HT 2012: Schrift und Buch als Ressourcen des späten Mittelalters

HT 2012: Schrift und Buch als Ressourcen des späten Mittelalters

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Mainz
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.09.2012 - 28.09.2012
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Von
Jan-Hendryk de Boer, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Universität Göttingen

Mit Buch und Schrift standen Ressourcen im Mittelpunkt der Sektion, die früher ein beliebter Forschungsgegenstand der Historischen Hilfswissenschaften waren und nun im Rahmen des wieder erwachten Interesses an Materialität auf teils an die älteren Ansätze anknüpfende, teils neuartige Weise mit neuer Intensität erforscht werden. Insofern erschien es nur folgerichtig, ihnen im Rahmen eines Historikertages, der sich mit Ressourcen befasste, eine Sektion zu widmen, wie CLAUDIA MÄRTL (München) in ihrer Einleitung hervorhob. Dabei seien Ressourcen nicht rein wirtschaftsgeschichtlich zu fassen, vielmehr hätten sie auch eine politisch-kulturelle Dimension. Sie stellten, mit Werner Plumpe, Mittel und Möglichkeiten für unsere kulturellen Vorstellungen bereit. Märtl hob hervor, es gehe den Sektionsteilnehmern/innen nicht um eine affirmative Anpassung an den Zeitgeist und das Propagieren eines rein ökonomistischen Ansatzes. Vielmehr vermöge der Begriff „Ressource“ den forschenden Blick zurück auf die Materialität der Phänomene sowie deren wirtschaftliche und soziale Funktionalisierung zu lenken. Buchbesitz habe nicht nur im Mittelalter als Statussymbol gedient, Kommunikationswege reguliert, Wissen zur Verfügung gestellt oder bestimmten Publika vorenthalten. Bücher seien allein schon aufgrund der Knappheit des Pergaments, aber auch im beginnenden Papierzeitalter begrenzte Ressourcen gewesen, die verwandelt oder vernichtet werden konnten, etwa in Gestalt von Palimpsesten. Im Spätmittelalter sei eine Dynamisierung von Buchproduktion wie -verbreitung durch den Druck geschehen, es sei darüber hinaus insgesamt zu einer gesteigerten Schriftproduktion gekommen. Die Entstehung von Büchern sei stets normativ reguliert und praktischen Zwängen unterworfen gewesen, woraus beständig Spannungen und Konflikte entstanden seien, weswegen das gesamte Feld einer beständigen Dynamik unterworfen gewesen sei.

Diesen allgemeinen Rahmen zu füllen, unternahm zunächst CARLA MEYER (Heidelberg), die am Beispiel der Grafen von Württemberg Schriftlichkeit als Ressource in ihren Dynamiken akribisch nachzeichnete. Es ging ihr darum zu erklären, wie sich Verwaltungshandeln schriftlich niederschlage. Durch statistische und inhaltliche Auswertungen des altwürttembergischen Bestands im Hauptstaatsarchiv Stuttgart mit der Signatur A602 wurde deutlich, wie die Materialien Papier und Pergament die Glaubwürdigkeit der transportierten Inhalte mitbestimmten. Allgemein ließ sich ein enormer Anstieg der Schriftproduktion im 15. Jahrhundert erkennen, erst am Ende des Jahrhunderts kam es zu einem leichten Rückgang. Dass solche statistischen Evidenzen immer vorgebliche sind, wurde nicht nur in der anschließenden Diskussion, sondern bereits von Meyer selbst entschieden hervorgehoben. Nicht nur wurde der von ihr untersuchte Bestand erst nach dem Zweiten Weltkrieg in der jetzigen Form zusammengeführt; auch hatten Kriege für Verluste gesorgt, spätere Abschriften waren umgekehrt kontinuierlich dazugekommen, um Lücken zu füllen. Kassationsmaßnahmen schlugen sich ebenfalls nieder: So hatten ökonomische Quellen grundsätzlich schlechtere Überlieferungschancen gehabt als rechtsrelevante. Archivare neigten dazu, eher Pergament als Papier zu bewahren. Der vermeintliche statistisch konstatierte Rückgang der Schriftproduktion Ende des 15. Jahrhunderts war tatsächlich die Auswirkung der Einführung des Amts eines Registrators in der Kanzler, der gezielt auswählte, was bewahrt und was aussortiert werden sollte. Doch all dieser Einflüsse auf den Quellenbestand zum Trotz, ließen sich allgemeine Entwicklungslinien aufzeigen: Im 14. Jahrhundert wurde die Verwaltung unter Eberhard II. dem Greiner mit dem Stuttgarter Schloss als Mittelpunkt ortsfest; Mitte des 14. Jahrhundert entstand eine organisierte Schreibstube, Ende des Jahrhunderts die Kanzlei als festes Gebäude. Damit verbunden war das Auftauchen neuer Gattungen, vorrangig der Amtsbücher in Gestalt von Lehnsbüchern und Urbaren. Mit einem Brief von 1358 hielt das Papier als Beschreibstoff Einzug, doch die eigentliche Papierzeit verortete Meyer erst ab den 1380er-Jahren im Gefolge der neuen Gräfin Antonia da Visconti. Während Italiener zur Zeit Antonias rechtsverbindliche Geschäfte bereits auf Papier ausfertigen, war man in Württemberg skeptischer und blieb zunächst beim Pergament. Mit der Landesteilung des 15. Jahrhunderts wurde auch die Verwaltung auf mehrere Zentren verteilt, womit eine Zunahme des Schreibbedarfs korrelierte, die nun immer stärker auch die Lokalverwaltung einschloss. Innerhalb der Kanzlei wurde der Landschreiber zu einem eigenen Ressort. Für die Zeit Eberhards im Barte machte Meyer eine „regelrechte Bürokratisierungswut“ aus, die sich in zahllosen Erlassen, Registern und Amtsbüchern niederschlug. Schreibkenntnisse wurden für alle Amtsleute zur Pflicht, wie auch die Untertanen idealerweise schreiben und lesen können sollten. Für die Stadt Stuttgart wurde erstmals ein Ausweispapier eingeführt. Um dem erhöhten Bedarf an dieser Ressource entsprechen zu können, wurde in den 1470er-Jahren in Urach eine Papiermühle eingerichtet. Papier war dabei der Beschreibstoff für die Alltagsschriftlichkeit. Nicht nur die Schriftlichkeit im Allgemeinen wurde von Eberhard als wichtiges Medium erkannt, auch die neue Technik des Drucks wurde von ihm begierig aufgenommen. Insgesamt, so konnte Meyer resümieren, war der Beschreibstoff ein wichtiger Grund für Aussortierung und Nichtüberlieferung, womit sich Papiergeschichte nur als Verlustgeschichte schreiben lasse.

