Gedächtnis - Erfahrung - Historiographie. Aspekte der Diskussion um den 'Komplex Vertreibung' in europäischer Perspektive

Gedächtnis - Erfahrung - Historiographie. Aspekte der Diskussion um den 'Komplex Vertreibung' in europäischer Perspektive

Organisatoren
Centre Marc Bloch; Zentrum für Vergleichende Geschichte Europas
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.02.2004 - 20.02.2004
Url der Konferenzwebsite
Von
Martina Winkler, Zentrum für vergleichende Geschichte Europas, Freie Universität Berlin; Michael G. Esch, Berlin; Guilhem Zumbaum-Tomasi, Berlin

Seit vier Jahren beschäftigt die vom "Bund der Vertriebenen" und seiner Präsidentin vorgebrachte Forderung nach einer zentralen musealen Repräsentation der Zwangsumsiedlungen der Deutschen aus Ostmittel- und Osteuropa die deutsche, polnische und - in geringerem Maße - tschechische Öffentlichkeit. Die deutsche Fachhistoriographie hat sich in mehreren Konferenzen und Veröffentlichungen sowie in engem Austausch mit polnischen und tschechischen KollegInnen in die Diskussion eingeschaltet, indem sie einerseits auf die Rolle des Zweiten Weltkrieges und der nachfolgenden Bevölkerungsverschiebungen für das öffentliche Bewusstsein verwiesen hat und sich andererseits bemühte, auf historiographische Fakten und ihre Akzeptanz sowohl in der deutschen als auch der polnischen und tschechischen Fachliteratur zu verweisen. Freilich hat dies der Heftigkeit der Auseinandersetzung ebenso wenig Abbruch getan wie die an sich lobenswerte Initiative, eine solche museale Repräsentation in einen europäischen Zusammenhang zu stellen 1.

Da also eine neuerliche, gleich geartete Konferenz zum selben Thema kaum viel versprechend scheinen konnte, die bisherigen wissenschaftlichen Interventionen es aber kaum vermochten, die Auseinandersetzung zu versachlichen, versuchte die vom Centre Marc Bloch und dem Zentrum für Vergleichende Geschichte Europas organisierte Konferenz, sich dem Thema aus einer anderen Richtung und in anderer Weise zu nähern. Das Ziel bestand nicht darin, die in der europäischen Fachliteratur weitgehend akzeptierten Kontextualisierungen und Narrative dem Versuch, neue Deutungen des Geschehens im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg - insbesondere einen deutschen Opferdiskurs - zu etablieren (oder besser: zu reetablieren) gegenüberzustellen. Statt dessen sollte zum einen das offensichtlich problematische Verhältnis zwischen persönlicher Erfahrung (von Zwangsumgesiedelten), öffentlicher Repräsentation (durch die Vertriebenenorganisationen und durch die Integration der Zwangsumsiedlungen in nationale Meistererzählungen) und Historiographie (als Postulat eines entemotionalisierten, im Habermasschen Sinne diskursiven Deutungsprozesses) ausgelotet werden. Vor allem wollte die Konferenz, wie Esch eingangs für die Organisation der Tagung betonte, nicht dazu dienen, "... ein Für oder Wider eines solches Zentrums abzuwägen oder eine Stellungnahme abzugeben". Vielmehr stand das "spannungsreiche Verhältnis zwischen Historiographie und Gedächtnis und die Rolle historischer Motive sowohl bei der Konstruktion nationaler Identität als auch im Verhandeln der eigenen Positionierung im internationalen Dialog" zur Diskussion. Zum anderen, und im Zusammenhang damit, sollten mögliche andere Blickrichtungen auf die Bevölkerungsverschiebungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und alternative Kontextualisierungen angedeutet werden. Aus diesem Grunde waren nicht nur SpezialistInnen des "engeren" Themenbereichs, also der deutsch-polnischen und deutsch-tschechischen Geschichte zwischen 1933 und 1950 eingeladen worden, sondern KollegInnen, die sich dem "Komplex Vertreibung" von ganz anderer Richtung aus nähern konnten.

Holm Sundhaussen (Berlin) formulierte in seinem Einführungsvortrag einige Thesen zu den gesellschaftlichen Aufgaben einer Historiographie des "Komplexes Vertreibung", welche die Diskussion während der Tagung zusätzlich strukturierten und auf die mehrfach und kontrovers Bezug genommen wurde. Zum einen wies er darauf hin, dass die Repräsentation der "Vertriebenen"2 einem politisch funktionalen Wandel unterworfen gewesen ist: Während der fünfziger und frühen sechziger Jahre erfüllte der "Komplex Vertreibung" eine wichtige Rolle bei der Rekonstruktion einer deutschen nationalen Identität. Ab Mitte der sechziger Jahre erforderte die beginnende Bewältigung der nationalsozialistischen Vergangenheit eine Abwendung vom so konstituierten Opferdiskurs und damit auch eine Zurückdrängung der Vertriebenenorganisationen sowohl aus der praktischen Politik als auch aus der nationalen Meistererzählung. Erst die Tabuisierung der Zwangsumsiedlungen der Deutschen nach 1945 habe zudem die Demokratisierung der Bundesrepublik, den Dialog mit den östlichen Nachbarn und damit eine im europäischen Kontext eingebettete Repräsentation aller Opfer und Opfergruppen möglich werden lassen.
Die damit implizit vertretene Auffassung, die Rolle der Wissenschaft bestehe darin, historische Ereignisse in einen gesellschaftlich erforderlichen und mitunter pädagogisch nutzbringenden Rahmen zu stellen, ist ebenso klassisch wie - fasst man sie weit genug auf, um ihr mögliches kritisches Potential einzuschließen - realistisch; sie bleibt natürlich, und dies wurde in der Diskussion unter anderem angemerkt, problematisch, da sie die Frage nach der Deutungsmacht, also der Bestimmung derjenigen Instanz, die über die jeweils erforderliche Deutung entscheidet, unbeantwortet lässt.

Dies wurde auch - wiederum eher implizit - deutlich am Beitrag Pavel Kolárs (Potsdam) über die Einbettung des "Komplex Vertreibung" in die tschechische historische Meistererzählung vor und nach 1989. Kolár betonte, dass die Fachhistoriographie - soweit sie popularisierende, übergreifende Darstellungen produziere - sich dem diskursiven mainstream ebenso anpasse wie sie ihn präge. Die im Vergleich mit Polen weitaus geringere tschechische Aufregung über die Vorstöße des BdV erkläre sich somit auch daraus, dass - im Gegensatz zur polnischen Historiographie - weder der Zweite Weltkrieg noch seine unmittelbaren Folgen überhaupt populäre Themen der Historiographie und ihrer Popularisierung seien. Auch tschechischer Antisemitismus wie auch die jüdische Geschichte in der Tschechoslowakei würden erst in jüngster Zeit zum wissenschaftlichen Gegenstand da zumindest auf der Ebene der Gesamtdarstellung die meisten Historiker ihre Aufgabe darin sähen, "durch eine fachwissenschaftliche Untermauerung zur Stabilisierung der ethnisch-nationalen Gemeinschaft beizutragen".

K. Erik Franzen (München) wies in seinem Beitrag auf die Verknüpfung zwischen der Diskussion um das "Vertreibungszentrum" und der seit den neunziger Jahren zu beobachtenden gesamtdeutschen "Erinnerungsoffensive", in deren Rahmen das Verhältnis zwischen deutschen Opfern und Opfern der Deutschen und damit die Bedeutung der nationalsozialistischen Vergangenheit implizit mitverhandelt werde. Gleichzeitig aber führe das Ende der kommunistischen Regimes in Polen und der Tschechoslowakei/Tschechien dazu, dass die seit 1945 gültigen Erklärungs- und Deutungsmuster zunehmend in Frage gestellt würden, wobei neue Interpretationsimpulse vor allem aus den Regionen der Zwangsumsiedlung selbst hervorgingen. Diese prinzipielle Offenheit für einen Dialog werde aber durch zwei Faktoren konterkariert: Zum einen die mangelnde Rezeption polnischer und tschechischer Forschungen im Westen, zum anderen durch die als Zumutung empfundene Form der Erinnerung, wie sie vom BdV vorgetragen werde. Von zentraler Bedeutung ist Franzens Feststellung, dass die gesamte Diskussion um die Zwangsumsiedlungen "auf allen Seiten Identität stiftenden Charakter" besitzt, und dass sie das Tor zu einem allseitigen Opferdiskurs eröffnet.

