu einer "Inszenierung als Schauspiel der Grausamkeiten". Publikationen, die dazu dienten die Tragödie der Gefangenen darzustellen und die barbaresken Sklavenumschlagplätze an der afrikanischen Mittelmeerküste als symbolischen Ort zwischen Welt und Hölle erscheinen zu lassen, erfüllten die Aufgabe die "Ökonomie des Loskaufs" zu unterfüttern. So sei beispielsweise der Sklave als "christlicher Held" und als Subjekt des Austausches ein wiederkehrendes zentrales Narrativ. Durch Vermischung barbaresker Literatur mit Reiseberichten habe sich dann eine Öffnung in moralischer, intellektueller und religiöser Hinsicht ergeben. Das ethnozentrierte Wissen sei in ein Wissen auf Basis direkter Beobachtungen übergegangen, Erfahrungen des Unterworfen seins und der eigenen Beschränktheit seien transportiert worden und damit hätten sich die Realitäten des Menschenhandels zu einem intellektuellen Erfahrungswert hin gewandelt.

In seinem Vortrag über den Menschenhandel im osteuropäischen, besonders im russischen Raum, wies CHRISTOPH WITZENRATH (Aberdeen) darauf hin, dass der Raum um die Krim quantitativ nach dem afrikanischen Kontinent den größten Sklavenumschlag aufwies und aus osteuropäischer Perspektive die Krim als Erinnerungsort ganz klar fokussiert werde. Besonders zu berücksichtigen sei für den osteuropäischen Raum die religiöse Konnotation des Sklavenhandels bzw. des Vorgehens gegen diesen, was beinhaltete, dass der Zar gesetzlich zum Loskauf christlicher Sklaven verpflichtet worden sei. Das Vorgehen gegen die Sklaverei, so Witzenrath, sei ein fundamentaler Bestandteil russischer Legitimationsstrategie gewesen. Die Bedrohung der Christen durch den muslimischen Menschenhandel sei mit drohender Apokalypse und dem Exodus des Volkes Israel, die südrussische Steppe mit der Wüste, der Zar mit Moses und Moskau mit Jerusalem gleichgesetzt worden. Eine solche biblische Bildhaftigkeit diente der religiösen Legitimation russischer Gebietserwerbungen im Süden und stellte somit ein "moralisches Kapital, das es zu vermehren galt" dar.

VALENTIN GROEBNER (Luzern) lud in seinem Vortrag dazu ein, die Blickrichtung auf das Phänomen Menschenhandel zu ändern und der Frage nach der "Macht zu töten" nachzugehen. Mit dem Aspekt des Menschen als Ressource, als entpersonalisiertem "Menschenfleisch", verschwimme die Grenze zwischen Lebenden und Toten. Groebner rekapitulierte das gesellschaftliche Verhältnis zum Menschenfleisch als Ware, vom res extra mercatium, vom Handel mit den dem Körper des Erlösers gleichgesetzten Hostien über den aus politischen Gründen kritisierten comertium hominum der Schweizer Söldner hin zum frühneuzeitlichen Handel mit Körperteilen als legale Medikamentenbestandteile und zur Praxis des Bürgens mit eigenen Gliedmaßen. Er stellte weiter die Frage nach dem Wert des Menschen als Ressource und der Akzeptanz der Verwertung menschlicher Körper. Im Hinblick auf das heutige massenhafte Vorkommen afrikanischer oder asiatischer Einwanderer in Europa begründete Groebner das verstärkte Interesse an der geschichtlichen Präsenz farbiger Sklaven in Europa und Nordamerika und attestierte solchen Überlegungen die Möglichkeit eines neuen, unvertrauten und aktuellen Blicks auf Renaissance und Geschichte.

In seinem Vortrag über österreichische Prostituierte im späten Osmanischen Reich setzte MALTE FUHRMANN (Istanbul) den Betrachtungen des Phänomens Menschenhandel eine neue Perspektive gegenüber: die von Zwang und Freiwilligkeit. Waren die vorangegangenen Betrachtungen des Menschenhandels stets von Zwang, Gefangenschaft und eventuellem Freikauf geprägt, so betonte Fuhrmann, dass sich während des von ihm untersuchten Übergangs vom 19. zum 20. Jahrhundert in der Metropole am Bosporus ein ganz eigens Phänomen beobachten ließ. Die Anwerbung europäischer Prostituierter nach Istanbul sei mehr als Arbeitsmigration zu verstehen und veranschauliche eine verbreitete Akzeptanz und Rationalisierung im Umgang mit dem Phänomen des (freiwilligen) Menschenhandels, die sich weniger in moralischen als in administrativen und rechtlichen Auseinandersetzungen zwischen den westlichen Vertretungen und den osmanischen Behörden geäußert habe. Zu bedenken bleibe auch, so Fuhrmann, dass die Betroffenen selbst, die Prostituierten, sich mit Erfolg gegen das moralisch motivierte abolition movement elitärer Frauenverbände, die den Handel mit Sexarbeiterinnen zu unterbinden suchten, stellten.

JOACHIM CORNELISSEN (Lyon) stellte die Frage, was vom Phänomen Menschenhandel in aktuellen Schullehrplänen als Substrat übrig bleibe. Nachdem kurz die unterschiedlichen Gewichtungen des Themas in französischen und deutschen Lehrplänen skizziert wurden, die sich auf den unterschiedlichen Grad der Beteiligung am Menschenhandel in Frankreich und Deutschland zurückführen ließen, rekapitulierte Cornelissen die aktuelle französische Politik im Umgang mit dem Thema der Sklaverei und des Menschenhandels. Er verwies auf den steigenden ökonomischen Wert des Phänomens als Ressource für die französische Tourismusbranche und kritisierte das Entstehen von "blinden Flecken" bezüglich des Wissens um das Vorkommen und die Ausmaße des Menschenhandels in außereuropäischen Gebieten bzw. außerhalb von Gebieten europäischer Wahrnehmung. Diesbezüglich, so Cornelissen, stelle eine "korrekte Relativierung" der Verhältnisse ein Desiderat für die zukünftige Gestaltung von Lehrplänen dar.

Nach den einzelnen Vorträgen kommentierte Ludolf Pelizaeus die Sektionsbeiträge zusammenfassend. Er stellte fest, dass der Handel mit männlichen Sklaven im Gegensatz zu dem mit weiblichen eine viel stärkere Thematisierung findet und dass, während in der Frühen Neuzeit die Beschreibung der körperlichen Nacktheit männlicher Sklaven klar überwog, dies in der Moderne durch das Narrativ der Nacktheit weiblicher Sklaven abgelöst wurde. Weiter wurde festgestellt, dass die Legitimität und Akzeptanz des Handels mit menschlichen Ressourcen sich unter wandelnden Umständen ebenfalls veränderte.

In der Überleitung zur Schlussdiskussion wurde schließlich nach den Schnittstellen des Phänomens des frühneuzeitlichen Menschenhandels zu aktuellen Themen gefragt und als solche Felder wie das des Organhandels, der Sexarbeit oder des Einwerbens von Drittmitteln für humanitäre Zwecke identifiziert. Weiter wurde festgestellt, dass die narrative Unterscheidung von lebendem und totem Körper durch z.B. Entpersonalisierung aufgeweicht werden könne und dass ein solches Verschwimmen lassen von Kategorien der Durchsetzung neuer Narrative diene, die wiederum als Legitimierungserzählungen für den Zugriff auf den menschlichen Körper wirkten. Unter solchen, mit aktuellen gesellschaftlichen Fragestellungen verbundenen Blickrichtungen, beginne bereits "vertrautes Material (…) anders auszusehen". Auch die Frage nach der zeitgenössischen Vereinbarkeit von weißem und schwarzem Sklavenhandel ist diskutiert worden und es wurde betont, dass das Narrativ des weißen Sklaven die Wertvorstellungen der europäischen Gesellschaften der Kolonialzeit verwarf. Nachdem Ludolf Pelizaeus darauf hingewiesen hatte, dass die Rechtfertigung des Sklavenhandels oftmals mit einer narrativen Selbstvictimisierung verbunden war und als Legitimation kolonialer Expansion gedient habe, äußerte Valentin Groebner, dass gerade im Schulunterricht zukünftig eine Kategorisierung in Victimisierung vs. Selbsvictimisierung überwunden werden müsse.

In der Sektion konnte anschaulich das gesellschaftliche Verhältnis zum Phänomen des Menschenhandels mit dessen verschiedenen Facetten dargestellt werden. Es wurde deutlich, welch weit verzweigte und sowohl kulturelle wie religiöse Grenzen überwindende Netzwerke sich, vor allem aus wirtschaftlichen Interessen heraus, im Kontext des Phänomens Menschenhandel ausbildeten. Dabei wurden verschiedene Legitimationsstrategien für oder gegen den Menschenhandel dargelegt und begründet; die Entstehung und Bedeutung der verschiedenen leitenden Narrative wurde betrachtet und das zeitgenössische Verhältnis zum gehandelten Menschen als Ware, zur Körperlichkeit, zur Personalisierung bzw. Entpersonalisierung dieser Ware neu beleuchtet. Das Verschwimmen der Grenzen von Menschenhandel und Arbeitsmigration im ausgehenden 19. Jahrhundert, sowie die national differierende und sich mit der Zeit wandelnde heutige Rezeption des Phänomens wurden aufgezeigt. So erreichte die Sektion eine Neubewertung der Betrachtungsschemata bezüglich des Handels mit der Ware Mensch.

Sektionsübersicht:

Leitung: Anne Duprat, Université IV Paris (Sorbonne); Ludolf Pelizaeus, Universität Mainz

Anne Duprat, Université IV Paris (Sorbonne): Structures de l’échange. Représentations du marché aux esclaves dans les Régences ottomanes au début de la modernité

Christoph Witzenrath, University of Aberdeen: Ivan IV. "der Schreckliche" als Befreier? Loskauf und Abwehr der Sklavenjagden in der Legitimationsideologie des Moskauer Reiches

Malte Fuhrmann, Orient-Institut Istanbul: "Mädchenhandel" oder selbstbestimmte periphere Mobilität? Österreichische Prostituierte im späten Osmanischen Reich

Valentin Groebner, Universität Luzern: Die unabbildbare Ökonomie. Reden über den Mensch als Ware im 16. Jahrhundert

Joachim Cornelißen, Cité scolaire internationale de Lyon: "Mettre en valeur les aspects positifs de la colonisation". Das Konfliktpotential bei der Vermittlung des Themas Menschenhandel an deutschen und französischen Schulen im Vergleich

abwesend: Michael Kempke, Leibniz-Bibliothek Hannover

Andrej Doronin, Deutsches Historisches Institut Moskau


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