HT 2012: Zeitgeschichte ohne Ressourcen? Probleme der Nutzung audiovisueller Quellen

HT 2012: Zeitgeschichte ohne Ressourcen? Probleme der Nutzung audiovisueller Quellen

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD)
Ort
Mainz
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.09.2012 - 28.09.2012
Url der Konferenzwebsite
Von
Kirsten Moritz, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Abteilung Didaktik der Geschichte, Universität Göttingen

„Theater ist Kunst, Film ist Unterhaltung und Fernsehen ein Möbel.“ CHRISTOPH CLASSEN (Potsdam) verdeutlichte gleich zu Beginn der Sektion, dass dieses von ihm zitierte Urteil zum Massenmedium Fernsehen für die Zeitgeschichtsschreibung durchaus problematisch ist: Audiovisuelle Quellen seien nicht nur für Medienhistoriker relevant, da spätestens seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von medialisierten Gesellschaften auszugehen sei. Eine Zeitgeschichte, die Massenmedien nicht berücksichtige, könne daher nur unzureichend geschrieben werden. Gleichwohl würden Historiker/innen die Frage nach Überlieferung und Archivierung von Fernsehproduktionen viel zu wenig ernst nehmen. Um so unverständlicher sei dieses Desinteresse, wenn man die Probleme betrachte, die ein/e Wissenschaftler/in habe, wenn er/sie Fernsehquellen in die Forschung einbeziehen möchte.

Die Frage nach der wissenschaftlichen Nutzung audiovisueller Quellen – darauf verweist bereits der Titel der Sektion – ist eine Frage nach verschiedenen Problembereichen. Diese Ausgangslage brachte es mit sich, dass sich die als Podiumsdiskussion angelegte Sektion weniger als kontroverse Debatte, sondern eher als Erfahrungsaustausch und Problemartikulation erwies.

Eines dieser zentralen Probleme besteht nach Classen darin, dass die Verantwortung zur Sicherung des audiovisuellen Materials allein bei den Anbietern liegt, an die der/die Forscher/in sich wenden muss. Eine zentrale Anlaufstelle für audiovisuelle Quellen fehle nämlich und die Archivlandschaft sei darüberhinaus unübersichtlich und zersplittert. Das Deutsche Rundfunkarchiv (DRA), dessen Name eine solche Funktion als zentrale Instanz suggerieren mag, verfüge nur über begrenzte Bestände vor allem aus der DDR sowie der Zeit des Nationalsozialismus. Dass die Produzenten selbst für die Archivierung ihrer Sendungen zuständig seien, habe zur Folge, dass die vorhandenen Archive in erster Linie als Produktionsarchive der Sender dienen würden. VEIT SCHELLER (Mainz) gewährte zu diesem Aspekt als Leiter des ZDF-Unternehmensarchivs einen Einblick in die Praxis. Der Archivar wies daraufhin, dass die Lage bei den öffentlich-rechtlichen Sendern aus seiner Perspektive vergleichbar gut ist, denn das audiovisuelle Material seit Ende der 1980er-Jahre liegt nahezu geschlossen vor. Scheller räumte jedoch auch ein, dass in den frühen Jahren des Fernsehens einige aus heutiger Sicht interessante Sendungen gar nicht erst aufgezeichnet oder im Nachhinein überspielt wurden. Weit schlechter ist die Lage hingegen bei den privaten Sendern, wie Classen am Beispiel von RTL verdeutlichte. LEIF KRAMP (Bremen) ergänzte diese Ausführungen zur Sammlung des audiovisuellen Materials um Anmerkungen zur Rechtslage sowie um einen internationalen Vergleich. Deutschland zähle dabei in der Frage, inwiefern die audiovisuelle Überlieferung staatlich reglementiert sei, zu den „schwachen Staaten“ und überlasse die Archivierung komplett den Anbietern.1 Sowohl das Gesetz über die Deutsche Nationalbibliothek als auch die Archivgesetze der Länder würden die Rundfunkarchivierung entweder unerwähnt lassen oder dezidiert ausschließen. Als Kontrastbeispiel führte Kramp dazu unter anderem Frankreich an, wo die Sender zu einer Abgabe an den Staat verpflichtet seien. Hier sei das Institut national de l`audiovisuel als zentrales audiovisuelles Archiv seit 1974 per Gesetz für die Sammlung und Bereitstellung von Fernsehproduktionen zuständig. Auch die freiwillige Selbstverpflichtung, die ARD und ZDF 2004 im Sinne der Erhaltung von Fernsehproduktionen abgegeben hätten, würden an der primären Bedeutung der Archive als Produktionsarchive wenig ändern.2

An diesen (Problem-)Aspekt der Überlieferung schloss sich die für den/die an audiovisuellen Quellen interessierte/n Wissenschaftler/in vermeintlich zentralste Frage an: Inwiefern besteht ein Zugang zu dem so überlieferten Material? Nach FRANK BÖSCH (Potsdam) ist dieser Zugang extrem eingeschränkt. Ein wesentliches Problem dabei seien die teils sehr hohen, von Sender zu Sender schwankenden Kosten der Bereitstellung audiovisuellen Materials. Außerdem gebe es keine einheitlichen Zugangsregelungen und somit würden die einzelnen Sender mit Anfragen zu Sendungen ganz unterschiedlich umgehen. Teilweise seien hier sogar Unterschiede innerhalb derselben Institution festzustellen. Hinsichtlich der Frage des Zugangs tauschten sowohl Podium als auch Auditorium entsprechend uneinheitliche Erfahrungen miteinander aus: von freundlicher und kostenfreier Bereitstellung des Materials bis hin zu ergebnislosen Versuchen, die letztlich mit Verweis auf die personelle und finanzielle Ausstattung der Sendearchive scheiterten. Unter anderem ANDREAS FICKERS (Maastricht) wies daraufhin, dass persönliche Beziehungen ganz wesentlich dazu beitragen können, dass der Zugang zu audiovisuellen Quellen erfolgreich ist. Mit finanzieller Unterstützung und persönlichen Kontakten sei die Situation anscheinend leichter – eine Erkenntnis, die vor allem für die anwesenden Nachwuchswissenschaftler/innen, die nicht über die nötigen finanziellen Mittel und Kontakte verfügen, eher entmutigend gewesen sein dürfte. Auch im Sinne der Nachvollziehbarkeit wissenschaftlicher Arbeiten, dies führte Bösch an, ist dieser privilegierte Zugang zum Material durchaus bedenklich.

Außer dem zentralen Aspekt des Zugangs zu Fernsehquellen wurden weitere Probleme diskutiert, die den Handlungsbedarf auf diesem Feld verdeutlichten. Unter anderem Kramp führte die grundlegende Schwierigkeit der Auffindbarkeit an: Da eine umfassende Programmchronik fehle, könne der/die Forscher/in sich nur schlecht orientieren und nicht wissen, welche relevanten Beiträge überhaupt gesendet worden seien. Um den Zugang zu audiovisuellen Quellen zu erleichtern, sei es laut Scheller notwendig, ein solches Programmverzeichnis zu schaffen, da Programmzeitschriften ein höchst unzuverlässiges Recherchemittel seien. Bösch verwies hinsichtlich dieser Frage auf die beiden Standorte des DRAs in Frankfurt am Main und Potsdam-Babelsberg, die gute Möglichkeiten zur Recherche bieten würden. Allerdings ist darauf zu verweisen, dass das DRA in seiner Datenbank ausschließlich Sendungen verzeichnet, welche auf der ARD oder den Dritten Programmen ausgestrahlt worden sind.

Ferner wurde der Zugang zu den redaktionellen Begleitquellen, den Kontextquellen, angesprochen: Nach Bösch sind auch bei diesem für Historiker/innen besonders relevanten Schriftgut die Überlieferung sehr uneinheitlich und die Zugangsmöglichkeiten enorm eingeschränkt. Beim ZDF sind die relevanten Unterlagen zu Fernsehproduktionen durchaus vorhanden, aber das Problem bestehe hier vor allem in der Frage des Zugangs, so Scheller. Der Leiter des Unternehmensarchivs gab einen Einblick in die Praxis der Sicherung dieser Kontextquellen: Die Entscheidung, welche Unterlagen aufgehoben werden, würde bei den Redaktionen selbst liegen. Nur in Ausnahmefällen greife das Archiv in die Sicherung der Bestände ein. Für die ARD scheint die Situation indes problematischer, da – so führte Classen an – nur einige Landesrundfunkanstalten überhaupt über Unternehmensarchive verfügen.

Zusätzliche Schwierigkeiten bei der Nutzung audiovisueller Quellen wurden beim Bereich der rechtlichen Fragen gesehen: Kramp unterschied dabei verschiedene Rechtsgrundlagen hinsichtlich der Sichtung, der Zitation sowie der Sammlung und Reproduktion audiovisueller Quellen. In der Diskussion wurde erkennbar, dass es sich hierbei um ein höchst komplexes Feld handelt. Vor allem die Reproduktion und Weitergabe des Materials sei durch Fragen des Urheberrechts eingeschränkt. Bösch machte am Beispiel von Fernsehmitschnitten in Mediatheken, die es an vielen Universitäten mittlerweile als Notlösung gibt, deutlich, dass sich die Verbreitung von Fernsehquellen im wissenschaftlichen Raum häufig in rechtlichen Grauzonen bewege.3 Es könne in diesem Bezug hilfreich sein, wenn Regeln systematisiert und so der Umgang mit dem Material formalisiert werden würde. Scheller ergänzte die prekäre Frage nach dem Urheberrecht um die Perspektive einer Sendeanstalt: Durch urheberrechtliche Regelungen mit Produzenten und Schauspielern seien die Sender daran gehindert, den Wissenschaftlern/innen das Material völlig frei und auch zum Zweck der Reproduktion und Weitergabe zur Verfügung zu stellen.

Neben den verschiedenen Problemen wurden auf dem Podium auch Auswege aus dieser Situation besprochen. Fickers stellte dabei den Anwesenden zunächst Alternativen und Zukunftsperspektiven vor: Nach dem History-Boom und der Vorrangstellung des Fernsehens sei das Internet die zukünftige Plattform der Geschichtsvermittlung. Mit diesem neuen Forum seien besondere Herausforderungen verbunden, zu denen die Findbarkeit des Materials im World Wide Web, der quellenkritische Umgang mit diesem und letztlich die Notwendigkeit einer neuen Erzählform der Forschung zähle. So sei es geboten, dass sich die wissenschaftliche Argumentation auf der narrativen Ebene der Onlineumgebung anpasse – eine Aufgabe, die für Historiker/innen sicherlich besondere Schwierigkeiten darstellt. Ein Trend im Netz geht nach Fickers zu virtuellen Ausstellungen, die auch audiovisuelle Quellen einbeziehen. Anhand verschiedener multimedialer Plattformen verdeutlichte der Medienhistoriker diese Möglichkeit des Internets.4 Der große Vorteil dieser Ausstellungen im Vergleich zu anderen Anbietern (z.B. YouTube) läge darin, dass die Metadaten des Materials (Ausstrahlungszeitpunkt, Produzenten usw.) vorliegen würden. Kramp gab zu diesem Trend zu bedenken, dass in der Breite vor allem wegen rechtlicher Schranken die Zukunft der audiovisuellen Überlieferung nicht im Netz liege, auch wenn die Verbreitung des Materials auf Projektebene sicher möglich sei.

Vor allem zum Ende der Sektion stand die Frage im Mittelpunkt, was aus den konstatierten Problemen abzuleiten ist: Was kann getan werden, um die problematische Situation für die Forscher/innen bei der Nutzung audiovisueller Quellen zu verbessern? Die diskutierten Lösungsvorschläge waren auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt: Ganz konkrete Maßnahmen regte vor allem Bösch an, der einen wichtigen Schritt in der Bereitstellung von Sichtplätzen vor Ort bei den Sendern sah. Aber auch die Möglichkeit zu Recherche und Kauf audiovisuellen Materials über das Internet, wie es bei der BBC derzeit bereits möglich ist, wurde vom Potsdamer Historiker befürwortet. Dies sei für die Sendeanstalten wirtschaftlich rentabel und erleichtere den Zugang für die Wissenschaftler/innen. Fickers sprach sich daneben für den weiteren Auf- und Ausbau von Netzwerken aus, die Hürden zwischen Archiven und Forschern abbauen könnten. Auch Scheller sah solche Formen der Kooperation als wichtigen Faktor, um bestehende Probleme zu beseitigen. Kramp hob hervor, dass es nötig ist, das vorhandene Problembewusstsein zu nutzen und auf dieser Ebene gezielt Lobbyarbeit zu betreiben. Als Adressaten wurden dabei sowohl die verschiedenen Ansprechpartner/innen der Bundestagsfraktionen genannt als auch Mitglieder der Rundfunkräte. Als schlagendes Argument, um auf diesen Ebenen erfolgreich sein zu können, sollte laut Bösch vor allem der internationale Vergleich dienen. Daneben seien Appelle an die Anbieter audiovisueller Quellen sinnvoll: Das Bewusstsein auf Seite der Produzenten, dass ihre Sendungen geschichtlich bedeutend und es wert seien, aufbewahrt und ausgewertet zu werden, müsse gestärkt werden. Letztlich nahmen die Diskussionsteilnehmer auch den Veranstalter selbst in die Verantwortung: Es wurde in der Diskussion mehrfach bedauert und als unverständlich erklärt, dass auf dem Historikertag 2006 eine Resolution in der Mitgliederversammlung des Historikerverbandes gescheitert war, die darauf abzielte, den Zugang zu audiovisuellen Quellen für Wissenschaftler/innen zu erleichtern.