Piotr Madajczyk (Warschau) untersuchte die Behandlung der Zwangsmigrationen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, wobei er sich nicht bloß auf das polnisch-deutsche Verhältnis beschränkte, sondern auch das polnisch-jüdische und das polnisch-ukrainische mit einbezog. Dabei legte er besonderes Gewicht auf den Umstand, dass die Historiographie der Volksrepublik keine andere Möglichkeit sah, Gebietsveränderungen und Bevölkerungsverschiebung zu legitimieren, als durch den Rückgriff sowohl auf sehr weit zurückliegende Gebietsbemessungen (das piastische Polen des 10. Jahrhunderts) als auch auf einen ethnischen Nationsbegriff. Dies war umso einfacher, als der Zweite Weltkrieg zu einer umfassenden Ethnisierung des polnischen Nationsbegriffs geführt hatte. Da aber auch nach der Zwangsumsiedlung der Deutschen als auch nach dem vorangegangenen "Bevölkerungstausch" zwischen Polen und den angrenzenden Sowjetrepubliken noch ethnische Minderheiten in Polen lebten (Juden, Ukrainer, Litauer, Weißrussen, Deutsche), war eine Thematisierung ihrer Geschichte - vor allem etwa der internen Zwangsumsiedlung der Ukrainer im Jahre 1946 - bis in die achtziger Jahre praktisch nicht möglich. Das anerkannt hohe Niveau der polnischen Forschung zur deutschen Besatzungspolitik fand so kein Pendant in einer Behandlung der unmittelbaren Nachkriegsgeschichte oder der interethnischen Beziehungen während des zweiten Weltkrieges.
Madajczyk stellte für die achtziger Jahre fest, dass im Zuge der politischen Veränderungen in Polen zahlreiche Tabus gefallen seien. Gleichzeitig habe sich aber ein Graben zwischen individueller Erinnerung und offizieller Geschichtsschreibung aufgetan. Einen nochmaligen Wandel konstatierte er für die neunziger Jahre, während derer deutsch-polnische Diskussionen um die Deutung des Zweiten Weltkrieges und seiner Nachgeschichte in einem jetzt entpolitisierten Raum stattfänden. Madajczyk ließ die Frage, in welchem Maße Faktum und Gewalttätigkeit der Zwangsumsiedlungen ab 1945 der kommunistischen Herrschaft selbst zuzuschreiben seien, ausdrücklich unberücksichtigt.

Diesem Problem versuchte sich Michael G. Esch (Berlin) in seinem Beitrag "Die Bevölkerungspläne des polnischen Exils und Untergrunds" anzunähern. Esch referierte Umsiedlungsplanungen der polnischen Exilregierung in London sowie des polnischen antikommunistischen Untergrunds. Er betonte, dass das gesamte Umsiedlungsprogramm, das unter kommunistischer Regierung ab 1945 durchgeführt wurde, zu diesem Zeitpunkt bereits vorlag und dass die nichtkommunistischen Fachleute in dieser als nationale Aufgabe aufgefassten Sache mit den Kommunisten zusammenarbeiteten. Darüber hinaus verwies er auf den Zusammenhang zwischen der ethnischen Bereinigung und einer agrar- und wirtschaftspolitischen Sanierung, die bereits seit den dreißiger Jahren in Polen diskutiert wurde: Die Entfernung eines als ethnisch fremd definierten Bevölkerungsteiles - damals meist die Juden - sollte den Weg zu einer Bereinigung der durch Kleinstbauern geprägten Agrarstruktur freimachen und so eine Mittelstandsbildung und Industrialisierung des Landes ermöglichen. Damit sei eine Einbettung der Zwangsumsiedlungen im und nach dem Zweiten Weltkrieg in die Geschichte der "totalitären Staaten" unzureichend und verdecke die gravierenden strukturellen Unterschiede zwischen dem nationalsozialistischen und dem kommunistischen Vorgehen sowie der "bürgerlichen" Planspiele. Hinzu komme, dass die Durchführbarkeit dieser Zwangsmaßnahmen weniger mit dem totalitären Charakter der jeweiligen Systeme als vielmehr mit dem Wesen des modernen Krieges zusammengehangen habe. Der "Komplex Vertreibung" gehöre somit in das Zeitalter des "totalen Krieges" 1914-1945, das seinerseits ohne seine unmittelbare Vorgeschichte seit 1871 kaum richtig zu verstehen sei.

