Im Schatten des urbanen Sozialismus – Ländliches Leben und Migration in der Sowjetunion der Nachkriegsjahrzehnte

Im Schatten des urbanen Sozialismus – Ländliches Leben und Migration in der Sowjetunion der Nachkriegsjahrzehnte

Organisatoren
Deutsches Historisches Institut Moskau; Lehrstuhl für Neuere und Osteuropäische Geschichte, Historisches Seminar, Universität Freiburg; Universität Stavropol
Ort
Moskau
Land
Russian Federation
Vom - Bis
19.04.2012 - 21.04.2012
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Von
Jörg Stadelbauer, Institut für Kulturgeographie, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Wie wirkte sich die betont städtisch-industrielle Entwicklung auf den ländlichen Raum Russlands aus? Welche Rahmenbedingungen im ländlichen Raum förderten eine Abwanderung in die Städte? Wie wurde die Land-Stadt-Migration für den industriellen Aufbau der Sowjetunion von behördlicher Seite gesteuert? Welche Rolle spielten planerische Direktiven, welche individuellen Entscheidungen steuerten die Wanderungen? Mit diesen Fragen setzte sich eine Konferenz am Deutschen Historischen Institut (DHI) Moskau auseinander. Sie stand im Zusammenhang mit einem von der DFG geförderten Forschungsprojekt „Steuerbarkeit der Migration im Stadt-Land-Kontinuum“ und einem am DHI in Vorbereitung befindlichen Forschungsprojekt zu den ländlichen Lebensverhältnissen im Kolchosdorf der Brežnev-Zeit.

Die von Nikolaus Katzer (DHI Moskau) und Dietmar Neutatz (Universität Freiburg) gemeinsam mit Vitalij Belozërov (Staatsuniversität Stavropol’) konzipierte Konferenz brachte Spezialisten aus Russland, Deutschland und Japan als Vertreter der historischen Wissenschaften, der Agrarwissenschaft und der Geographie zusammen. Die organisatorische und logistische Betreuung der Konferenz vor Ort lag in der Hand von Katja Bruisch (DHI Moskau).

Die Konferenz eröffnete NIKOLAUS KATZER (Moskau). Er arbeitete den inneren Zusammenhang der beiden Forschungsprojekte heraus, der sich aus dem Blick auf ländliche Lebenswelten und Kulturen ergibt, für die in der jüngeren Osteuropäischen Geschichte besonderer Forschungsbedarf besteht.

Sektion 1 behandelte ländliche Lebenswelten und Kontexte für die Land-Stadt-Migration. Einführend entwarf DIETMAR NEUTATZ (Freiburg) eine detaillierte Periodisierung der Land-Stadt-Migration im 20. Jahrhundert. Jeder Wechsel in der Migrationspolitik ist als Reaktion auf vorher aufgetretene Unzulänglichkeiten anzusehen. Dies ist bereits eine vorläufige Antwort auf die Frage der Steuerbarkeit von Migration: Wanderungsströme konnten nur bedingt auf administrativem Weg den Bedürfnissen der in Aufbau und Strukturwandel begriffenen Wirtschaft angepasst werden.

TAT’JANA GRIGOR’EVNA NEFËDOVA (Moskau) ging auf die Rückwirkungen der Land-Stadt-Migrationen für die Landwirtschaft ein. Sie beleuchtete drei „Mythen“, die sich in der Forschung über den ländlichen Raum Russlands beharrlich halten: (a) Das Argument, natürliche Widrigkeiten seien verantwortlich für die geringe Produktivität der Landwirtschaft, lässt sich durch den Vergleich mit anderen Ländern, in denen ähnlich ungünstige Bedingungen herrschen, leicht entkräften. (b) Die in die 1980er-Jahre steigenden Investitionssummen für die Sowjetlandwirtschaft zeigen, dass die relative Rückständigkeit des ländlichen Raumes nicht der vorrangigen Entwicklung städtischer Industrie geschuldet ist. (c) Die aktuelle Gleichzeitigkeit von Arbeitskräfteüberschuss und -defizit erklärt sich aus räumlichen Differenzierungen zwischen Nord und Süd, West und Ost sowie Zentrumsnähe und Peripherität, nicht aus der Transformation.

