Orte medizinischer und pflegerischer Versorgung

Orte medizinischer und pflegerischer Versorgung

Organisatoren
Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Stuttgart
Ort
Stuttgart
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.04.2012 - 13.04.2012
Url der Konferenzwebsite
Von
Melanie Ruff, Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung Stuttgart

„Orte medizinischer und pflegerischer Versorgung“ wurden vom 10. bis 13. April 2012 in Stuttgart, im Zuge des 31. Fortbildungsseminars des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung, diskutiert. Nach der Begrüßung durch den Institutsleiter Robert Jütte führten Marion Baschin, Jens Gründler, Jenny Linek und Anna Urbach organisatorisch und thematisch in das Seminar ein. Wie auch in anderen Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Disziplinen, öffnete sich die Medizingeschichtsschreibung in den letzten Jahren den Theorien und Methoden aus dem Umfeld des spatial turn. Im Zentrum des Fortbildungsseminars stand daher die Frage nach der Anwendbarkeit dieser Methode[n] und dem Erkenntnisgewinn für die eigene Forschung.

ANNETT BÜTTNER (Kaiserwerth) eröffnete die erste Sektion mit ihrem Vortrag über„Lazarette in den deutschen Reichseinigungskriegen (1864-1870/71)“. Im Fokus stand die Analyse der Unterschiede zwischen Garnisionslazaretten und zivilen Krankenhäusern. Sie stellte fest, dass die spezifischen Eigenschaften eines Garnisionslazarettes – temporär, provisorisch und dadurch mit einem vergleichsweise niedrigen fachlichen Standard – dazu führten, dass militärische Patienten Strategien entwickelten, sich unter anderem einer Behandlung in diesen Anstalten zu entziehen. Raumtheoretisch interessant ist die Tatsache, dass es bei einer Frontverlagerung auch immer darum ging, sich neue (Behandlungs-)Räume anzueignen und diese für medizinische Zwecke umzudeuten.

Mit der Frage: „was macht ein Lazarett zu einem Lazarett?“, schloss MELANIE RUFF (Stuttgart) mit dem Blick auf: „Gesichtsverletzung und Raum. Die Funktion des Lazarettes für die Erzeugung sozialer Bedingungen während des Ersten Weltkrieges“ thematisch an den vorherigen Vortrag an. Darin ging es um die Frage, in welcher Form diese definierten Räume und Gegenstände Einfluss auf die Konstruktion von Männlichkeit[en] nahmen. Die von Ärzten propagierte bürgerliche Männlichkeit während der intensiven Behandlungsphasen in den Lazaretten wich einer am Erwerbsleben orientierten Perspektive in der Rekonvaleszenz. Das Lazarettleben bildete in diesem Kontext die Ideale der Vorkriegsgesellschaft ab.

Den letzten Vortrag dieser Sektion hielt PETRA BETZIEN (Düsseldorf) zum Thema „Krankenschwestern im System der Konzentrationslager – Selbstverständnis, Berufsethos und Dienst an den Patienten im Häftlingsrevier und SS-Lazarett“. Die „SS-Schwestern“ (Lagerjargon) delegierten die Pflegetätigkeit an Häftlingspflegerinnen, kontrollierten diese und entschieden durchaus eigenmächtig über die Qualität der pflegerischen und medikamentösen Versorgung der kranken Häftlinge. In der Diskussion stellte sich heraus, dass den „SS-Schwestern“ eine ‚Rampenfunktion‘ im Sinne einer Selektion der Häftlinge zukam – ein bisher in der Forschung zu wenig berücksichtigter Aspekt.

Mit dem Vortrag “Das frühneuzeitliche Krankenzimmer als Raum der Pflege und Behandlung“ startete SABINE SCHLEGELMILCH (Würzburg) den zweiten Teil des Tages. Anhand von drei Perspektiven erörterte sie methodisch fundiert das „Krankenzimmer“ als vorgestellten Raum, den sie von einer spezifischen Personengruppe (Arzt, Heiler, Pfleger, Patient, Angehörige) konstituiert versteht. Dabei steht immer der Kranke im Zentrum des Raumes und stellt Anlass und Ausgangspunkt der Anordnung „Krankenzimmer“ dar. Durch die Anwesenheit des Arztes und dessen Anordnungen wurde das „Krankenzimmer“ zum Ort der Behandlung. Anhand ihres raumtheoretischen Ansatzes konnte Sabine Schlegelmilch zeigen, wie ProtagonistInnen den „Raum“ definierten, umdeuteten oder umfunktionierten und somit eine Raumdynamik entstand.

CAROLIN SCHMITZ (Valencia) sprach anschließend über „Spanische Patientenbriefe aus dem frühen 18. Jahrhundert: Medizinische Versorgungsformen im virtuellen Raum“. Im ersten Teil des Vortrages zeigte Schmitz die Grenzen der Anwendbarkeit von Raumtheorien auf. Mit Blick auf die Wahrnehmung der Patienten selbst, zeigte sich, dass diese konkrete Orte nicht thematisierten. Schmitz erweiterte daher ihren Blick und begriff Patientenbriefe selbst als „virtuellen Raum“. Schwächen und Stärken einer medizinischen Versorgung durch das Medium Brief wurden so deutlich. Schmitz schließt daraus, dass Aspekte des Räumlichen sich sowohl auf das Verhalten als auch auf das Empfinden der Patient/innen auswirkten.

ALOIS UNTERKIRCHER (Stuttgart) nahm in seinem Vortrag einen Einrichtungsgegenstand in den Blick: „‘Ruhe-Betten‘: ein Alltagsmöbel als temporärer medikaler Raum. Eine Spurensuche in ärztlichen Krankengeschichten des ausgehenden 19. Jahrhunderts.“ Wie Alois Unterkirchner zeigen konnte, ging der wahrgenommene medikale Raum der Untersuchten über die materiell greifbare Seite des Krankenbettes hinaus. Die spezifischen Kommunikationsbeziehungen im Arzt-PatientInnen Verhältnis, die aus Botendiensten oder brieflichen Konsultationen bestanden, vereinigten vielseitige physikalische Orte und führten zur Konstituierung eines neuen medikalen Raumes.

PHILIPP EISELES (Stuttgart) Vortrag handelte von „Medizinische[r] Versorgung aus dem Briefkasten. Briefe an eine Patientenorganisation für alternative Behandlungsmethoden (1992-2000)“. Er stützte sich dabei auf die Korrespondenz von Patientinnen mit dem Naturheilverein „Natur und Medizin e.V.“. Eisel versteht den Brief als virtuellen Raum, in welchem Bedürfnisse der PatientInnen artikuliert und ausgehandelt werden. Es zeigte sich, dass durch diesen Zugang die informelle Seite, wie beispielsweise die Selbstmedikation im häuslichen Bereich oder der Wirkungskreis von nicht-professionellen Anbietern, als medikaler Raum in den Blick der Analyse rückt.

Den zweiten Tag eröffnete TOMASZ KAŁUSKI (Katowice) mit dem Vortrag „Das Gesundheitswesen in Schlesien in der Habsburger Zeit. Standorte, Formen der Tätigkeit sowie Berufsaktivität der Wundärzte und Bader im Fürstentum Glogau vom 16. bis zum 18. Jahrhundert“. Dabei wurden die Macht- und Organisationsstrukturen unterschiedlicher Akteur/innen auf engem Raum deutlich. Das Modell Glogau zeigt, welche konkurrierenden Behandlungsmethoden geografisch nebeneinander existierten und welche Handlungsstrategien diese Nähe provozierte. So versuchten die Protagonisten (Chirurgen, „Pfuscher“ und Bader) disziplinäre Konflikte auch über die Allianz mit dem Glogauer Adel auszutragen, um sich Vorteile im ökonomischen Wettbewerb zu sichern.

MARCEL KORGES (Leipzig) Beitrag trug den Titel „‘Vff das wir arme gesellen alßo erbarmlich voracht vnd vorstoßen mochtten werden‘. Spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Siech- und Krankenhäuser der kursächsischen Handwerkszünfte und Gesellenschaften.“ Im Zentrum standen handwerkseigene Krankeneinrichtungen in Chemnitz, Dresden, Leipzig und Zwickau. Neben diesen Einrichtungen gab es weiterhin die Krankenpflege in den Meisterhaushalten. Deren Bereitschaft, sich an der Krankenversorgung zu beteiligen, sank jedoch durch die Anwesenheit eines Konkurrenzsystems deutlich. Wieder war es das Nebeneinander verschiedener Einrichtungen in einem Raum, dass spezifische Handlungsstrategien der Protagonist/innen hervorriefen.

STEPHANIE NEUNER (Würzburg) nahm „Die Lebenswelt der Anderen- Die medizinische Versorgung von Stadtarmen in Würzburg und Göttingen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“ in den Blick. Angelehnt an Raumtheorien definierte sie „Lebenswelt“ als örtlich fest umrissenen Raum, der durch sozioökologische Determinanten, Verhaltensweisen und Lebensgewohnheiten konstituiert wird. Danach generierte die Praxis der Arztbesuche im häuslichen Milieu städtischer Unterschichten neue soziale Räume. In der Praxis stießen Ärzte beispielsweise auf laienmedizinische Denkmodelle und mussten daher ihren Status und ihre Deutungsmacht als akademische Ärzte vor Ort aushandeln.

CHRISTOF BEYER (Hannover) referierte über „Psychiatrie als ‚transitorischer‘ Ort- Das Beispiel der Städtischen Nervenklinik Langenhagen bei Hannover“. Hier war es die Frage nach den Konzepten des Stadtasyls bzw. der städtischen Nervenkliniken als Ort der Kurzzeitbehandlung – verstanden als transitorischer Raum – und deren Auswirkungen auf die Akteur/innen der psychiatrischen Versorgung, die im Mittelpunkt des Interesses stand. Untersucht wurde anhand des Konzeptes der Anstalts-„Heterotopie“ die Kurzzeitbehandlung als Übergang zwischen privaten Orten des Umgangs mit psychischen Erkrankungen und denen institutioneller Behandlung. Der Anstalt kam in Hinblick auf die Klassifizierung der Individuen eine Schwellenfunktion zu.

MAXIMILIAN SCHOCHOW (Halle) eröffnete die vierte Sektion mit dem Vortrag zur „Krankenversorgung in den Franckeschen Stiftungen in Halle: Eine Netzwerkanalyse von Krankenstation, Krankheit, PflegerInnen und Waisen“. In Anlehnung an Bruno Latour wurde ausgeführt, welche Netzwerke in „Orten medizinischer und pflegerischer Versorgung“ durch die dort agierenden menschlichen und nichtmenschlichen Akteur/innen erkennbar sind. „Orte medizinischer und pflegerischer Versorgung“ treten dadurch als prozessuale und nicht-statische Orte in Erscheinung. Ziel dieses noch in der Planungsphase befindlichen Vorhabens wird es sein, diese Überlegungen auf die Analyse der Krankenversorgung in den Franckeschen Anstalten anzuwenden.

THORSTEN HALLING (Ulm) referierte über „Rationalisierung und Standardisierung des Krankenzimmers 1900-1930“. Das Patient/innenzimmer als soziale, medizinische, hygienische und ökonomische Projektionsfläche von Normierungsvorstellungen begreifend, untersuchte er bauliche Strukturen des allgemeinen Krankenhauses. Unter dem Paradigma der industriellen Rationalisierung und dem steigenden Kostendruck verstärkten sich in der Zwischenkriegszeit die wissenschaftliche Durchdringung und Normierung des Krankenhauses und dessen Einrichtungen. Die Umstellung auf normierte Einrichtungsgegenstände stellte sich jedoch als langfristiger Prozess heraus, was die Grenzen und Schwierigkeiten in der Umsetzung solcher Konzepte im Alltag aufzeigt.

Den letzten Vortrag dieses Seminars präsentierte NIKLAUS INGOLD (Zürich) mit „Räume als Aktanten: Polarnacht, Großstadt und Ultraviolettbestrahlungen zwischen 1920 und 1945“. Er stellte die Frage, wie es dazu kam, dass den Soldaten der Wehrmacht in der Polarnacht ultraviolette Strahlen zugängig gemacht wurden. Die beteiligten Akteure als Aktanten ( nach Ralph Kingsto) verstehend, kam er zu dem Ergebnis, dass diese spezifische Wahrnehmung der wissenschaftlichen Darstellung von „Lichtklimata“ verschuldet war. Aus Angst vor einem Ultraviolettmangel, der zu einer Leistungsverminderung führen konnte, entwarf die Wehrmacht Gegenmaßnahmen in Form von Bestrahlungsanlagen im Norden Norwegens.

Bei der abschließenden Diskussion wurde die bei den Vorträgen immer wieder aufgetretene Frage nach der Anwendbarkeit und dem Wissensgewinn raumtheoretischer Ansätze in der Medizingeschichtsschreibung, diskutiert. Einleitend wurden Definitionsvorschläge für die Kategorien „Ort“ und „Raum“ besprochen. Der „Ort“ wurde als Punkt im Koordinatensystem, als etwas kartografisch Beschreibbares definiert. Der „Raum“ hingegen wird erst durch die Praktiken an einem „Ort“ bestimmt, die an – am „Ort“ sich befindende – Objekte gebunden sind. Daran knüpften sich Fragen nach: Wer definiert den Raum? Muss der Arzt oder die Ärztin anwesend sein, um ihn zu einem Behandlungsraum zu machen? Genügt ein medizinisches Objekt, um den Raum zu definieren? Diese und ähnliche Fragen zeigen die Stärken dieses Zuganges auf: Obwohl die Themen nicht neu sind und das Räumliche in der einen oder anderen Studie bereits mitgedacht wurde, stellt das methodische und theoretische Angebot des spatial turn überzeugende Werkzeuge zur Schärfung dieses Zuganges zur Verfügung. So angewandt, eröffnet der spatial turn neue Perspektiven für die Medizingeschichte und lädt dazu ein, interdisziplinär (Architektur, Soziologie, Ethnologie, etc.) zu arbeiten.

Konferenzübersicht:

Sektion 1 – Räume der Versorgung in Kriegszeiten

Moderation: Jenny Linek (Stuttgart)

Annett Büttner (Kaiserwerth): Lazarette in den deutschen Reichseinigungskriegen (1864-1870/71)

Melanie Ruff (Stuttgart): Gesichtsverletzung und Raum. Die Bedeutung des Behandlungsortes Lazarett für die Erzeugung sozialer Bedingungen während des Ersten Weltkrieges

Petra Betzien (Düsseldorf): Krankenschwestern im System der Konzentrationslager – Selbstverständnis, Berufsethos und Dienst an den Patienten im Häftlingsrevier und SS-Lazarett

Sektion 2 – Akteurinnen und Akteure und deren Wahrnehmungen des Raums

Moderation: Jens Gründler (Stuttgart)

Sabine Schlegelmilch (Würzburg): Das frühneuzeitliche Krankenzimmer als Raum der Pflege und Behandlung

Carolin Schmitz (Valencia): Spanische Patientenbriefe aus dem frühen 18. Jahrhundert: Medizinische Versorgungsformen im virtuellen Raum

Alois Unterkircher (Stuttgart): „Ruhe-Betten“: ein Alltagsmöbel als temporärer medikaler Raum. Eine Spurensuche in ärztlichen Krankengeschichten des ausgehenden 19. Jahrhunderts

Philipp Eisele (Stuttgart): „Medizinische Versorgung aus dem Briefkasten“. Briefe an eine Patientenorganisation für alternative Behandlungsmethoden (1992-2000)

_Sektion 3 – Institutionelle Versorgungsräume

Moderation: Anna Urbach (Magdeburg)

Tomasz Kałuski (Katowice): Das Gesundheitswesen in Schlesien in der Habsburger Zeit. Standorte, Formen der Tätigkeit sowie Berufsaktivität der Wundärzte und Bader im Fürstentum Glogau vom 16. Bis zum 18. Jahrhundert

Marcel Korge (Leipzig): „Vff das wir arme gesellen nit alßo erbarmblich voracht vnd vorstoßen mochtten werden“. Spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Siech- und Krankenhäuser der kursächsischen Handwerkszünfte und Gesellenschaften

Stephanie Neuner (Würzburg): Die Lebenswelt der Anderen – Die medizinische Versorgung von Stadtarmen in Würzburg und Göttingen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts

Christof Beyer (Hannover): Psychiatrie als „transitorischer“ Ort – Das Beispiel der Städtischen Nervenklinik Langenhagen bei Hannover

Sektion 4 – Wechselwirkungen von Raum und Versorgung

Moderation: Marion Baschin

Maximilian Schochow (Halle): Die Krankenversorgung in den Franckeschen Stiftungen in Halle: Eine Netzwerkanalyse von Krankenstation, Krankheit, PflegerInnen und Waisen

Thorsten Halling (Ulm): Rationalisierung und Standardisierung des Krankenzimmers
1900-1930

Niklaus Ingold (Zürich): Räume als Aktanten: Polarnacht, Großstadt und Ultraviolettbestrahlungen zwischen 1920 und 1945

Abschlussdiskussion