Stand der erste, einführende Workshoptag im Lichte der polnisch-tschechisch-deutschen Kontextualisierung und der historiographischen Beschreibung der Problematik der Erinnerung von Flucht und Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung aus den polnischen und tschechischen Staaten in den Jahren nach dem Kriegsende, so erweiterte der folgende Tag den Betrachtungsrahmen auf strukturelle Aspekte der Deutungsgeschichte und mögliche weiter greifende Kontextualisierungsmöglichkeiten.

Zunächst diskutierte Mathias Beer (Tübingen) das Verhältnis zwischen traumatischer Primärerfahrung, Gruppengedächtnis und Erinnerungskultur anhand der oft gescholtenen "Ost-Dokumentation". Die darin aufbewahrten Berichte, die größtenteils vom Ende der vierziger und Beginn fünfziger Jahre stammten, wiesen v.a. auf das Bedürfnis der Zeugen hin, ihre traumatischen Erfahrungen über Flucht und Vertreibung niederzuschreiben. Beer betonte, dass die Materialsammlung ebenso wie die fünfbändige "Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost- Mitteleuropa" zwar mit einer klar bestimmbaren politischen Absicht im Rahmen des Bundesvertriebenengesetzes von 1953 gefördert worden war, diese Erwartungen aber nur zu einem Teil erfüllte: Tatsächlich habe die Historikergruppe methodisch außerordentlich streng gearbeitet, so dass an der Zuverlässigkeit des Materials trotz seiner Belastung durch politisches Kalkül kein Zweifel bestehen könne und es für eine wissenschaftliche Aufarbeitung unverzichtbar sei. Zudem habe die Gruppe den Anspruch formuliert, in eine universalhistorisch aufgefasste Gesamtgeschichte von Zwangsumsiedlungen einzumünden. Dementsprechend sei der hierfür vorgesehene letzte Band der Dokumentation nicht mehr veröffentlicht, da er den erinnerungspolitischen Erwartungen nicht entsprach. Dem Einwand, dass hierzu auch eine Betrachtung von Stereotypen und möglicherweise verfälschenden Erinnerungs- und Darstellungsstrategien gehöre, wie sie bei Zeitzeugen immer zu beobachten seien, stimmte Beer zu.

Mit dieser Frage wiederum befasste sich eingehender Friedhelm Boll (Bonn) in seinem Beitrag "Zur Problematik von Zeitzeugenberichten". Er analysierte auf der Grundlage eigener Forschungen mit persönlichen Berichten von Verfolgungsopfern "zweier Diktaturen". Boll stellte heraus, dass die jeweiligen Interviewbedingungen, aber auch das Lebensalter (und damit das Ergebnis persönlicher Verarbeitungsprozesse) das individuelle Gedächtnis in hohem Maße beeinflussen. Boll verwies sowohl auf die nicht unumstrittenen Arbeiten Harald Welsers als auch auf das bekannte Diktum, dass auch die eigene Geschichte jeweils neu erfunden werde, wenn man sich ihrer erinnere. Dadurch würden freilich Zeitzeugenberichte keineswegs wertlos, stellten die Forschung aber vor methodische Probleme. In der Diskussion wurde zusätzlich auf das Problem verwiesen, dass nur bestimmte Gruppen und Individuen überhaupt befragt würden bzw. ihre eigene Geschichte als der Aufzeichnung wert befänden: So seien etwa Berichte von Deutschen, die in der Zeit der "freiwilligen Ausreise" aus Polen in den Westen gegangen seien und keine Opfer- oder Verfolgungsperspektive anböten, in den einschlägigen Dokumentationen nicht zu finden.

Volker Zimmermann (Düsseldorf) und Ingo Haar (Berlin) untersuchten Träger und Trägergruppen spezifischer Geschichtsbilder und Deutungsstrategien. Zimmermann machte am Beispiel dreier Geschichtsbilder sudetendeutscher Organisationen (dem nationalkonservativen 'Witiko-Bund', der christlich- sozialen 'Ackermann- Gemeinde' und der sozialdemokratischen 'Seliger-Gemeinde') deutlich, wie unterschiedlich das kollektive Gedächtnis an die Zwangsumsiedlung innerhalb der "Vertriebenen" gestaltet werden konnte. Vertrat der Witiko-Bund ausschließlich eine einseitige, am deutschen Opfergang orientierte Darstellung, so thematisieren die beiden anderen Organisationen auch die Verfolgung von Tschechen und Sozialdemokraten durch die sudetendeutschen Nationalsozialisten von 1938 bis 1945. Das christlichsoziale und sozialdemokratische Geschichtsbild verweigerte sich dem in Westdeutschland hegemonialen Opferdiskurs und ließ sich somit nicht in die "Gesinnungsgemeinschaft" einfügen. Dementsprechend blieben sie im Rahmen des BdV auch minoritär, waren aber wegweisend durch ihre Teilnahme an deutsch-tschechischen Versöhnungsgesprächen und ihrem Beharren auf einem differenzierten Geschichtsbild.

Ingo Haar wiederum untersuchte die Entstehung des über lange Zeit allgemein akzeptierten Diskurses in der Vertriebenenforschung. Haar zog eine über teilweise identische Akteure vermittelte Kontinuitätslinie zwischen der "Vertreibung der Deutschen aus Ost- und Südosteuropa als unvermeidliche Reaktion auf die Genozid- und Umsiedlungspolitik im Nationalsozialismus" und der eugenisch-rassenhygienischen Neuordnungspolitik Hitlers und Himmlers, insbesondere über den "Verband für das Deutschtum im Ausland". Die "sozialbiologische Gruppendiskussion", die zunächst im "Auslandsdeutschtum", negativ an der Definition von Juden und Slawen entwickelt wurde, setzte sich in der Eingrenzung des Gegenstandes der Vertriebenenforschung zwar modifiziert, aber weitgehend bruchlos fort. Dies bezog sich sowohl auf die Definition des eigentlichen "Vertriebenen" als auch auf die Deutung des Geschehens selbst: Nicht die deutsche Politik der Jahre 1939-1945 wurde als Ursache der Zwangsumsiedlungen ausgemacht, sondern der Aufstieg des Kommunismus einerseits, der radikale Nationalismus der slawischen Völker andererseits. Diese Sichtweise galt auch für die Betrachtung der Umsiedlungen während des Nationalsozialismus, wenn etwa die Baltendeutschen "Heim ins Reich" umgesiedelt wurden, um sie vor der Bolschewisierung zu schützen. Auch auf organisatorischer Ebene fand Haar deutliche Kontinuitäten: So habe sich die Gründung der "Landsmannschaften" an den Volksgruppenorganisationen der Zwischenkriegszeit orientiert. Sie wurde im Rahmen der gleichen Logik etwa auch auf Rumäniendeutsche übertragen - nicht, weil diese ebenfalls Opfer ethnischer Säuberungen gewesen wären, die es dort gar nicht gegeben hatte, sondern wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer vor dem Krieg definierten Volksgruppe. In der gleichen Logik stand der Versuch, die Besonderheit der einzelnen Gruppen - statt ihrer lückenlosen Integration in die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft - zu konservieren. Die merkwürdige Dichotomie des Versuchs, die Vertriebenen "einerseits als ethnische Gruppe zusammenzuhalten, sie aber andererseits als leistungsbereiten Teilkörper des gesamten Volkes auszuweisen", löste sich aber - trotz aller Rückkehrszenarien - in der "unumkehrbaren Eingliederung ... als selbständige Individuen" auf.

Fabrice d´Almeida (Berlin) schloss Überlegungen zur bildlichen Darstellung und Bezeichnung von Flucht und Vertreibung in der deutschen, französischen und angloamerikanischen Pressefotografie an. Während die französische AFP oder die englischsprachige Corbis-Datenbanken die Begriffe "refugees" oder "réfugiés" an den Exodus und den Holocaust unter dem Nationalsozialismus kopple, führe die DPA als "Flüchtlinge" lediglich deutsche Zwangsumsiedler der Jahre 1945-48. Unter "Vertriebene" hingegen figurierten lediglich Funktionäre und Veranstaltungen des BdV. Damit gebe es zwei Bildgedächtnisse von Vertreibung und Flucht: Ein internationales, in dem vor allem die Erfahrungen der Shoah, des Holocaust und die kurze Zeit von 1945 bis 1946 (DP- Lager) dargestellt werde, und in dem die jüdische Geschichte und die Shoah im Vordergrund stünden. Das deutsche Bildgedächtnis hingegen erkläre jede Gruppe "auf spezifische Weise zu Opfern".
Unmittelbar daran anschließend untersuchte Ute Gerhard (Dortmund) das Begriffsfeld "Vertreibung" aus diskurstheoretischer Perspektive. Gerhard betonte, dass ein Streit über den jeweils richtigen Wortgebrauch immer auch eine Auseinandersetzung "um konstitutive Instanzen sozialer Wirklichkeit", um die "diskursive Produktion bzw. Produziertheit sozialer Gegenstände" sei. Gerhard verwies darauf, dass in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg im öffentlichen und administrativen Gebrauch der Begriff "Flüchtling" üblich gewesen sei. Erst mit dem "Bundesvertriebenengesetz" von 1953 wurde der heute übliche Begriff eingeführt und bereits damals kritisch zu Revisions- und Statusabsichten in Beziehung gesetzt. Er diente vor allem anderen aber dazu, die deutschen Zwangsumgesiedelten und Flüchtlinge von anderen displaced persons abzugrenzen - mit nicht zu vernachlässigenden Folgen für den rechtlichen und gesellschaftlichen Status der Betreffenden, da der Begriff des "Vertriebenen" nun untrennbar mit der Eigenschaft "deutsch" und "Opfer" gekoppelt wurde. Gleichzeitig wurden die "Flüchtlinge" - zur damaligen Zeit nicht selten ehemalige Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge - zur "problematischen Gruppe" - einschließlich der Reservierung des "Trecks" als Wanderungsform für Vertriebene, des "Rudels" für Flüchtlinge - und damit der Notwendigkeit einer Abwehr, die für die Vertriebenen eben nicht gilt.

Schließlich untersuchte Ségolène Plyer (Paris), wie in von ihr befragten Familien Erinnerung an Zwangsumsiedlung in der BRD einerseits, in der DDR andererseits tradiert wurde und in welchem Verhältnis hierzu der offizielle Erinnerungsdiskurs stand. Plyer betonte, dass in der Bundesrepublik die "Familienerinnerung eine maßgebende Rolle in der Gestaltung der öffentlichen Gedenkart" gespielt habe, während in der DDR, die die im Westen als Vertriebene bezeichneten Menschen als Umsiedler in den Gesamtkomplex der Agrarreform integrierte, ein Interesse an der öffentlichen oder halböffentlichen Weitergabe von Gewalt- und Zwangserfahrungen kein Interesse bestand. Plyer betonte, dass gleichwohl im engsten Familien- und Freundeskreis entsprechende Austauschmöglichkeiten gefunden wurden. Näherer Betrachtung würdig ist sicherlich ihre Nebenbemerkung, dass die Nichtintegration in einen nationalen Legitimationsrahmen bei den Zwangsumsiedlern in der DDR auch einer Politisierung ihres individuellen Gedächtnisses entgegenwirkte und dieses eher die Form einer mitunter melancholischen Reminiszenz an Kindheitserlebnisse (vor der Zwangsumsiedlung) annahm. Ähnliche individuelle Gedächtniskonstruktionen im Westen waren zwar feststellbar, wegen der allseitigen Politisierung des Gegenstandes aber öffentlich nicht repräsentiert.

