HT 2004: Gestörte Kommunikation: Begriffstransfer zwischen Ost und West

HT 2004: Gestörte Kommunikation: Begriffstransfer zwischen Ost und West

Organisatoren
Jörg Baberowski
Ort
Kiel
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.09.2004 - 17.09.2004
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Von
Frithjof Benjamin Schenk, München

Das Verhältnis von Rußland und Westeuropa zählt zu den großen und konstitutiven Themen der Osteuropäischen Geschichte. Die Orientierung an westlichen Vorbildern prägte seit dem 17. Jahrhundert und insbesondere seit der Regentschaft Peters des Großen maßgeblich die gesellschaftliche, kulturelle und politische Entwicklung des Zarenreiches. Der vergleichende Blick gen Westen führte bekanntermaßen zu einem umfassenden Kulturtransfer von West nach Ost, u.a. auf den Gebieten der staatlichen Institutionen und Verwaltung, des Rechts, des Militärwesens, der Literatur oder des höfischen Zeremoniells. Auch für die Wahrnehmung Rußlands aus westlicher Perspektive war die vergleichende Betrachtung des Landes mit der Entwicklung und der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse im lateinischen Europa seit der "Entdeckung" des Zarenreiches im 16. Jahrhundert maßgeblich. Nicht nur die ersten westlichen Reisenden legten bei der Beschreibung der russischen Lebensverhältnisse in ihren Reiseberichten meist eigene Maßstäbe an, auch der wissenschaftliche Diskurs über die Geschichte des Zarenreiches war bei uns lange Zeit von einem impliziten und oft nicht reflektierten komparativen Ansatz geprägt. Aus dieser Perspektive präsentierte sich die Geschichte Rußlands im Westen lange Zeit vorwiegend als eine Geschichte der Defizite bzw. des Mangels westlicher Institutionen und Entwicklungen.

Dieses Problemfeld des Kulturtransfers von West nach Ost auf der einen und des westlichen Blicks auf die Geschichte Rußlands bzw. der Sowjetunion auf der anderen Seite wurde in der Sektion "Gestörte Kommunikation - Begriffstransfer zwischen Ost und West" aus einer begriffsgeschichtlichen Perspektive beleuchtet. Gegenstand des Panels, das Jörg Baberowski (HU Berlin) moderierte, war zum einen die Frage nach der Transfergeschichte von Begriffen bzw. Vorstellungen aus dem Westen ("Eigentum" und "Ehre") nach Rußland und zum anderen die Frage nach der Anwendbarkeit westlicher Konzepte zur Beschreibung komplexer historischer Zusammenhänge ("Säkularisierte Moderne" und "Kolonialismus") auf die rußländische bzw. sowjetische Geschichte.

Martina Winkler (HU Berlin) befaßte sich in ihrem Vortrag mit der Transfergeschichte des Begriffes "Eigentum" nach Rußland im 18. Jahrhundert und mit dem damit verbundenen Problem, wie über Eigentum in der russischen Geschichte angemessen gesprochen werden könne. Der russische Begriff "sobstwennost", der von Katharina II. als direkte Übersetzung des deutschen "Eigentum" in die russische Rechtsterminologie eingeführt wurde, verfügte anders als sein deutsches Pendant nur über ein sehr begrenztes Bedeutungsspektrum. "Sobstwennost" bezeichnete allein das absolute, individuelle und unangreifbare Eigentum. Dieser "geschlossene Begriff", so Winkler, erinnere eher an zeitgenössische englische und französische Diskurse denn an den "offenen" deutschen Begriff "Eigentum". In erster Linie zielte die Einführung des Begriffes "sobstwennost" in der russischen Rechtsterminologie darauf ab, Katharina II. der Welt als aufgeklärte Monarchin zu präsentieren. Im juristischen Sprachgebrauch des Alltags, sei es in Petitionen des Adels oder in Testamenten, konnte sich "sobstwennost" nicht gegen konkurrierende, ältere Begriffe wie "wladenie" (Besitz) oder "imuschtschestwo" (Habe) durchsetzen.

Der Begriff blieb abstrakt und fand allein in der Rechtswissenschaft und dem politischen Diskurs Verwendung. Winkler unterstrich, daß bei der Betrachtung der Geschichte von Eigentum in Rußland die Bedeutungsgeschichte des Begriffes "sobstvennost'" nicht ignoriert werden dürfe. Der nicht deckungs- bzw. bedeutungsgleiche deutsche Begriff "Eigentum" eigne sich in diesem Zusammenhang nur sehr bedingt als analytische Kategorie, zumal er auch normativ geladen sei. Um der Gefahr zu begegnen im Zuge einer vergleichenden Geschichte von Eigentum in Europa, die Entwicklung Rußlands erneut nur als eine Geschichte der Abweichung von einer westlichen Norm zu beschreiben, plädierte Winkler für eine Bedeutungserweiterung der analytischen Kategorie "Eigentum", die der Vielfalt der Ausprägungen von Eigentumsvorstellungen in Europa sowohl in historischer als auch in kultureller Hinsicht Rechnung tragen müsse.

In ihrem Vortrag über "Ehre" und seine Bedeutung für das russische Beamtentum im 19. Jahrhundert hatte sich Susanne Schattenberg (HU Berlin) nicht mit dem Transfer eines neuen Begriffes von West nach Ost, sondern mit der Anwendung spezifisch westlicher Vorstellungen von Ehre auf die russische Gesellschaft auseinanderzusetzen. Russische Beamte wurden bereits von ihren Zeitgenossen fast einmütig als "ehrlos" und "korrupt" wahrgenommen, ein Bild, das sich bis heute auch in Werken der westlichen Historiographie wiederfindet. Die zeitgenössische Darstellung der Staatsdiener in einem so negativen Licht lasse sich, so Schattenberg, mit der Verwestlichung der russischen Verwaltungstheorie seit Peter dem Großen und der Schaffung eines neuen Verhaltenskodex für Beamte erklären, der an die Stelle des traditionellen Gabentauschs ("kormlenie") die staatliche Bezahlung der Beamten setzte und die Beförderung der Staatsdiener innerhalb der Rangtabelle (zumindest auf dem Papier) von Leistungskriterien abhängig machte. Jedes abweichende Verhalten von dieser neuen, "westlichen" Norm mußte den Vorgesetzten, die allein schriftliche Quellen hinterließen, als "ehrlos" erscheinen.

Demgegenüber zeigte Schattenberg, daß auch jene niederen russischen Beamte, die gegen diese neuen Normen verstießen, durchaus über ein Ehrgefühl verfügten. Allerdings verstanden sie unter "Ehre" ("tschest") etwas ganz anderes als der ideale "moderne Beamte", den wir aus den Schriften Max Webers kennen. Für den russischen Beamten sei die Annahme von Geschenken oder Geld nicht eine ehrlose Handlung, sondern vielmehr eine Form der Ehrerweisung gewesen. Die Höhe der Zuwendungen wurde als Anerkennung eines bestimmten gesellschaftlichen Ranges gesehen, eine Praxis, die durch die Einführung der Rangtabelle durch Peter I. nicht gelockert, sondern sogar noch verfestigt worden sei. Es greife daher zu kurz, so Schattenberg, den russischen Beamten an westlichen Maßstäben und Ehrvorstellungen zu messen. Vielmehr müsse der Blick auch auf die Vorstellungswelt des historischen Subjekts und die für ihn maßgeblichen Normen gerichtet werden.

Ricarda Vulpius (FU Berlin) setzte sich in ihrem Vortrag über die "Säkulare Moderne" kritisch mit der These auseinander, die Epoche der Moderne sei in Europa allgemein von einem Bedeutungsverlust der kirchlich verfaßten Volksreligion geprägt gewesen. Diese Annahme, die von westlichen Autoren v.a. mit Blick auf die Geschichte des lateinischen Europa entwickelt worden sei, habe auch innerhalb der Fachdisziplin der Osteuropäischen Geschichte zu der fatalen Annahme geführt, daß Religion auch bei der Betrachtung zentraler gesellschaftlicher Phänomene der Moderne in Osteuropa, wie z.B. der Nationsbildung und des Nationalismus', als maßgeblicher Faktor vernachlässigt werden könne. Demgegenüber plädierte Vulpius für eine verstärkte Berücksichtigung von Religion und Konfession im Rahmen der Erforschung der Nationenbildung in Osteuropa.

Ihre Argumente verdeutlichte sie am Beispiel der ukrainischen Nationsbildung im späten Zarenreich bzw. der Nationalisierung des orthodoxen Klerus in der sog. Dnjepr-Ukraine. Anders als die Vertreter der Säkularisierungsthese behaupten, könne man, so Vulpius, im späten 19. Jahrhundert in Rußland sogar eine De-Säkularisierung des politischen Lebens beobachten. Innerhalb des Diskurses ukrainophiler Geistlicher in den russisch beherrschten ukrainischen Gebieten sei z.B. die anhaltende Bedeutung konfessioneller Identifikationsmuster - die Abgrenzung von der römisch-katholischen bzw. der unierten Kirche und die Anlehnung an die "orthodoxe Schutzmacht" Rußland - nachweisbar. Die Persistenz dieser konfessionellen Identifikationsmuster habe eine Nationalisierung des orthodoxen Klerus in der Dnjepr-Ukraine weitgehend verhindert und so die ukrainische Nationalbewegung einer ihrer potentiellen Trägergruppe beraubt. Die Zugehörigkeit zur orthodoxen Konfession spaltete also weit mehr, als die Zugehörigkeit zu einer entstehenden ukrainischen Nation verband. Vulpius' Darlegungen machen deutlich, daß dem Faktor der Religion noch größere Bedeutung innerhalb der Nationalismusforschung zukommen sollte. Eine Erkenntnis, gewonnen an einem osteuropäischen Beispiel, deren Bedeutung jedoch weit über dieses hinaus weist.

Julia Obertreis (Universität Freiburg) schlug mit ihrem Beitrag über die Anwendbarkeit des analytischen Begriffs "Kolonialismus" auf die Geschichte der Sowjetunion den Bogen ins 20. Jahrhundert. Im Mittelpunkt ihrer Darlegungen stand die Frage, ob sich die Herrschaft der Bolschewiki in Zentralasien als eine Form des Kolonialismus beschreiben lasse und wie der Begriff des "Kolonialismus" in diesem Falle zu definieren sei. Während die Herrschaft des zarischen Rußland in Turkestan im 19. Jahrhundert in der Forschung fast einmütig als Form kolonialistischer Machtausübung charakterisiert werde, sei die Beurteilung der sowjetischen Herrschaft in Zentralasien in verschiedenen Historiographien sehr unterschiedlich ausgefallen. Während die US-amerikanische Forschung nach 1945 die sowjetische Herrschaft in Zentralasien durchaus als Kolonialismus beschrieben habe und der Begriff oft mit dem "Totalitarismus"-Begriff verknüpft worden sei, lehnten dies sowjetische Wissenschaftler kategorisch ab. Aus sowjetischer Perspektive konnte es koloniale Herrschaft nur in einem kapitalistischen System geben. "Kolonialismus" war für beide Lager des Kalten Krieges also in erster Linie ein politischer "Kampfbegriff".

Ungeachtet dieses normativen begriffshistorischen Ballastes plädierte Obertreis für die Arbeit mit einem "Kolonialismus"-Begriff als analytischer Kategorie, wie er von Jürgen Osterhammel definiert worden ist. Zentrale Aspekte dieser Definition, wie z.B. die Vorrangigkeit externer Interessen bei der Ausübung von Herrschaft oder das Sendungsbewußtsein der herrschenden Gruppe und deren Bewußtsein kultureller Höherwertigkeit, treffen auch auf den Fall der sowjetischen Herrschaft in Zentralasien zu. Andere Aspekte des "Kolonialismus"-Begriffes, wie z.B. die Annahme einer klaren Dichotomie zwischen Kolonialherren als einer andersartigen und kaum anpassungsfähigen Minderheit auf der einen und der Masse der Kolonisierten auf der anderen Seite, seien in diesem Kontext jedoch zu modifizieren. Aus diesem Grund plädierte Obertreis für die Arbeit mit einem abgewandelten Kolonialismus-Begriff. Er ermögliche nicht nur eine Vergleichbarkeit des sowjetischen Beispiels mit anderen Fällen, sondern böte auch die Möglichkeit, die colonial studies mit Überlegungen aus dem sowjetischen Kontext zu bereichern.

Die Vorträge und die Diskussionen der Sektion "Gestörte Kommunikation - Begriffstransfer zwischen Ost und West" machten einmal mehr deutlich, daß sich die Osteuropäische Geschichte auch in Zukunft verstärkt mit Fragen des Kulturtransfers - auch in begriffsgeschichtlicher Hinsicht - befassen sollte. Daß dabei nicht nur die Prozesse der Selektion, Adaption und Modifikation westlicher Kulturgüter in den Blick genommen werden sollten, die von West nach Ost wanderten, sondern in gleichem Maße auch der Blick des "Westens" auf Rußland, hat der konzeptionelle Ansatz des Panels gezeigt. Erst wenn sich die westliche Rußlandhistoriographie von den Fesseln jener Entwicklungstheorien befreit, die den Blick vorwiegend auf Phänomene lenken, die vorhanden sein "sollten", es aber nicht "sind", wird es möglich sein, eine Geschichte Rußlands zu schreiben, die sich nicht primär als eine Defizitgeschichte liest.

http://www.historikertag.uni-kiel.de/
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