Aktuelle Forschungsergebnisse zur Geschichte der Anatomie im Nationalsozialismus

Aktuelle Forschungsergebnisse zur Geschichte der Anatomie im Nationalsozialismus

Organisatoren
Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Ort
Halle an der Saale
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.05.2012 -
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Von
Mathias Schütz / Maximilian Schochow, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Die Erforschung der Geschichte der anatomischen Institute im Nationalsozialismus erfährt seit einigen Jahren eine Konjunktur.1 Dabei steht die Frage nach der Leichenbeschaffung für Lehr- und Forschungszwecke während der Zeit des Nationalsozialismus im Vordergrund. Insbesondere während des Zweiten Weltkriegs wurde diese durch die rasant ansteigende Zahl von Hinrichtungen realisiert. Entsprechend stehe die heutige Anatomie vor der Aufgabe, so Florian Steger, Direktor des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, sich mit der Verwicklung ihrer Disziplin in die Verbrechen des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. Um diesen Fragen in vergleichender Perspektive nachgehen zu können, fand am 10. Mai 2012 ein Workshop zur Geschichte der Anatomie im Nationalsozialismus im Institut für Geschichte und Ethik der Medizin in Halle an der Saale statt.

In seinen Eröffnungsworten arbeitete FLORIAN STEGER (Halle an der Saale) die ästhetische Dimension des Faches Anatomie heraus, die insbesondere in der deutschen Geschichte mit Verlockungen durch ideologische, totalitäre Herrschaftsformen einherging. Die Rolle deutscher Anatomien und Anatomen während der Zeit des Nationalsozialismus bringe eine Verantwortung zur Aufarbeitung der eigenen Fachgeschichte mit sich. Steger hob die bisherigen Bemühungen einzelner Institute und Wissenschaftler/innen zu einer Geschichtsschreibung der Anatomie im Nationalsozialismus hervor und zeigte erste Argumentationslinien auf, die seit den 1990er-Jahren sichtbar geworden sind. Gleichzeitig betonte er, dass diese Arbeit in weiten Teilen noch immer ein Forschungsdesiderat darstelle und hielt an der Forderung fest, die bisher vorgelegten Studien durch weitere zu ergänzen und die Ergebnisse künftig stärker zu bündeln.

Für eine Kooperation zwischen unterschiedlichen Institutionen sprechen die von CHRISTOPH REDIES (Jena) präsentierten Forschungsergebnisse über die Geschichte des Anatomisches Instituts in Jena im Nationalsozialismus. In den Jahren 2004 bis 2005 wurden in Zusammenarbeit des anatomischen Instituts Jena mit dem Museum anatomicum Jena, der Medizingeschichte in Jena und der Gedenkstätte Roter Ochse in Halle an der Saale die Leicheneingänge der Anatomie untersucht. Durch Auswertung des Leichenbuches konnte festgestellt werden, dass die Anatomie in steigendem Maße die Leichen Hingerichteter erhielt, mit einem Höhepunkt von fast 100 Leichen im Jahr 1943. Von den in den Jahren 1933 bis 1945 gelieferten Leichen – insgesamt 2.224 – waren 203 Opfer von Hinrichtungen. Diese Leichname wurden hauptsächlich für Präparierkurse verwendet, in einigen Fällen auch für Sammlungs- und Forschungszwecke. Auch kamen bis 1944 ca. 200 Leichen aus den Heil- und Pflegeanstalten Thüringens, was auf die dezentrale „Euthanasie“ von behinderten und tuberkulosekranken Menschen verweist. Als Konsequenzen dieser Forschungsergebnisse wurde der Opfer durch eine Gedenkfeier, eine Tafel und ein Informationsposter gedacht.

MICHAEL VIEBIG (Halle an der Saale), der schon an der Erforschung der Jenaer Anatomiegeschichte beteiligt war, präsentierte die gemeinsam mit Rüdiger Schultka (Halle an der Saale) erarbeiteten Ergebnisse zur Anatomie in Halle an der Saale. Aufgrund der teilweise überlieferten Leichenbücher der Anatomie sowie weiterer Archivrecherchen konnte festgestellt werden, dass das anatomische Institut durch die Zentralisierung der Hinrichtungen in den Jahren 1937 bis 1939 keine Leichname von Hingerichteten erhielt. Im Februar 1939 wurde in Halle eine weitere Hinrichtungsstätte errichtet, die in den folgenden Jahren die Anatomie mit Leichen versorgte. Von den im Strafgefängnis „Roter Ochse“ insgesamt hingerichteten 549 Menschen kamen die Leichen von 75 Opfern in die Anatomie Halle. Analog zu Jena wurden diese Leichen in Halle insbesondere für die vorklinische Lehre verwendet, jedoch auch für Forschungszwecke. Zudem konnten in den Meckelschen Sammlungen einige Organe von Hingerichteten gefunden werden.

Im Gegensatz zu Redies und Viebig, die abgeschlossene Projekte präsentierten, stellte STEPHANIE KAISER (Aachen) erste Ergebnisse aus ihrem Dissertationsprojekt über die Anatomie in Köln während des Nationalsozialismus vor. Dabei bezog sie sich vor allem auf das Leichenbuch des anatomischen Instituts sowie auf die Akten des Kölner Sondergerichts. Während die Leichenversorgung in der Weimarer Zeit für das anatomische Institut problematisch war, wurde im Nationalsozialismus ein immer größer werdender Anteil von Leichen aus dem KZ-Außenlager in der Kölner Messe und vor allem durch das Kölner Sondergericht zugewiesen. Das Leichenaufkommen in der Kölner Anatomie ging im Krieg insgesamt zurück, jedoch übertraf der Anteil an Opfern des Nationalsozialismus ab 1942 den aus traditionellen Bezugsquellen wie den Kölner Krankhäusern. Diese Entwicklung scheint sich bis zur Schließung der Universität Köln im Oktober 1944 fortgesetzt zu haben.

Eine internationale Perspektive brachte SABINE HILDEBRANDT (Ann Arbor/Michigan) mit ihrem Vortrag ein. In ihrem Projekt hatte sie zahlreiche deutsch- und englischsprachige Fachzeitschriften ausgewertet, um die Frage zu beantworten, ob die anatomische Forschung an den Leichen Hingerichteter auf Deutschland und die Zeit des Nationalsozialismus beschränkt gewesen ist. Dabei wurde deutlich, dass auch in der angelsächsischen Forschung in Einzelfällen auf „Material“ von Hingerichteten zurückgegriffen wurde, diese Methode in Deutschland, insbesondere in den Jahren des Zweiten Weltkrieges, jedoch weitaus verbreiteter war. Zwar fand diese Forschung auch schon in der Weimarer Zeit statt und galt aufgrund der äußeren Bedingungen als Idealfall, ihr war durch die wenigen Hinrichtungen aber eine Grenze gesetzt. Diese Grenze verschwand mit dem massiven Anstieg von Todesurteilen und Hinrichtungen im Nationalsozialismus, so dass sich der anatomischen Forschung bisher unbekannte Möglichkeiten eröffneten. Dies spiegelt sich in den Publikationen zahlreicher Anatomen, wie etwa Max Claras (1899-1966) wieder. Aus diesem quantitativen, aber nicht prinzipiellen Unterschied scheint die bedenkenlose anatomische Forschung an den Leichen Hingerichteter im Nationalsozialismus zu resultieren, die sich auch nach 1945 durch die Verwendung von altem „Material“ fortsetzte.

Die Frage nach der anatomischen Forschung an Hingerichteten spielt auch in einem Projekt zur Anatomischen Anstalt München eine wichtige Rolle, deren Direktor Max Clara ab 1942 war. MATHIAS SCHÜTZ (Halle an der Saale) präsentierte erste Ergebnisse dieses Projekts, welches gemeinsam von ihm, Florian Steger, Jens Waschke (München) und Georg Marckmann (München) durchgeführt wird. Es wurde zum einen auf die Probleme eingegangen, welche der Mangel an überlieferten Dokumenten zur Leichenbeschaffung aus der Anatomischen Anstalt und den bayrischen Ministerien mit sich bringt. Zum anderen wurden Möglichkeiten und Wege beschrieben, die dennoch eine Rekonstruktion des Geschehens ermöglichen. Und es wurden erste, stichprobenartige Ergebnisse präsentiert, die auf einen sehr hohen Anteil Hingerichteter hindeuten, die aus dem Strafgefängnis München-Stadelheim an die Anatomische Anstalt geliefert wurden – sowohl im Verhältnis zur Gesamtzahl der Hingerichteten, als auch zu den anderen bayrischen und österreichischen Anatomien, die ebenfalls Leichen aus Stadelheim erhielten. Hiervon profitierte auch Max Clara, der in München seine Forschung an Hingerichteten durchführen konnte.

Eine weitere Anatomie in Bayern war Gegenstand des Vortrags von TIM BLESSING (Würzburg). Er stellte seine Forschungsergebnisse über das anatomische Institut Würzburg während des Nationalsozialismus vor, für welches wieder das Leichenbuch als wichtigste Quelle diente. Auch dieses Institut profitierte in seiner Leichenbeschaffung von den neuen Bedingungen im Nationalsozialismus. Ein immer größer werdender Anteil der hierhin gelieferten Leichen bestand aus Hingerichteten, russischen Kriegsgefangenen oder Zwangsarbeitern. Auch wurden 49 Leichen, die 1940 aus umliegenden Psychiatrien geliefert wurden, der „Aktion T4“ zugeordnet. Durch Interviews konnte zudem die aus den Akten ersichtliche Entwicklung mit der subjektiven Wahrnehmung zweier Zeitzeugen verglichen werden: Die Zeitzeugen verneinten durchweg, von der Verwertung der Leichen Hingerichteter durch die Anatomie gewusst zu haben.

Der Workshop diente dem Austausch über die in den letzten Jahren intensivierte Erforschung des Themas und war sowohl in den Präsentationen als auch in den Diskussionen geprägt von der Frage nach Verortung und Bewertung der Ergebnisse. Neben den Referent/innen waren zahlreiche Gäste anwesend, die sich über die neuesten Forschungsergebnisse informieren konnten. Der Workshop machte deutlich, dass die präsentierten Ergebnisse nicht ohne weiteres auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen und zu verallgemeinern sind. Deshalb konnten immer wieder aufkommende Fragen nach Verwicklung, Schuld, Entscheidung und Verweigerung nicht einheitlich beantwortet werden. Dies liegt zum einen an den recht unterschiedlichen Forschungsständen der präsentierten Projekte, zum anderen an den Unterschieden in der jeweiligen Quellenlage. Deswegen herrschte unter den Teilnehmer/innen des Workshops Einhelligkeit bezüglich der Notwendigkeit fortgesetzter Forschung derer es bedarf, um einen historischen Gesamtkontext und somit die Grundlage für weitere Diskussionen über die Anatomiegeschichte des Nationalsozialismus herzustellen.

Konferenzübersicht:

Florian Steger (Halle an der Saale): Aktuelle Forschungsergebnisse zur Geschichte der Anatomie im Nationalsozialismus

Christoph Redies (Jena): Leichname für die Anatomie 1933-1945: Eine Untersuchung an der Universität Jena

Michael Viebig (Halle an der Saale): Leichname für die Anatomie 1933 bis 1945. Untersuchungen an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zu Halle (Saale)

Stephanie Kaiser (Aachen): Köln im „Dritten Reich“: Körper für das Anatomische Institut der Universität zu Köln

Sabine Hildebrandt (Michigan, USA): Anatomische Forschung an den Leichen von Hingerichteten: Der Wandel einer Methode qualifizierter histologischer Forschung in Deutschland während des Nationalsozialismus. Eine systematische Studie zeitgenössischer Publikationen 1924-1951

Mathias Schütz (Halle an der Saale): Erste Forschungsergebnisse zu Leichenbeschaffung an der Münchner Anatomischen Anstalt in den Jahren 1933-1945

Tim Blessing (Würzburg): Leicheneingänge der Würzburger Anatomie zwischen 1935 und 1945

Anmerkung:
1 Annals of Anatomy, Vol. 194, Issue 3 (June 2012), Special Issue: Anatomy in the Third Reich, hrsg. von Sabine Hildebrandt and Christoph Redies.


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