Die zahlreichen Probleme, die ein/e Wissenschaftler/in hat, der/die mit audiovisuellen Quellen arbeiten möchte, wurden in der Sektion deutlich. Der Handlungsbedarf, der auf diesem Feld besteht, kann spätestens nach dieser Podiumsdiskussion nicht mehr bestritten werden. Für all jene im Raum – und dies dürfte die große Mehrheit gewesen sein –, die mit audiovisuellen Quellen arbeiten oder bereits gearbeitet haben, war jedoch wenig Neues zu erfahren. Vielmehr dürften sie ihre eigenen Erfahrungen bestätigt gesehen haben. Gleichwohl war eine gewisse Aufbruchstimmung zu spüren, die problematische Situation zu verbessern. Es bleibt zu hoffen, dass diese nutzbar gemacht werden kann und dass den Handlungsoptionen auf den verschiedenen Ebenen erfolgreich nachgegangen wird. Dass die Podiumsdiskussion bereits von der fachwissenschaftlichen Auseinandersetzung in eine breitere Öffentlichkeit getragen wurde, ist in diesem Sinne sehr zu begrüßen und gibt Grund zur Hoffnung.5

Es wäre wünschenswert gewesen, wenn neben den Aspekten der Archivierung, der Auffindbarkeit, des Zugangs und der Reproduktion die Frage nach dem methodischen Umgang diskutiert worden wäre. Dieser macht einen wesentlichen Teil der Nutzung audiovisueller Quellen aus und hätte demnach laut Titel der Sektion zum Themenfeld gehört. Obwohl – darauf wurde in der Diskussion vermehrt hingewiesen – Historiker/innen dazu übergegangen sind, methodische Anleihen aus anderen Disziplinen für ihre Forschung nutzbar zu machen, hätte eine fachspezifische Systematisierung und Diskussion des methodischen Repertoires die Sektion sicher bereichert. Es ist anzunehmen, dass die Frage danach, wie Fernsehquellen analysiert werden können, Historiker/innen teilweise immer noch davon abschreckt, diese zu nutzen. Eine stärkere Einbindung methodischer Fragen in die Diskussion um audiovisuelle Quellen könnte daher dazu beitragen, dass die Forderung, dieses Material auch außerhalb der Mediengeschichte zu berücksichtigen, in zukünftigen Forschungsarbeiten vermehrt umgesetzt wird.

Sektionsübersicht:

Podiumsdiskussion

Frank Bösch (Potsdam)

Andreas Fickers (Maastricht)

Leif Kramp (Bremen)

Veit Scheller (Mainz)

Christoph Classen (Potsdam): Moderation

Anmerkungen:
1 Zu den verschiedenen Rollen, die ein Staat hinsichtlich der Archivierung audiovisuellen Materials einnehmen kann: Leif Kramp, Gedächtnismaschine Fernsehen, Bd. 2: Probleme und Potentiale der Fernseherbe-Verwaltung in Deutschland und Nordamerika, Berlin 2011, S. 54-69.
2 Christoph Classen / Thomas Großmann / Leif Kramp, Zeitgeschichte ohne Bild und Ton? Probleme der Rundfunk-Überlieferung und die Initiative „Audiovisuelles Erbe“, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 8 (2011), S. 130-140, hier S. 135; auch online unter <http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Classen-Grossmann-Kramp-1-2011> (03.10.2012).
3 Classen/Großmann/Kramp, Zeitgeschichte, S. 137-138.
4 Dazu zählt die Plattform Europeana, die unter anderem verschiedene virtuelle Ausstellungen zu bestimmten Themen zusammenfasst. <http://exhibitions.europeana.eu/> (03.10.2012). Für den Bereich der audiovisuellen Überlieferung ist zudem vor allem das an Europeana angegliederte und auf televisuelle Überlieferung konzentrierte Portal euscreen relevant, das Fickers ebenso vorführte <http://www.euscreen.eu/> (03.10.2012).
5 Sven Felix Kellerhoff, Der Zeitgeschichte gehen die Bilder aus, in: <http://www.welt.de/kultur/article109486086/Der-Zeitgeschichte-gehen-die-Bilder-aus.html> (03.10.2012).


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