Die abschließenden Vorträge Onur Yildirims (Ankara), Matthias Middells (Lepizig) und Rainer Ohligers (Berlin) diskutierten weitaus umfänglichere Kontextualisierungen, als sie in der bisherigen Diskussion üblich sind.

Yildirim betrachtete sowohl den konkreten sozialen und politischen Umgang mit den Opfern des Bevölkerungstausches zwischen der Türkei und Griechenland im Jahre 1923 als auch ihre Einordnung in die nationale griechische Meistererzählung im Wechsel der politischen Konjunkturen. Yildirim betonte, dass die persönlichen Geschichten der Beteiligten kaum Interesse erregten und das eigentliche Interesse in der Definition ihres Status innerhalb der griechischen Gesellschaft lag. Über lange Strecken galt der Bevölkerungstausch als nationales Desaster, das in einer Linie mit dem Fall von Konstantinopel von 1453 und später dem Bürgerkrieg von 1945/46 gesehen wurde. In einer ersten Phase konnten die Umsiedler als Chiffre für die Verfolgung von Griechen im allgemeinen vorgestellt werden, wurden aber sehr rasch zum Gegenstand innenpolitischer Auseinandersetzungen: Da sich die Umsiedler als Opfer der prodeutschen Politik des Monarchen Konstantin sahen, schlossen sie sich in ihrer überwältigenden Mehrheit den pro-alliierten Liberalen unter Venizelos an. In der Folge wurden diese bei den Liberalen positiv besetzt, von den "Antivenizelisten" hingegen als nationales Risiko und als betrügerische Unruhestifter dargestellt. Während aber die öffentliche Repräsentation mit den politischen Konjunkturen schwankte, wurde die Historiographie vor allem von der liberalen Sichtweise geprägt und propagierte die Aufnahme der Neuankömmlinge in den Schoß der Nation. Tatsächlich waren die Umsiedler eine ernstzunehmende politische Größe: 1926 und 1928 waren sie maßgeblich am Wahlsieg Venizelos' beteiligt, wandten sich aber bald enttäuscht von den Liberalen ab, nachdem diese 1930 gegenüber der Türkei auf Restitution und Entschädigungen verzichteten: Sie gingen zu den Kommunisten oder, häufiger noch, entsagten jedem politischen Engagement. Ab den dreißiger bis in die siebziger Jahre schließlich verdrängten andere Auseinandersetzungen (insbesondere über Entwicklung und Unterentwicklung) die politischen Diskussionen und eine historiographische und politische Beschäftigung mit den Umsiedlern fand praktisch nicht mehr statt. Dies sollte sich erst mit der Zypern-Krise von 1974 - und damit wiederum angelehnt an aktuelle politische Konflikte - ändern.

Im Anschluss stellte Middell fest, dass die meisten Zwangsemigrationen des 20. Jahrhunderts außerhalb des europäischen Raumes, so z.B. in Asien und in Afrika, stattgefunden haben, im europäischen Bewusstsein aber praktisch nicht repräsentiert sind. Für Europa konstatierte er drei Perioden der Zwangsmigration, die im Kontext der Auseinandersetzungen um die nationale Souveränität, des Imperialismus und der Industrialisierung zu betrachten seien: Als erste Periode schlug Middell die Bevölkerungsverschiebung während des ersten Weltkrieges und nach 1918 aufgrund der Lausanner Abkommen und die Auseinandersetzungen um die Curzon-Linie (seit 1923) vor. Die zweite Periode datiere von Anfang der dreißiger Jahre bis zur Vertreibung deutscher Minderheiten 1945-1949. Diese Periode sei charakterisiert durch Lagersysteme und Bevölkerungsverschiebungen in Deutschland und in der Sowjetunion. Später wurden Bevölkerungsverschiebungen durch internationale Verträge abgesichert; diese letzte Periode umfasse die Zeit von 1954 (Algerien und Indien) bis in die neunziger Jahre, wobei die Ereignisse in Angola, Ruanda, Côte d´Ivoire und auf dem Balkan in den neunziger Jahren deutlich machten, dass auf "Lösungen" nach dem Muster der dreißiger und vierziger Jahre durchaus jederzeit zurückgegriffen werden könne. Middell schlug eine Kontextualisierung im Rahmen der Geschichte des Imperialismus und der aggressiven Suche nach Räumen in der Zeit von 1914 bis 1960 vor. In der Diskussion stieß bei einigen Spezialisten des "Komplex Vertreibung" vor allem die globale Perspektive, die Middell vorschlug, auf Widerspruch, da das jeweils Spezifische der einzelnen Vorgänge verloren gehe. Andererseits aber wurde angeführt, dass das Bestreiten der Einzigartigkeit nicht nur des "Komplex Vertreibung" sowohl zu einem besseren Verständnis seiner Grundlagen als auch zu einer weniger exklusiven Einbettung in eine historische Meistererzählung dienen könne. Hier wird freilich eine Grundfrage der Historiographie berührt und es besteht weiterhin Diskussionsbedarf.

Rainer Ohliger beendete mit einem Versuch der Einordnung der "Vertreibung" in die allgemeine deutsche Migrationsgeschichte und einem Plädoyer für den Gebrauch des Begriffs "Zwangsmigration" den Workshop. Ohliger argumentierte, dass die Begriffspaare Flucht und Vertreibung als starre ideologische Festlegung einer nationalen Geschichtsschreibung während der Jahrzehnte des Kalten Krieges entstanden waren und seit 1989 nicht mehr zeitgemäß seien. Auch Ohliger ordnete das Geschehen nach dem Zweiten Weltkrieg dem "Jahrhundert der Flucht" zu, verwies aber gleichzeitig darauf, dass in der Migrationsforschung eine klare Trennung von zwangsweiser und freiwilliger Migration mit guten Gründen nicht vorgenommen werde. Eine integrierte Betrachtungsweise biete zudem die Möglichkeit, auch den "Komplex Vertreibung" in die Geschichte interethnischer Beziehungen einzubeziehen - was die Zwangsmigration der Deutschen nach 1945 als spezifischen oder Sonderfall, aber als nicht einzigartig auffassen hilft.

Der Workshop wurde von den TeilnehmerInnen als sehr anregend empfunden. Er war nicht in der Lage, die Vielzahl der aufgeworfenen Fragen zu beantworten und die angedeuteten Darstellungs- und Deutungslinien am Ende zu einem tragfähigen Gewebe zu verknüpfen. Dies lag aber auch gar nicht in seiner Absicht. Die selbst gestellte Aufgabe, solche in der Diskussion bislang kaum berücksichtigten Fragen wenigstens zu stellen und ihre Berücksichtigung einzufordern, wurde jedenfalls erfüllt. Es bleibt zu hoffen, dass diese Ansätze nun weiterverfolgt werden.

1 Siehe hierzu Jürgen Danyel/Philipp Ther (Hg.), Flucht und Vertreibung in europäischer Perspektive (= ZfG 51. Jg. (2003), H. 1).
2 Der Begriff "Vertriebene" wird hier in Anführungszeichen gesetzt, da seine wertneutrale Verwendbarkeit nicht erst durch die Beiträge von Ute Gerhard, Ingo Haar und Volker Zimmermann stark in Zweifel gezogen worden ist, er aber durch seine allgemeine Verbreitung und offensichtliche Eindeutigkeit vorläufig unverzichtbar scheint. In der Regel wird, um die Zwangsumsiedlungen aus Ostmitteleuropa nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu bezeichnen, die von Wlodzimierz Borodziej und Artur Hajnicz geprägte Formel "Komplex Vertreibung" verwendet, da sie es ermöglicht, neben den Ereignissen auch ihre Repräsentation und Funktionalisierung beiderseits der jeweiligen Grenzen zu bezeichnen.