Mit ŽANNA ANTONOVNA ZAJONČKOVSKAJA (Moskau) umriss die beste Kennerin der in Russland ablaufenden Migrationsprozesse die Rahmenbedingungen, unter denen die Migrationen erfolgten. Sie verwies auf den die demographische Entwicklung des gesamten 20. Jahrhunderts bestimmenden, noch nicht abgeschlossenen Verstädterungsprozess und die zunehmende räumliche Konzentration der Bevölkerung. Die Land-Stadt-Migration bestimmt als wichtigste Erscheinung räumlicher Bevölkerungsbewegung das hohe Maß an Mobilität in der russischen Gesamtbevölkerung.

PAVEL POLIAN (Moskau / Freiburg) präsentierte in einem gemeinsam mit Georgij Michailovic Lappo und Tat’jana Selivanova erarbeiteten Vortrag eine Übersicht über die städtischen Agglomerationsräume Russlands. Er plädierte dafür, die Bevölkerung der Agglomerationen als eine eigenständige Kategorie neben städtischer und ländlicher Bevölkerung zu sehen, bei der zugewanderte Landbewohner in den Außenbereichen an ländlichen Lebens- und Verhaltensformen festhalten.

Die Diskussion zeigte Alternativen zu der vorgetragenen Periodisierung, machte aber zugleich deutlich, dass jegliche Periodisierung von der Gewichtung einzelner Phänomene abhängt. Ferner wurde auf die notwendige Unterscheidung zwischen ländlicher Bevölkerung und ländlicher Beschäftigung und auf die Unvollkommenheit statistischer Definitionen verwiesen. Insgesamt unterstützte die Diskussion die Argumentation von Tatjana Nefëdova.

Die Sektion 2 widmete sich der Frage, ob und in welchem Maße die Land-Stadt-Migration steuerbar ist und welche politischen Instrumente hierfür entwickelt wurden.

PAVEL POLIAN (Freiburg / Moskau) hob in seinem Vortrag auf das Instrumentarium ab, das im ausgehenden 19. Jahrhundert bei Umsiedlungsvorhaben geschaffen wurde und das eine Zusammenarbeit zwischen Justizorganen, Umsiedlungsbehörde und landwirtschaftlichen Institutionen erforderte. Daraus leitete sich die Tradition ab, die Hauptverwaltung für Umsiedlungsfragen in der frühen Sowjetzeit bis 1936 dem Landwirtschaftsministerium unterzuordnen. Eine völlig andere institutionelle Einbindung hatten die Zwangsmigrationen der Stalinzeit, die von Organen des Innenministeriums vorgenommen wurden. Die ethnischen Deportationen der 1940er-Jahre erforderten eine Zusammenarbeit zwischen Regierung und Partei.

THOMAS BOHN (Gießen) griff das Beispiel des in der Nachkriegszeit wieder aufgebauten Minsk auf, um die Zuwanderung in „geschlossene Städte“ vor Augen zu führen. Es gelang den Behörden nicht, die wegen Knappheit an sanitär einwandfreiem Wohnraum eingeführten Zulassungsbeschränkungen durchzusetzen, wie sie Chruščëv mit dem Ziel einer gleichmäßigeren Bevölkerungsverteilung eingeführt hatte. Vielmehr schuf ein kompliziertes System von Ausnahmeregelungen einen Ausgleich zwischen den Ansiedlungswünschen von Migranten, dem von Moskau gesteuerten Ausbau der weißrussischen Hauptstadt und der dort dominierenden Zurückhaltung bei der Vergabe von Zuzugsbewilligungen. Der Mangel an Wohnraum bremste die Zuwanderung in weitaus höherem Maße als Zuzugsbeschränkungen.

