Grundwert Solidarität: Theorie und Praxis solidarischen Handelns in Deutschland und Polen

Grundwert Solidarität: Theorie und Praxis solidarischen Handelns in Deutschland und Polen

Organisatoren
Europäische Akademie Külz-Kulice; Institut für Politologie und Europäistik, Universität Stettin; Verein zur Förderung der deutsch-polnischen Zusammenarbeit e.V.
Ort
Kulice/Külz
Land
Poland
Vom - Bis
14.06.2012 - 16.06.2012
Url der Konferenzwebsite
Von
Joachim von Wedel, Berlin

Die Rede von der europäischen Solidarität erfreut sich einer noch vor kurzem kaum vorstellbaren Konjunktur. Vor diesem Hintergrund organisierte die Stiftung Europäische Akademie Külz-Kulice in Kooperation mit dem Institut für Politologie und Europäistik der Stettiner Universität und dem Verein zur Förderung der deutsch-polnischen Zusammenarbeit e.V. im Juni 2012 eine Tagung zur Theorie und Praxis des Solidaritätsbegriffs in Deutschland und Polen. Die zweitägige Veranstaltung gliederte sich in zwei thematische Blöcke – staatliche und überstaatlich-europäische Solidarität – und führte Wissenschaftler und Studenten aus Stettin, Greifswald, Warschau, Frankfurt/Oder, Posen und Berlin zusammen.

Bereits die Theorie des Solidaritätsbegriffs erweist sich, mit gewisser Asymmetrie zugunsten Deutschlands, als grenzüberschreitend verflochten, jedenfalls soweit es um die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts nach Polen ausstrahlende katholische Soziallehre geht. Ohne erkennbaren Niederschlag in Polen, aber mit inhaltlich übereinstimmendem Ergebnis, stützt die protestantische Dogmatik ihre Solidarnormen auf den Begriff der Nächstenliebe. Versuche, dieses christliche Erbe in die Gegenwart fortzuschreiben, stoßen in beiden Ländern in einer religiös teils aufgefächerten, teils gleichgültigen Gegenwart zum einen auf potentielle Partner muslimischer und jüdischer Herkunft mit ähnlicher Solidarpraxis, zum anderen auf Vorschläge, die Reste des Staatskirchentums verfassungsmodernisierend der pluralistischen Lage anzupassen. Europapolitisch betrachtet, hat der Solidaritätsbegriff eine ungleich kürzere Geschichte. Umso größer ist aber seine aktuelle, ebenfalls ungleiche Bedeutung für Berlin und Warschau. Während die polnische Regierung von der deutschen ost-, energie- und finanzpolitische Solidarität erwartet, hat Warschau aus Berliner Sicht Bedeutung vor allem als Verbündeter in ihrer Politik der Währungsstabilisierung.

Einen Überblick über die Begriffsgeschichte gab einleitend JAN ŻARYN (Warschau). Der polnische Solidarismus habe unter dem Einfluss zweier unterschiedlicher politisch-theoretischer Kräfte gestanden, die vor allem in den Jahren unmittelbar nach 1945 eng zusammengerückt seien: der katholischen, maßgebend unter anderen durch Wilhelm Ketteler, Heinrich Pesch, Leo XIII., Kardinal Stefan Wyszyński und zuletzt Johannes Paul II. und Józef Tischner geprägten Soziallehre und des nationalen, prominent von Roman Dmowski vertretenen Lagers. Ergänzend beschrieb den katholischen Solidaritätsbegriff der Dominikanerpriester ZYGMUNT CHMIELARZ (Posen) durch eine vergleichende Gegenüberstellung der Solidaritätsbegriffe von Kardinal Wyszyński und Johannes Paul II. Die heutige geistige Krise in Europa habe ihre Hauptursache im Konflikt zwischen einer christlichen und einer nicht-christlichen Solidaritätsidee.

Dem Protestantismus war, so anschließend BERND HILDEBRANDT (Greifswald) der Begriff der Solidarität fremd geblieben, sein Zugang zum Thema öffnet sich über den Begriff der Nächstenliebe. Dabei sei, so schon Bonhoeffer, die Liebe zum eigenen Volk noch nicht das Christliche, sondern nur erst das Natürliche. Gegen eine missverstandene lutherische Zwei-Regimenten-Lehre könne öffentliches Wirken keine Eigengesetzlichkeit für sich in Anspruch nehmen, sondern unterliege als „institutionalisierte Liebe“ ebenso dem Wirkbereich der christlichen Nächstenliebe wie gemeindeinternes Handeln. Solche Nächstenliebe finde ihren politischen Rahmen in einem Ganzen, das sich, wenn Gott als der Vater geglaubt und damit alle Menschen als Geschwister verstanden würden, politisch-geographisch nicht auf die Europäische Union begrenzen lasse.

Die jüdische Sicht auf das Solidaritätsproblem präsentierte OLAF GLÖCKNER (Potsdam) anhand der primär außengesteuerten Stabilisierung jüdischer Gemeinden in Osteuropa nach 1989. Unterstützende, vor allem von US-amerikanischen Verbänden und einheimischen „Oligarchen“ ausgehende Aktivitäten ließen sich unter zwei traditionellen jüdisch-religiösen Begriffen subsumieren: „Tikkun Olam“ (Mitwirkung des Einzelnen an der „Reparatur der Welt“ etwa durch Sorge für die Armen) und „Zedaka“ (Wohltätigkeit als religiöse Pflicht). Die islamische Entsprechung – „Teawun“ (gegenseitige Unterstützung) – bezog anschließend FAZLI ALTIN (Berlin) insbesondere auf soziale Aktivitäten von Berliner Muslimen, etwa das mit Unterstützung von Diakonischem Werk und Caritas eingerichtete Muslimische Seelsorgetelefon und verschiedene Kreditvereine auf Gegenseitigkeit.

Den Besonderheiten des polnischen Solidaritätsbegriffs widmete sich RYSZARD CZYSZKIEWICZ (Stettin). Schon der Impuls der Gewerkschaftsbewegung der Jahre 1980/81 sei auf die Überwindung gesellschaftlicher Barrieren gerichtet gewesen, und auch heute könne sich Solidarität nicht auf partikulare, veränderliche Interessen, sondern nur auf gemeinsame, im Verständnis des Referenten überzeitlich-konstante Werte stützen. Dies gelte auch für kommunale Partikularismen, die durch den staatlichen Eingriff beschränkt werden müßten. Stärker auf die theoretischen Grundlagen der Solidarność-Bewegung bezog sich MICHAŁ PAZIEWSKI (Stettin): Diese habe durch ihr Programm und ihre Organisationsform – interne Demokratie, dezentrale Gliederung, Förderung der Neugründung unabhängiger Initiativen – die Grundlage für die heutige polnische Zivilgesellschaft gelegt.

Aus philosophisch-staatstheoretischer Sicht widmete sich dem Solidaritätsthema JOHANNES HEINRICHS (Berlin). Die Frage, unter welchen Voraussetzungen es im pluralistischen Verfassungsstaat eine Solidarität der regelmäßig nach wie vor religiös geprägten Weltanschauungen geben könne, beantwortete er mit dem Vorschlag, das bestehende Parlament in eine Wirtschafts-, Politik-, Kultur- und Grundwertekammer zu gliedern. Erst eine solche Weiterentwicklung der Demokratie sei dem modernen Rechtsstaat gemäß, einem Staat, der weder areligiös sei noch bestimmte Konfessionen demokratiewidrig privilegieren könne.

Einer modernen Sichtweise, die glaube, das Religiöse in den Bereich des Irrationalen abdrängen zu können, widersprach anschließend WALTER ROTHHOLZ (Stettin). Auch im formell säkularisierten Staat hätten soziale Imaginationen, das heißt normvermittelnde Bilder und Mythen, religiösen Charakter. Gerade die Säkularisierung nehme der Politik ihre Eigenständigkeit und unterwerfe sie einer pseudo-religiösen Spannung. Die sich daraus ergebende enge Verbindung zwischen modernem Nationalstaat und Religion sei mit einer Europäischen Union, die auf der Rationalität des Geldes beruhe, nicht mehr ohne weiteres zu vereinbaren.

Nur auf den Zusammenhang zwischen europäischer Einigung und Solidarität bezogen sich die Referate im zweiten Themenblock. Einleitend beschrieb JANUSZ JARTYŚ (Stettin) die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Aspekte der in der Europäischen Union etwa durch Schaffung eines gemeinsamen Rechtsraums oder ein einheitliches Auftreten gegenüber Weißrussland verwirklichten Solidarität. Ihr Ziel werde eine europäische Solidaritätspolitik erst erreichen, wenn die Lebensverhältnisse europaweit übereinstimmten.

KAI-OLAF LANG (Berlin) diskutierte die Frage nach der Bedeutung der Solidarität für das Verhältnis zwischen deutscher und polnischer Regierung. Für die polnische Außenpolitik sei Solidarität, erklärbar insbesondere durch ein Gefühl der Verwundbarkeit und die Fortdauer gewisser sozio-ökonomischer Defizite, ein zentraler Wert. Infolge der laufenden Verschuldungs- und Eurokrise drohe nun in Europa die Entstehung von Zonen unterschiedlicher Integration sowie eine Konditionalisierung und stärkere Monetarisierung von Solidarität. Es sei unter diesen Umständen unklar, wie die zwischen Deutschland und Polen bestehende Wert- und Interessengemeinschaft in eine Solidargemeinschaft umgeformt werden könne. Abgeschlossen wurde die Tagung mit einer Vorstellung von Standpunkten der Warschauer Regierung in verschiedenen jüngeren deutsch-polnischen Kontroversen durch MACIEJ DRZONEK (Stettin) sowie verschiedener ermutigender Erfahrungen in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in der Region an der unteren Oder durch SEBASTIAN KANIEWSKI (Stettin).

Zusammenfassend zeigt sich zunächst, wie wenig sich die Wahrnehmung der Trennlinie zwischen religiös gebotener Binnensolidarität und dem solidaritätsfreien, staatskonstituierten Außenfeld zwischen den Religionsgemeinschaften beider Länder unterscheidet. Deutsche und polnische Großkirchen sehen, ebenso wie in Ansätzen der Islam, weniger Grenze als bloß Demarkationslinie. Sie nähern sie dieser Sicht aus verschiedener Richtung: die Protestanten mit der Tendenz mäßigender, grenzverwischender Umdeutung von Luthers Zwei-Regimenten-Lehre, die Katholiken unter tendenziell grenzerrichtender Verabschiedung integralistischer Vorstellungen vom christlichen Staat.

Als weit weniger eindeutig, und von erheblicher Bedeutung für die staatlich-national verfaßte Sozialversicherung stellt sich die Lage im Außenfeld dar: wie steht es um die originären Solidaritätsressourcen des liberalen Staates? Im polnischen Fall haben sich die sozialen Pathologien der Moderne durch die Solidarnosc-Bewegung nur vorübergehend mildern lassen. Kaum erfolgversprechender dürfte in Deutschland und Polen der Versuch enden, einem atomistisch mißverstandenen Freiheitsbegriff die Propagierung des Solidaritätswerts zu entgegnen, ist doch jede politische Wertpropagierung nicht mehr als eine These auf Abruf bis zur durchschlagskräftigeren Behauptung anderer Werte. Die Schwäche von Wertproklamationen illustriert politisch-faktisch die heutige Europapolitik. Trotz starker programmatischer Privilegierung kann der Solidaritätswert gegen die Wucht einer gerade auch unter Berufung auf die europäische Solidarität beförderten Währungskrise wenig ausrichten.

Die Tagung hat das Verdienst, die Ambivalenz und Größe eines Begriffs beleuchtet zu haben, der im ostmitteleuropäischen Raum in den 1980er-Jahren ähnlich wie heute zu den zentralen politischen Topoi gehört. Gefördert wurde sie durch die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit, den Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, die Dorothee-Wilms-Stiftung und den Verein zur Förderung der deutsch-polnischen Zusammenarbeit e.V. Geplant ist eine Veröffentlichung der Beiträge.

Konferenzübersicht:

Jan Żaryn (Warschau): Die Entwicklung des Solidaritätsbegriffs vom Solidarismus zur Gewerkschaft Solidarność in Polen

Zygmunt Chmielarz (Posen): Der Solidaritätsbegriff von Kardinal Wyszyński und Papst Johannes Paul II.

Bernd Hildebrandt (Greifswald): Von der Nächstenliebe zur Solidarität (Reich-Gottes-Botschaft und Weltverantwortung)

Fazli Altin (Berlin): Begriff und Praxis interislamischer Solidarität

Olaf Glöckner (Potsdam): Zedaka, Tikkun Olam und der Versuch der Stabilisierung jüdischer Gemeinden in Osteuropa nach 1989

Ryszard Czyszkiewicz (Stettin): Ursprünge des Solidaritätsbegriffs. Politische Konnotationen am Beispiel Polens

Johannes Heinrichs (Berlin): Gibt es eine Solidarität der solidaritätsbegründenden Weltanschauungen im pluralistischen Rechtsstaat?

Walter Rothholz (Stettin): Zu den impliziten Grundlagen der Solidarität im demokratischen Verfassungsstaat

Michał Paziewski (Stettin): Die Konzepte der Solidarność-Bewegung 1980/81 und ihre Auswirkungen heute

Janusz Jartyś (Stettin): Konzepte zwischenstaatlicher Solidarität

Kai-Olaf Lang (Berlin): Praxis und Perspektiven europapolitischer Solidarität zwischen Berlin und Warschau

Maciej Drzonek (Stettin): Deutsch-polnische Solidarität aus polnischer Sicht

Sebastian Kaniewski (Stettin): Deutsch-polnische Solidarität unter besonderer Berücksichtigung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit