Familie neu denken. Lebensgemeinschaften in interdisziplinärer Perspektive

Familie neu denken. Lebensgemeinschaften in interdisziplinärer Perspektive

Organisatoren
Johannes Gramlich / Felix de Taillez, LMU München; in Zusammenarbeit mit Martin Schmidt, LMU München; ProMoHist - Promotionsprogramm Modern History der LMU München
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.07.2012 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Matthias Kuhnert / Sebastian Rojek, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Wie die beiden Organisatoren und Moderatoren Johannes Gramlich und Felix de Taillez deutlich machten, diene die Veranstaltung dazu, die Perspektive der geschichtswissenschaftlichen Forschung auf Familie zu hinterfragen und ihr neue, interdisziplinäre Impulse zu verleihen. Zudem sollten Historiker/innen, die nicht dezidiert mit den Kategorien Familie und Lebensgemeinschaften arbeiten, für diese Thematik sensibilisiert werden. Die beiden Organisatoren, die im Rahmen des Verbundprojektes „Die Unternehmerfamilie Thyssen im 20. Jahrhundert“ promovieren1, betonten die Notwendigkeit, den oftmals unreflektiert benutzten Familienbegriff zu diskutieren und so für neue Fragestellungen nutzbar zu machen.

Um diesen Desideraten Rechnung zu tragen, wurde zur Förderung des Dialogs zwischen den Disziplinen auf Vorträge verzichtet und stattdessen anhand thematisch gebündelter Leitfragen in drei unterschiedliche Panels eingeführt. Hierzu gaben die geladenen Expert/innen aus den einzelnen Disziplinen jeweils kurze Statements ab, bevor die allgemeine Diskussion eröffnet wurde, an der sich auch das zahlreich erschienene Publikum beteiligte. Vertreten waren die Fächer: Geschichte (ANDREAS GESTRICH, London/Trier); MARGARETH LANZINGER, Wien/Hannover); SYLVIA SCHRAUT, München/Mannheim), Ethnologie (THOMAS REINHARDT, München), Jura (MARINA WELLENHOFER, Frankfurt am Main), Psychologie/Pädagogik (SABINE WALPER, München), Soziologie (PAULA-IRENE VILLA, München) und Theologie (MICHAEL DOMSGEN, Halle/Saale).

Zur Eröffnung gab SIMONE DERIX (München)2 eine Keynote, in der sie historische und soziologische Ansätze der Familienforschung zusammenführte und auf die Probleme des zwischen normativem Wertbegriff und analytischem Begriff schwebenden Familienkonzepts hinwies. Anhand dreier Vorschläge zielte sie auf Perspektiven, die der Familiengeschichte neue Impulse verleihen könnten:

1.) Familie als Ort des Privaten müsse hinterfragt werden, denn Familie sei immer auch ein Beziehungsgefüge, in dem ökonomisches Handeln praktiziert werde. Damit eng verknüpft sei die rechtliche Dimension, da es sich im Familienleben nicht nur um emotionale Intimbeziehungen handle, sondern auch um verrechtlichte Verbindungen.

2.) Familie müsse als Netzwerk betrachtet werden, das sich nicht in biologischer Verwandtschaft erschöpfe. So könnten Relationen innerhalb familialer Beziehungsgeflechte aufgeschlüsselt und Momente subjektiver Verwandtschaft und Akteure wie Kindermädchen oder Nachbarn einbezogen werden.

3.) Familie werde bisher viel zu monolokal gedacht. Im Gegensatz dazu sollten Momente der räumlichen Mobilität, Migrationsprozesse und transnationale Familienformen stärker berücksichtigt werden.

Zu Eröffnung des ersten Panels stellte Johannes Gramlich die Frage danach, was als Familie zu verstehen sei und welche Bedeutung die verschiedenen Beziehungsdimensionen Intimität, Recht und Ökonomie hatten und haben.

In den Statements der anwesenden Fachleute wurde rasch deutlich, dass die Sichtweisen auf Familie mindestens so vielfältig sind wie das Phänomen selbst: Ob Familie nun primär der Ort sei „wo Kinder geboren werden“ (Domsgen), Kernfamilien analytisch nur über ihre Einbettung in verschiedene Bezüge greifbar seien (Gestrich), über die Vielzahl unterschiedlicher Beziehungen entschlüsselt werden müssen (Lanzinger), oder aber – so die von Thomas Reinhardt vorgestellte ethnologische Perspektive – über die Vorstellung einer irgendwie substantiellen Verbindung zwischen Einzelnen und eine diffuse, andauernde Solidarität definiert werden könne, blieb zunächst unklar. Im Zweifel müsse forschungspragmatisch entschieden werden.