EVA SCHLOTHEUBER (Düsseldorf) widmete sich der Rolle von Büchern im Franziskanerorden, ein gerade in den ersten Jahrzehnten der Ordensgeschichte und im Rahmen der Observanz heftig umstrittenes Thema. So warfen die Franziskanerobservanten ihren Mitbrüdern im Umfeld des Konstanzer Konzils vor, zu leicht Kinder anzuwerben und sie unter anderem mit dem Versprechen zum Ordenseinritt zu verführen, dass sie als Brüder über die Bücher des Ordens verfügen könnten. Grundsätzlich standen Franziskaner Büchern und insbesondere wertvollen Büchersammlungen in verschiedenen Abstufungen skeptisch gegenüber. Die frühen Mendikanten führten Bücher mit sich, wobei diese nicht als Privat-, sondern als Ordensbesitz galten. Auswahl, Bereitstellung und Beschränkung von Büchern war Sache des Gesamtordens, wie immer wieder von den Generalkapiteln eingeschärft wurde. Statuten versuchten, den privaten Buchbesitz zu regulieren und zurückzudrängen. Doch gab es innerhalb des Ordens auch andere Stimmen: David von Augsburg etwa verstand Armut als Konnex zu spirituellem Reichtum, und Berthold von Regensburg konnte darlegen, dass sich gerade deshalb Armut und Buchbesitz verbinden ließen. Die Armutslehre praktisch umsetzend, blieben franziskanische Bücher betont einfach ausgestattet, der Inhalt wurde bereits in Schriftbild und Textgestaltung als das Entscheidende hervorgehoben. Ende des 13. und zu Beginn des 14. Jahrhunderts nahm die Zahl gelehrter Brüder zu, worauf man mit der Einrichtung von Schulen in den einzelnen Provinzen reagierte, um Konvente mit Lektoren, Priestern, Beichtigern etc. versorgen zu können. Damit war nahezu unausweichlich die Gefahr verbunden, dass Brüder abweichende Lehren verträten, worauf der Orden mit einer bewussten Theologisierung reagierte: Geeignete Brüder wurden an Studienhäuser und Universitäten geschickt, das Studium wurde zur Voraussetzung für die Übernahme ordensinterner Ämter. Konsequenterweise forderten die Ordines Benedikts XII. die Einrichtung von Bibliotheken in den Konventen. Wichtige Häuser richteten zwei Sammlungen ein, eine für das Generalstudium, eines für die Provinz/Kustodie. Weiterhin behielt der Orden die Bücherauswahl und die zentrale Prüfung ihrer Inhalte in der Hand. Im 15. Jahrhundert bemühte man sich, private und selbstgeschriebene Bücher in Konventsbibliotheken einzugliedern, was nicht immer ohne Schwierigkeiten ablief und beständigen Drucks der Ordensoberen bedurfte. Die in Folge all dieser Maßnahmen häufig sehr gut ausgestatteten Franziskanerbibliotheken übten große Auswirkungen auch über den Orden hinaus aus und verbanden die Konvente mit der jeweiligen Stadt. Durch zurückkehrende Studenten wurden die Konvente regelmäßig mit neuer Literatur aus den intellektuellen Vororten versorgt.

Unter Verwendung von Ergebnissen seiner im Druck befindlichen Dissertation beschrieb MAXIMILIAN SCHUH (München/Göttingen) am Beispiel Ingolstadt das Buch als Wissensressource an der spätmittelalterlichen Universität. Dabei zeigte er, dass das Buch durch die jeweilige Benutzung zur kulturellen Ressource wurde. Seit 1473 unterhielt die Ingolstädter Artistenfakultät eine eigene Bibliothek, 1480 richtete man einen universitären Bibliotheksraum ein. Auf diese Weise wurden Texte für den Unterricht der Artesmagister bereitgestellt, da für viele Magister der Erwerb von Büchern auch im Druckzeitalter nicht möglich war. 1490 wurde der Erwerb von Büchern für artistischen Unterricht angemahnt, offenbar mit Erfolg, denn 1492 verzeichnete der Bestandskatalog 231 Bände, darunter prominent Werke, die dem Unterricht dienten. Der Bestand war nach Sachgruppen angeordnet. Die Nutzungsbedingungen sahen vor, dass Bücher nur in Bibliotheksräumen eingesehen werden dürften. Für viel Ärger, unter anderem bei Conrad Celtis, sorgte die Beschränkung des Bibliothekszugangs, bevorzugt wurden Magister, die Mitglied im fakultären Leitungsgremium waren. Studenten konnten die Bestände grundsätzlich nicht nutzen, auch für Mitglieder höherer Fakultäten stand der Zugang nicht automatisch offen. Bekanntermaßen ist der Diebstahl von Büchern aus Universitätsbibliotheken bis heute ein Problem geblieben. Die Ingolstädter Bibliothekare kennzeichneten ihre Bücher gleich vierfach: mit einem Besitzvermerk, einem Ex libris-Wappen, einem Sichtvermerk auf fol. 10 sowie einem Schlussvermerk nach dem Kolophon. An mehreren Exemplaren konnte Schuh zeigen, dass solche Vorsicht durchaus berechtigt war: Zahlreiche Bände hatte er ihm Rahmen seiner Recherchen aufgespürt, bei denen Besitzvermerk und Wappen herausgeschnitten waren, häufig ermöglichte es aber zumindest eine erhalten gebliebene Kennzeichnung, bestimmte Bücher Ingolstadt zuzuordnen. Nur etwa 25% der Bestände der Fakultätsbibliothek waren Handschriften, es dominierten Inkunablen. Auch inhaltlich war man, entgegen mancher (bereits von zeitgenössischen Humanisten kolportierter) Klischees dem neuen Wissen und den neuen Techniken, wie sie aus Italien über die Alpen kamen, aufgeschlossen. Benutzungsspuren zeigten, dass auch antike Texte von Artisten verwendet wurden. Die Integration humanistischen Bildungsguts war dennoch nicht unproblematisch und bedurfte pädagogischer Kunstgriffe: Studentische handschriftliche Anmerkungen in Marginalglossen zu den Elegantiole verzeichnen zusätzliche, einfachere Beispiele, die sich dem mündlichen Unterricht verdankten. Einige waren der studentischen Lebenswelt entnommen. Einige Studenten fügten eigene Beispiele hinzu, in denen sie das Gelernte spielerisch rekapitulierten. Bei aller Einfachheit und gelegentlichen Unbeholfenheit konnte Schuh gleichwohl nachweisen, dass sich der Stil, der im artistischen Unterricht vermittelt wurde, konsequent am klassischen Latein orientierte.

Im letzten Vortrag widmete sich MARTIN WAGENDORFER (München/Wien) Handschriften als Wissensressource, wobei er die Rezeption des Humanismus nördlich der Alpen in Privatbibliotheken als Beispiel wählte. Der Wechsel von gotischer zu humanistischer Schrift stellte demnach eine bewusste Entscheidung dar, mit der man sich zum neuen Bildungsideal bekannte. Insgesamt seien Privatbibliotheken zwar recht schwer zu erforschen, sie böten aber auch besondere Chancen: Während sich nämlich bei institutionellen Bibliotheken Teile des Bestandes immer dem Zufall verdankten, orientierten sich Privatbibliotheken an den Interessen der jeweiligen Besitzer. So könne man mittelalterliche Bibliothekskataloge systematisch auf Buchbesitz von Humanisten auswerten und Spuren gezielter Aneignung rekonstruieren. Als Beispiel wählte Wagendorfer die Bibliothek des Wiener Juristen Johannes Polczmacher. Er wurde 1424 in Wien inskribiert, erlangte 1432 an der juristischen Fakultät das Lizentiat und wurde 1434 zum Doktor des Kirchenrechts promoviert. Mehrfach bekleidete Polczmacher das Amt des Dekans, 1438 war er Rektor der Universität. Er trat als Verfasser eines umfassenden Dekretalenkommentars hervor. Zwar gehörte er keinem der Wiener Humanistenkreise an und verfasste keine humanistischen Schriften. Seine Bibliothek dokumentierte jedoch Interessen, die über seine Tätigkeit als Jurist an der Universität hinauswiesen. Testamentarisch verfügte er, dass seine Autographen an einen Kanonikus gehen sollten, 82 Bände seiner Bibliothek vermachte er dem Wiener Schottenkloster. Die sich darunter befindenden juristischen Bücher sollten Universitätsangehörigen gegen eine Gebühr zur Verfügung stehen. Die dem Schottenkloster zu überlassenden Bände teilte er nach Sachgebieten ein, wobei er 46 Bände als „in iure canonico“ verzeichnete und 30 als „Libri morales et poetici ac alii permixtim“. Darunter befanden sich laut Wagendorfer 25 Bände mit humanistischen Texten (antike Klassiker, Petrarcas „De remediis“, Piccolomini). Insgesamt 29 Bände waren auf Pergament, 52 auf Papier geschrieben. Erhalten haben sich fast nur juristische Texte und fast ausschließlich Papierhandschriften. Fast alle Handschriften sind auf die frühen 1440er-Jahre zu datieren. Seine Bibliothek war weniger in ihrem Umfang, wohl aber in ihrem starken humanistischen Einfluss für Wiener Universitätsgelehrte der Zeit ungewöhnlich. Die Artistenfakultät etwa kaufte erst ab 1467 humanistische Bücher, erste humanistische Vorlesungen wurden ab 1451 gehalten. Wie genau Polczmacher seine humanistischen Interessen entwickelte, muss teilweise Spekulation bleiben. Immerhin ist es sicher, dass er Kontakt mit Enea Silvio Piccolomini hatte. Eine Parallele stellte die teilweise rekonstruierbare Bibliothek des Georg von Peuerbach dar. Auch er zeigte deutlich humanistische Interessen. In seinen Handschriften finden sich frühe Belege für die humanistische Minuskel. Das in der Forschung häufig angeführte Beispiel der Melker Annalen ab 1418, die immer wieder als erste Verwendung der humanistischen Minuskel in Nordeuropa angeführt werden, verwarf Wagendorfer. Tatsächlich ahme Petrus von Rosenheim nämlich eine ältere Minuskel (vielleicht aus dem 12. Jahrhundert) nach. So ließen sich die Verwendung der neuen humanistischen Schriften und damit eine aktive Zuwendung zum italienischen Bildungsideal für Österreich kaum vor 1450 belegen.

Insgesamt konnte die Sektion, wie sich in der Diskussion bestätigte, schlagend unter Beweis stellen, dass die alten Interessen an Schrift und Buch unter dem Zeichen der Materialitätsforschung eine eindrucksvolle Revitalisierung erfahren und so ihrerseits eine wichtige Ressource etwa für die Gelehrten- und Universitätsgeschichte, die Religions- und Frömmigkeitsgeschichte sowie die Ideengeschichte darstellen kann.

Sektionsübersicht:

Claudia Märtl (München): Einführung ins Thema der Sektion

Carla Meyer (Heidelberg): Ressource Schriftlichkeit im späten Mittelalter. Das Beispiel der Grafen von Württemberg

Maximilian Schuh (München/Göttingen): Das Buch als Wissensressource an der spätmittelalterlichen Universität. Das Beispiel Ingolstadt

Eva Schlotheuber (Düsseldorf): Die Ressource 'Buch' im Spannungsfeld zwischen Privatbesitz und Konventsbibliothek

Martin Wagendorfer (München/Wien): Handschriften als Schrift- und Wissensressource. Die Rezeption des Humanismus nördlich der Alpen im Spiegel von Privatbibliotheken


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