Der Kommentar von JÖRG STADELBAUER (Freiburg) verwies auf eine Analogie zwischen dem sowjetischen Wirtschaftssystem und den Migrationenprozessen: Wie sich neben der Zentralverwaltungswirtschaft eine bedeutende und effiziente Schattenwirtschaft herausbildete, gab es neben den Steuerungsansätzen für Migration immer spontane Wanderungen, die Menschen mit hohem Arbeitswillen zu den Schwerpunkten städtisch-industrieller Entwicklung und moderner Raumerschließung führte. Nicht planbare Vorgänge erschwerten eine geordnete Zuwanderung; imperativ auferlegte Zuwanderungsraten der zentralen Behörden waren von den regionalen und lokalen Verwaltungen nur schwer umzusetzen.

Die Diskussion konzentrierte sich auf das anschaulich vorgetragene Beispiel der Stadt Minsk und warf die Frage der Übertragbarkeit auf andere „geschlossene Städte“ auf. Tatsächlich bestätigt sich das am weißrussischen Beispiel gewonnene Bild und relativiert die Steuerbarkeit von Migrationen im Zusammenhang mit der die Verstädterung vorantreibenden Industrialisierung. Auch die Zwangsmigrationen wurden auf den Verwaltungs- und Parteiebenen ausgehandelt.

Sektion 3 ging am Beispiel von Verfügbarkeit, Gewinnung und Umsetzung von Datenmaterial zur Migration auf methodische Probleme einer adäquaten Interpretation ein.

DMITRIJ BOGOJAVLENSKIJ und NIKITA MKRTČJAN (beide Moskau) beleuchteten in Teilreferaten die Datenlage der Vor- und Nachkriegszeit. Während in der Vorkriegszeit die Anmeldung von Migranten einigermaßen verlässliche Hinweise gibt, die jedoch nicht in die allgemeine Bevölkerungsstatistik einfloss und mühsam erhoben werden muss, wurde die Migrationsstatistik nach der weitreichenden Erhebung 1970 erneut schlechter. Studierende wurden vielfach doppelt am Studienort und am Heimatort erfasst, so dass sich für die Hochschulorte überhöhte Zahlen ergeben. Um den angestrebten höheren Verstädterungsgrad zu erreichen, dürfte auch die ländliche Bevölkerung mit niedrigeren als den tatsächlichen Werten angegeben worden sein. Die Auswanderungswerte wurden ebenfalls eher nach unten korrigiert. In postsowjetischer Zeit änderten sich mehrfach die Bestimmungen, die für die Registrierung von Migranten galten. Dadurch sind Zeitreihen nur mit Einschränkung zusammenstellbar.

VITALIJ BELOZEROV (Stavropol’) zeigte am regionalen Beispiel Nordkaukasien, speziell der Region Stavropol’, welche Möglichkeiten sich aus dem Einsatz Geographischer Informationssysteme (GIS) für die Erfassung, Verarbeitung und Interpretation von Bevölkerungsdaten ergeben. Auf verschiedenen Maßstabsebenen lassen sich anhand der in eine Datenbank eingegebenen Indikatoren mithilfe eines GIS detaillierte Analysen vornehmen. Für die Region Stavropol’ ist in den 1960er-und 1970er-Jahren eine ausgeprägte Land-Stadt-Wanderung nachweisbar; ländliche Räume erlebten nur in einzelnen Fällen Wanderungsgewinne. Bis Anfang der 1990er-Jahre verringerte sich zwar die Land-Stadt-Wanderung, doch erlebte die Region einen bedeutenden Zustrom ethnischer Gruppen aus Nachbargebieten.

ANDREJ TREJVIŠ (Moskau) zeigte, dass der herkömmliche Migrationsbegriff die Vielfalt aktueller räumlicher Mobilität nicht abbilden kann. Phänomene wie die saisonale Arbeitsmigration oder die kurzfristige berufliche oder bildungsbezogene Bewegung (in der westlichen Literatur heute meist als Zirkulation bezeichnet) gewannen gegenüber der „klassischen“ Migrationsforschung in den 1970er-Jahren an Bedeutung. In der Gegenwart zeigt sich der Mensch als „homo mobilis“; anschaulich wird das am Beispiel Moskaus, wo man davon ausgehend kann, dass an einem Sommerwochenende mehrere Millionen Menschen die Stadt für einen kurzfristigen Aufenthalt in der Umgebung verlassen.

ALEKSANDR PANIN (Stavropol’) übertrug die zentrographische Berechnungsmethode für einen regionalen Bevölkerungsschwerpunkt auf die quantifizierende Migrationsanalyse. Auch bei diesem Ansatz wurde deutlich, welche Bedeutung eine umfassende Migrationsstatistik für die interpretierende Analyse besitzt.

In seinem Kommentar verwies der Wirtschaftswissenschaftler KAZUHIRO KUMA (Tokyo) auf die Vielfalt der Migrationsbewegungen im Gebiet der früheren Sowjetunion. Sein Kommentar der Vorträge hob den Mangel an einschlägigem Datenmaterial hervor. Ergänzend konnte er Zahlenmaterial zum Zustrom in die bedeutendsten Industriestädte vorlegen und darauf verweisen, dass im Vergleich zu dieser Wanderung der interregionale Austausch relativ gering ist. Ob die zentrographische Methodik für Migrationen sinnvoll einzusetzen ist, bleibt fragwürdig.

Die Diskussion vertiefte sich weniger in die methodischen Feinheiten und berührte kaum die Frage unzureichender statistischer Dokumentation. Vielmehr wurden Fragen der hinter der Vielfalt von Mobilitäts- und Migrationserscheinungen stehenden Prozesse aufgegriffen. Dabei zeigten sich Forschungsdefizite bei einer gründlichen Analyse der ländlichen Lebensverhältnisse. Damit wurde bereits eine Brücke zur nächsten Sektion geschlagen.

Sektion 4 erörterte schwerpunktmäßig diese Lebensverhältnisse in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg und zeigte dabei eine große methodische Spannweite empirischer Untersuchungen, die durch den Zugang zu neuen archivalischen Unterlagen ermöglicht wird.

SERGEJ ALYMOV (Moskau) diskutierte die Quellensituation für Studien über die Lebensverhältnisse in der Sowjetunion unter Chruščëv und Brežnev. Er ging insbesondere am Beispiel der oblasti Tambov und Voronež auf bislang kaum ausgewertete Protokolle ein, die im Zusammenhang mit Eingaben aus der Bevölkerung oder mit Mängelberichten erstellt wurden.

ALEKSANDR NIKULIN (Moskau) beschrieb den Niedergang der dörflichen Strukturen in den 1960er-und 1970er-Jahren. Eine funktionalistische Raumordnungspolitik forcierte die Verstädterung und trug damit zum Verlust an dörflichen Identitätsankern bei. Da auch Sovchoz und Kolchoz mit zunehmender Durchschnittsgröße immer mehr großen Industriebetrieben ähnelten, erschwerten die sowjetischen Betriebsformen der Landwirtschaft den Erhalt ländlicher Kultur.

VALERIJ VINOGRADSKIJ (Saratov) dokumentierte mit einem eindrucksvollen Filmbeitrag, der anthropologische Feldstudien zu Beginn der 1990er-Jahre mit einer aktuellen Lehrveranstaltung verknüpfte, den Wahrnehmungswandel zwischen der älteren Landbevölkerung vor zwei Jahrzehnten und heutigen Studierenden. Aspekte des kollektivierten bäuerlichen Hofes in den 1950er-und 1960er-Jahren und damit verbundene Lebensumstände sowie die Rezeption dieser Lebenswelt durch Studierende der gegenwärtigen Generation standen im Vordergrund. Besonders hervorgehoben wurden die Bedeutung des Hoflandes, der Rückgang der Einwohnerzahl, das Verschwinden kleiner ländlicher Siedlungen, aber auch die alltägliche Kriminalität. Das Funktionieren des sowjetischen Großbetriebs beruhte letztlich auf kontinuierlichen Kompromissen, die die Kolchozverwaltung einzugehen hatte.

ANGELA HAAS (Freiburg) legte als Zwischenbericht aus einem Dissertationsvorhaben Ergebnisse von Befragungen vor, die in Ekaterinburg und Pervoural’sk (Sverdlovskaja oblast’) vorgenommen worden waren. Die quantitative Analyse lässt erkennen, dass persönliche Netzwerke bei der individuellen Entscheidung für oder gegen eine Migration wichtiger als behördliche Regulierungen waren. Der Wunsch nach besserer Ausbildung, die Unzufriedenheit mit dem Wohnort oder mit dem Arbeitsplatz erwiesen sich als wichtige Migrationsmotive, Einkommensfragen als nachgeordnet.

In seinem Kommentar erinnerte STEPHAN MERL (Bielefeld) an Besonderheiten der Land-Stadt-Migration unter den Bedingungen der Sowjetunion. Wegen der Stagnation der Arbeitsproduktivität blieb der Anteil landwirtschaftlich Beschäftigter an der ländlichen Bevölkerung dauerhaft hoch. Die hohe Abwanderungstendenz bei der Jugend in der Sowjetzeit lässt auch in der Gegenwart qualifizierte Arbeitskräfte für moderne Landtechnik fehlen. Seit Mitte der 1960er-Jahre wirft der Rückgang der durchschnittlichen Lebenserwartung zusätzliche Probleme auf. Die pasportizacija zog bis in die 1970er-Jahre eine hohe Abwanderung von Jugendlichen im Zusammenhang mit dem Militärdienst oder dem Studium nach sich; später trat ein Verlust mittlerer Altersgruppen hinzu.

Sektion 5 beleuchtete unter historischer und kulturologischer Perspektive das Alltagsleben auf dem Dorf.

LJUDMILA MAZUR (Ekaterinburg) analysierte sowjetische Spielfilme und konnte einen deutlichen Funktionswandel der (relativ wenigen) Filme mit ländlichem Hintergrund feststellen: Stand am Anfang eine gewisse Mythologisierung des Landlebens im Vordergrund, trat im Lauf der Zeit die Erziehungsfunktion deutlicher hervor, in der jüngeren Vergangenheit eine Darstellung des realen Landlebens, wie es in der Dorfprosa charakteristisch ist. In der Gegenwart treten Dorfprosa und Dorffilm deutlich zurück.

GENNADIJ KORNILOV (Ekaterinburg) präsentierte Ergebnisse von Untersuchungen zum ländlichen Leben im Uralgebiet nach dem Zweiten Weltkrieg. Er konnte auf eine relativ gute Quellenlage verweisen, so bei der Arbeitstätigkeit, beim gesellschaftlichen Leben, bei der regionalen Agrarpolitik, aber auch auf Quellen für Alltag, Finanzierungsfragen und landwirtschaftliche Produktion. Selbst die Missernte, die 1946 die oblast’ Sverdlovsk heimsuchte, ist gut dokumentiert.

DMYTRO MYESHKOV (Freiburg) stellte Lebenswelten von ländlichen Migranten in Sverdlovsk dar. Das Einzelschicksal eines aus Kursk stammenden Industriearbeiters, der in mehreren Etappen nach Sverdlovsk kam, ließ die sonst meist nur über Statistiken und Verallgemeinerungen fassbaren Wanderungen lebendig werden. Die Mobilisierung von Arbeitskräften für den Industrieausbau begann 1940. Jeder Kolchoz hatte zwei Personen je hundert Kolchozmitglieder zu benennen, die in die Arbeitsarmee eingegliedert werden sollten. Allerdings war das Potential des ländlichen Raumes dabei relativ rasch erschöpft.