Pragmatisch sei auch die Sicht der Juristen, die über keine eindeutige Familiendefinition verfügen, damit das Recht auf wandelnde Bedingungen eingehen könne, so Marina Wellenhofer. Trotzdem ergäben sich auf verschiedenen Ebenen etwa im Scheidungsrecht oder in der Behandlung des Instituts Ehe immer wieder Kontradiktionen im Gesetz sowie Konflikte mit gelebter Praxis. So ergab sich Diskussionsstoff wie von selbst: Gegenwärtig dominiere der Eindruck einer zunehmenden Pluralisierung von Familie, obwohl statistisch nach wie vor die heterosexuelle Kernfamilie führend sei. Dieser medial vermittelte Eindruck mache die Vorstellungen davon, was Familie sei, für den Einzelnen zunehmend problematisch, wie Paula-Irene Villa und Sabine Walper hervorhoben. Nicht zuletzt an solchen Beobachtungen wurde deutlich, dass das Symposium offenbar einem gegenwärtigen Diskussionsbedarf entgegenkam. Dass allerdings der Wandel der Vorstellungen dessen, was Familie bedeute, selbst über eine lange Geschichte verfügt, demonstrierte Sylvia Schraut anhand dreier Lexikoneinträge aus dem 18. und 19. Jahrhundert. Hier wurde auch noch einmal deutlich, dass nur ein wandelbarer Familienbegriff – und hier herrschte Einigkeit – die Forschung weiterbringen könne.

Die Diskussion fokussierte sich zunehmend auf zwei Punkte. Zum einen wurde über die Rolle des Todes und seine Bedeutung für Familie debattiert. Dabei erschien die Schwelle des Todes als Sinngenerator für Familie, von dem aus nicht nur bestimmte Personen zusammengeführt werden, um an ihrer gemeinsamen Geschichte zu feilen, sondern hier treten auch ökonomische und emotionale Dimensionen in enge Verbindung.

Zum anderen kristallisierte sich eine Debatte um die Frage heraus, wer nun als Teil von Familie anzusehen sei und wer nicht. Dass die Vorstellung biologischer Verwandtschaft hier nicht unbedingt hilfreich sei, betonten sowohl die Historiker/innen, die auf eine deutlich erkennbare Biologisierung von Verwandtschaftsvorstellungen im Laufe der Moderne hinwiesen, als auch der Ethnologe Thomas Reinhardt, der auf außereuropäische Völker hinwies, die ganz ohne solche Vorstellungen auskämen.

Möglicherweise führen Vorstellungen, die Familie als ‚gemacht‘ ansehen, weiter, so dass auch Phänomene wie ‚Ersatzfamilien‘, sogenannte ‚Leihgroßeltern‘ oder Nannys erfasst werden können. Auch wenn hier keine Einigkeit erzielt werden konnte, ob etwa die genannten Phänomene Teil einer Familiendefinition sein sollten, oder aber analytisch nach wie vor von der klassischen Kernfamilie auszugehen sei, so zeichnete sich doch ab, dass der Familienbegriff noch großes Potential besitzt, vielfältige Perspektiven auf menschliche Lebensgemeinschaften zu eröffnen. Wahrscheinlich nicht nur auf diese, sondern auch auf Mensch-Tier-Beziehungen. Denn im Laufe der Diskussion kam auch die Frage auf, inwiefern (Haus-)Tiere emotionale und ökonomische Funktionen erfüllen und wie solchen Erscheinungen forschungstechnisch Rechnung zu tragen sei.

Das zweite Panel widmete sich der Pluralität von familialen Lebensformen und deren Konfliktpotential. Felix de Taillez wies einführend darauf hin, dass die Vielfalt familialer Vergemeinschaftung keineswegs ein junges Phänomen sei. Vielmehr hätten bereits weit vor dem 20. Jahrhundert vom normativen Bild der heterosexuellen Ehe abweichende Praktiken des Zusammenlebens existiert. Anregend sei daher vor allem die Frage nach dem Spannungsverhältnis zwischen vorherrschenden Diskursen über die Verfasstheit von Familie und der konkreten Lebenspraxis.

Im Anschluss daran wurden die gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse über den Status verschiedener Modelle familialer Gemeinschaften thematisiert. Hervorgehoben wurde zunächst die Kluft zwischen der aktuellen Gesetzgebung und der gelebten Pluralität. Als Beispiele dafür nannte Marina Wellenhofer die rechtliche Ungleichbehandlung homosexueller oder nichteingetragener Lebenspartnerschaften. Besonders in Bezug auf letztere sah sie eklatante Lücken in der bestehenden Rechtsprechung. Auch Sabine Walper sprach sich für eine Neubewertung der unterschiedlichen Lebensformen aus, denn aus einer Perspektive, die auf das Kindeswohl achte, seien keine normativen Vorstellungen, sondern die Qualität der Kooperation der jeweiligen Bezugspersonen entscheidend.