Die Literaturwissenschaftlerin CHRISTA EBERT (Frankfurt/Oder) ordnete Beispiele der russischen Dorfprosa in den Kontext des ländlichen Alltags ein und zeigte am Beispiel von drei Erzählungen des sibirischen Schriftstellers Valerij Rasputin, in welchem Maße aktuelle Umweltprobleme aufgegriffen und einer scheinbar intakten Dorfrealität gegenübergestellt wurden. Zentrale Thematik ist der durch die Modernisierung hervorgerufene Werteverlust; daraus ergibt sich eine Kritik an der Modernisierung, die auch zu einer Kritik an sozialistischen Großprojekten wird. Das Land wird als moralischer Gegenpol zur Stadt gesehen. Dies erinnert an slawophile Tendenzen des 19. Jahrhunderts.

PAVEL POLIAN (Freiburg /Moskau) fasste in seinem Kommentar wesentliche Aspekte der vier Präsentationen zusammen. Abschließend kommentierte der Bevölkerungswissenschaftler ALAIN BLUM (Paris) Ablauf und Beiträge der Konferenz. Er unterstrich, dass die häufigen Brüche in der Migrationspolitik auf problematische Situationen oder verfehlte politische Entscheidungen reagierten. Eine russische Besonderheit ist die Verknüpfung von Migration mit Binnenkolonisation. Am Beispiel Russlands lässt sich das Nebeneinander von organisierter und nicht organisierter Migration modellhaft untersuchen. Hinsichtlich der Einordnung in den individuellen Lebenszyklus lassen sich keine eindeutigen Aussagen machen; vor allem erscheint die Migration nicht als eine generelle Auseinandersetzung mit dem gesamten Lebensweg, sondern jeweils als Einzelphänomen.

Die abschließende Diskussion verwies auf die Bedeutung der Politik, machte aber zugleich deutlich, dass die Land-Stadt-Wanderung überwiegend nicht gelenkt vor sich ging und damit auch nur bedingt gesteuert werden konnte. Ihre Erklärung erfordert die Berücksichtigung zahlreicher Faktoren, die sowohl die Situation auf dem Land, die pull-Faktoren der Stadt, aber auch individuelle familiäre Bezüge und Wünsche umfassen. Die Konferenz konnte insgesamt als wesentlicher interdisziplinärer Meinungsaustausch zu Problemen des ländlichen Raumes der Sowjetunion und zur Abwanderung ländlicher Bevölkerung in Städte gesehen werden. Allerdings war das Gespräch über die Fachgrenzen nicht immer einfach, und auch die unterschiedliche wissenschaftliche Sozialisation der Beteiligten warf Probleme auf. Eine stärkere Fokussierung in allen Vorträgen auf den ländlichen Raum Russlands, der in der Forschung immer noch zu wenig beachtet ist, und eine darauf ausgerichtete Vermittlung methodischer Ansätze über die Fachgrenzen hinweg wären hilfreich gewesen.

Eine von ALLA MACHROVAJA und TAT’JANA NEFËDOVA vorbereitete und geleitete Halbtagsexkursion führte zum Abschluss in das ursprünglich ländliche Gebiet, das 2011 als künftiges Erweiterungsgebiet der Stadt Moskau festgelegt wurde und in dem sich bisherige Nutzungsveränderungen nochmals intensivieren: Auf ehemals landwirtschaftlich genutzten Flächen oder im Anschluss an frühere dača-Siedlungen entstehen in einem breiten Spektrum von kleineren Einfamilienhäusern bis zu großen, oft als gated communities abgeschirmten Villen zahlreiche Eigenheimsiedlungen, für die es keinerlei Gesamtkonzept gibt und die entlang der Ausfallstraßen intensiv beworben werden. In der Stadt Moskovskij hat ein aus einem Sovchoz hervorgegangener landwirtschaftlicher Großbetrieb (Gemüseproduktion in Glashauskulturen) Flächen mit Treibhäusern an ein Bauunternehmen verkauft, das Geschosswohnungsbau betreibt. Die Stadt Troick, eine auf Akademie-Instituten beruhende Wissenschaftsstadt (naukograd) fast im Zentrum des künftigen Ergänzungsgebietes, bietet sich als Ansatzpunkt für eine weitere Urbanisierung an. Die Rückfahrt nach Moskau machte die Teilnehmer mit den Verkehrsstaus bekannt, die alltäglich den Bereich der Auffahrten auf die Moskauer Ringautobahn (MKAD) und zu den Einrichtungen des großflächigen Einzelhandels – überwiegend „westliche“ Unternehmen – bestimmen.

Konferenzübersicht:

Sektion 1: Ländliche Lebensverhältnisse und Land-Stadt-Migration in ihren Kontexten

Dietmar Neutatz (Freiburg): Migration im Land-Stadt-Kontinuum als Problem der russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts

Tat’jana Nefedova (Moskau): Migrationen ländlicher Bevölkerung als Faktor der Veränderung der Landwirtschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in verschiedenen Regionen Russlands

Žanna Zajončkovskaja (Moskau): Land-Stadt-Migration und Stadt-Land-Migration als geographische und politische Phänomene

Georgij Lappo (Moskau), Pavel Polian (Freiburg), Tatjana Selivanova (Moskau): Die Entwicklung der Ballungsgebiete Russlands im 20. Jahrhundert

Sektion 2: Ansätze zur Steuerung von Land-Stadt-Migration

Pavel Polian (Freiburg): Politisch-administrative Steuerungsversuche und ihre Wirksamkeit

Thomas Bohn (Gießen): Das System der geschlossenen Städte als Instrument der
Migrationskontrolle

Kommentar: Jörg Stadelbauer (Freiburg)

Sektion 3: Migrationsbewegungen aus quantifizierender und kartographischer Perspektive

Žanna Zajonckovskaja, Nikita Mkrtcjan und Dmitrij Bogojavlenskij (Moskau): Reichweite und Aussagekraft der russischen und sowjetischen Migrationsstatistik

Vitalij Belozerov, Pavel Turun (beide Stavropol’): Die Entwicklung der Land-Stadt-Migration in der Region Nordkaukasus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Aleksandr Panin (Stavropol’), Andrej Trejviš (Moskau), Igor’ Raužin (Stavropol’): Zentrografische Darstellung der Bevölkerungs- und Migrationsentwicklung Russlands seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert

Kommentar: Kazuhiro Kumo (Tokyo)

Sektion 4: Dörfliches Leben und Migrationsentscheidungen

Sergej Alymov (Moskau): Quellen zu den Lebensverhältnissen in der Sowjetunion unter Chruščëv und Brežnev

Aleksandr Nikulin (Moskau): Der Niedergang der dörflichen Strukturen in den 1960er-und 1970er-Jahren

Valerij Vinogradskij (Saratov): Anthropologie des kollektivierten bäuerlichen Hofes in der späten Sowjetunion

Angela Haas(Freiburg): Migrationsentscheidungen und die Rolle von Netzwerken in regionaler Perspektive

Kommentar: Stephan Merl (Bielefeld)

Sektion 5: Lebensweltliche und mediale Perspektiven

Gennadij Kornilov (Ekaterinburg): Das Leben auf dem Dorf in der Region Ural in der Nachkriegszeit

Dmytro Myeshkov (Freiburg): Lebenswelten von ländlichen Migranten in Sverdlovsk

Ljudmila Mazur (Ekaterinburg): Leben auf dem Land und Wanderung in die Stadt im Spiegel von sowjetischen Spielfilmen

Christa Ebert (Frankfurt/Oder): Leben auf dem Land und Wanderung in die Stadt im Spiegel literarischer Darstellungen

Kommentar: Pavel Polian (Freiburg / Moskau)

Abschlussdiskussion - Kommentar: Alain Blum (Paris)