Ein weiterer wichtiger Punkt war die Thematisierung von Vaterschaft. Paula-Irene Villa identifizierte mit Blick auf die Populärkultur komplexe, emotionale Verhandlungsprozesse über den Wandel von Vaterschaft. Anhand der gesellschaftlichen Debatte über die Abgrenzung von sozialer und biologischer Vaterschaft würden sich neue Definitionen der Geschlechterrollen offenbaren. Diese intensive Auseinandersetzung über das Rollenverständnis von Vaterschaft führte Thomas Reinhardt darauf zurück, dass europäische und nordamerikanische Gesellschaften bisher noch keinen Modus gefunden hätten, um mit der biologischen Nachweisbarkeit genetischer Herkunft umzugehen. Als Kontrast dazu hob Reinhardt außereuropäische Gemeinschaften hervor, die überhaupt kein Verständnis von Vaterschaft kennten.

Darüber hinaus wurden die einleitenden Worte von Felix de Taillez aufgegriffen und die Pluralität verschiedener Familienmodelle in historischer Perspektive diskutiert. Ohne die Existenz abweichender Lebensformen in der frühen Neuzeit und im 19.Jahrhundert zu bestreiten, hob Sylvia Schraut für diesen Zeitraum die Ehe als einzig legitimen Ort von Elternschaft hervor. Zugleich sei diese aber bei weitem nicht der einzige Rahmen für Sexualität gewesen. Auch Margareth Lanzinger verdeutlichte noch einmal, dass diejenigen Praktiken des Zusammenlebens, die nicht den normativen Vorstellungen von Ehe und Familie entsprachen, in der Vergangenheit massivem Druck ausgesetzt waren, was sich etwa daran ablesen ließe, dass zahlreiche Menschen, – unabhängig von ihren finanziellen Möglichkeiten – großen Aufwand betrieben hätten, um ihre Partnerschaften legitimieren zu lassen. Andreas Gestrich wies mit Blick auf klösterliche Gemeinschaften, die sich selbst als Familien verstünden, noch einmal auf die Möglichkeiten sozialer Konstruktionen von Verwandtschaften hin, die parallel zur legitimen Ehe bestanden. Jedoch gehe Familie nie allein in solchen Konstruktionen auf, was etwa das starke Interesse an Genealogie belege. Aus theologischer Perspektive erläuterte Michael Domsgen den Zusammenhang von Gottesvorstellung und Familienbild, die sich in einem komplexen Wechselspiel gegenseitig bedingten. Ein Beispiel bilde der Wandel des Bildes vom strafenden zum vergebenden Gott, das in enger Korrespondenz mit der Entwicklung des liebenden und verständnisvollen Familienvaters gestanden habe.

In der Diskussion wurden insbesondere mögliche auslösende Faktoren für die Pluralisierung von Familienbildern aufgegriffen. Die allgemeine Ausweitung der als legitim angesehenen Lebensentwürfe wurde dabei als Folge technischer Revolutionen beschrieben. So habe die Entwicklung neuer Verhütungsmittel die Sexualität im öffentlichen Bewusstsein von der Fortpflanzung getrennt. Zugleich hätten sich die Zuschreibungen an alternative Gemeinschaftsformen, jenseits der Kernfamilie, grundlegend geändert.

Das dritte Panel setzte sich mit dem Thema „Migration, inter- und multikulturelle Familien bzw. Verbindungen“ auseinander. In seiner Einleitung hob Felix de Taillez das Aufbrechen der räumlichen Einheiten von Familie und Haushalt durch Migration hervor. Michael Domsgen verwies auf die Aushandlungsprozesse innerhalb interkultureller Familien auf dem Feld der Religion. Empirische Studien zeigten, dass sich hier eine Art von „Familienreligion“ herausbilde, die sich meist nach einem der Ehepartner richte, aber nichtsdestotrotz hochgradig vom kulturellen Kontext abhängig sei. Andreas Gestrich lenkte den Blick auf die verschiedenen Arten von Migration. So gelte es beispielsweise zwischen Armutsmigration und privilegierteren Formen zu unterscheiden. Diese verschiedenen Arten hätten auch unterschiedliche Auswirkungen auf das Familienleben von Migranten gehabt. Darauf aufbauend unterstrich Margareth Lanzinger, dass es notwendig sei, die Bedingungen von Migration genau zu betrachten, um deren Einfluss auf Familien abschätzen zu können. Ein gewichtiger Faktor seien demnach die Strukturen, die die Migranten in den Zielländern vorfänden.

Thomas Reinhardt argumentierte, dass Migration in den Heimatländern existente Muster von Familiengründung verändern könne. Gleichzeitig könnten getrennte Familienmitglieder häufig, trotz langjähriger räumlicher Trennung, auch unter völligem Abbruch des Kontaktes, meist ohne Probleme an ihre vorherigen Beziehungen anknüpfen, was wiederum ein Beleg für die langandauernde Solidarität sei. Ein Merkmal, das Familien vor anderen Gemeinschaften auszeichne. Sylvia Schraut insistierte demgegenüber darauf, dass Migration in der Vergangenheit zumeist mit weit gravierenderen Folgen für familiale Beziehungen verbunden gewesen sei, als heutzutage. Sie wies darauf hin, dass die Auswanderung von Teilen einer Familie oftmals sogar mit einem völligen Abbruch der Kommunikation verbunden war. Probleme in der aktuellen Migrationsdebatte thematisierte Paula-Irene Villa. Sie sprach sich dabei gegen die Verwendung eines statischen Kulturbegriffs aus. Dieser verdecke häufig die eigentlichen Probleme, wie etwa die Klassenlage. Marina Wellenhofer verdeutlichte abschließend einige juristische Schwierigkeiten in Bezug auf binationale Partnerschaften. Die Aufmerksamkeit der Behörden gelte vor allem sogenannten Scheinehen, der falschen Ankerkennung von Vaterschaften, Zwangsehen und Sorgerechtsstreitigkeiten.

Das Plenum beschäftigte sich noch einmal eingehend mit der Frage der kulturellen Identität. Oftmals würde diese erst durch Migration sichtbar. Das zeige sich einerseits an den Migranten, die sich in den Zielländern stärker auf ihre Wurzeln bezögen. Andererseits schärfe sich auch die Sichtweise der Einwanderungsgesellschaften auf ihre kulturellen Normen durch die Anwesenheit des Fremden.

Die Abschlussdiskussion machte klar, dass das Themenfeld „Familie“ noch keineswegs hinreichend erforscht ist. Das zeigte sich allein schon mit Blick auf die verschiedenen Konzepte und Begriffe, die in den vorherigen Panels debattiert wurden. Dennoch konnte konstatiert werden, dass die interdisziplinäre Ausrichtung des Symposiums es erlaubte, den Blick für den jeweils eigenen Begriff von „Familie“ zu schärfen und vermeintliche Gewissheiten zu hinterfragen. Familie oder Lebensgemeinschaft, darin war sich die Diskussionsrunde einig, ist im Idealfall der Ort, an dem Menschen – gleich welcher sexuellen Orientierung, welchen Geschlechts und Alters – füreinander da sind und sich gegenseitig Halt geben. Der Fürsorgeaspekt überzeugte als wesentliches Kriterium vor allem deshalb, weil er neben der Kindererziehung auch weitere familiale Lebensformen wie etwa das Pflegen anderer Menschen oder das Halten von Haustieren umfasst.

Konferenzübersicht:

Begrüßung und Eröffnung des Symposiums
Johannes Gramlich (München)
Felix de Taillez (München)

Teilnehmende Expert/innen
Michael Domsgen (Halle/Saale); Andreas Gestrich (London/Trier); Margareth Lanzinger (Wien/Hannover); Thomas Reinhardt (München); Sylvia Schraut (München/Mannheim); Paula-Irene Villa (München); Sabine Walper (München); Marina Wellenhofer (Frankfurt a. M.)

Moderation: Johannes Gramlich (München)/Felix de Taillez (München)

Keynote
Simone Derix (München)

Panel I: Bedeutung, Wechselverhältnis und Wandel von Intimitäts-,Rechts- und Vermögensbeziehungen in Familien und Lebensgemeinschaften

Panel II: Pluralität von familialen/gemeinschaftlichen Lebensformen und ihr Konfliktpotential

Panel III: Migration, inter- und multikulturelle Familien bzw. Verbindungen

Übergreifende Plenumsdiskussion

Anmerkungen:
1 Projektskizzen: <http://www.promohist.geschichte.uni-muenchen.de/personen/doktorandinnen/gramlich/index.html> (05.10.2012); <http://www.promohist.geschichte.uni-muenchen.de/personen/doktorandinnen/taillez/index.html> (05.10.2012).
2 Projektskizze: <http://www.ngzg.geschichte.uni-muenchen.de/personen/ls_szoelloesi/simone_derix/forschungsprojekt.html> (05.10.2012)


Redaktion
Veröffentlicht am
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts