140 Jahre Seminar für Alte Geschichte in Marburg

140 Jahre Seminar für Alte Geschichte in Marburg

Organisatoren
Volker Losemann / Kai Ruffing, Seminar für Alte Geschichte, Philipps-Universität Marburg; Katharina Schaal, Universitätsarchiv der Philipps-Universität im Staatsarchiv Marburg
Ort
Marburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.04.2012 - 20.04.2012
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Von
Claudia Deglau, Seminar für Alte Geschichte, Philipps-Universität Marburg

Am 6. April 1872 wurde innerhalb des Historischen Seminars der Philipps-Universität Marburg eine eigene Abteilung für Alte Geschichte eingerichtet. Das Jubiläum der Institutionalisierung war der Anlass der internationalen Tagung „140 Jahre Seminar für Alte Geschichte in Marburg“, die das Seminar für Alte Geschichte in Zusammenarbeit mit dem Universitätsarchiv der Philipps-Universität am 19. und 20. April veranstaltete. Maßgeblich wurde die Geschichte des Seminars von seinen Ordinarien geprägt und so wurde ein biographischer Ansatz als Zugang gewählt: Renommierte Referenten stellten jeweils einen Marburger Lehrstuhlinhaber vor. Zudem wurden in weiteren Beiträgen das geistige Klima im Umfeld der Marburger Altertumswissenschaften in den 1920er-Jahren sowie die Situation der Alten Geschichte nach 1945 in den Blick genommen.

Begrüßende und einleitende Worte sprachen der Archivdirektor des Hessischen Staatsarchivs Marburg, Andreas Hedwig, der Dekan des Fachbereichs Geschichte und Kulturwissenschaften, Wilhelm E. Winterhager, der Sprecher des Seminars für Alte Geschichte, Hans-Joachim Drexhage, sowie Volker Losemann, der die Tagung zusammen mit Kai Ruffing veranstaltete. Drexhage legte dar, dass die Antike schon in dem Freiheitsbrief von 1529, den Landgraf Philipp der Großmütige zwei Jahre nach der Universitätsgründung ausgestellt hatte, einen integralen Bestandteil der universitären Ausbildung darstellte. So bestand die Aufgabe des historicus insbesondere darin, antike Historiographen zu lehren und lesen. Wie Winterhager in seiner Ansprache hervorhob, hat die Alte Geschichte ihre starke Stellung innerhalb des Curriculums bis heute (auch nach der Bologna-Reform) behaupten können. Losemann wies darauf hin, dass im Rahmen des Gesamtkonzeptes der Tagung nicht nur die Marburger Lehrstuhlinhaber berücksichtigt werden sollen, sondern auch prominente Althistoriker, deren Karriere in Marburg begonnen hatte. Zudem stellte er die begleitende Ausstellung im Staatsarchiv vor: Neben dem Freiheitsbrief, der im Besitz des Hessischen Staatsarchivs Marburg ist, wurde neben weiteren Exponaten auch das sogenannte Waldecker Livius-Fragment aus den Beständen des Universitätsarchivs der Philipps-Universität präsentiert.

Der Eröffnungsvortrag von HELMUTH SCHNEIDER (Kassel) galt dem ersten Lehrstuhlinhaber Heinrich Nissen, der von 1869 bis 1877 in Marburg wirkte. Er wurde im Alter von erst 31 Jahren als Historiker nach Marburg berufen – die Institutionalisierung der Alten Geschichte erfolgte erst drei Jahre später. Der aus Hadersleben stammende Nissen hatte Klassische Philologie und Alte Geschichte in Kiel und Berlin studiert, wo er auch bei August Boeckh und Theodor Mommsen hörte. Er wurde mit einer Arbeit über Livius promoviert. Aus seinen Italien-Reisen, die er auf Anregung von Mommsen zwischen 1863 und 1866 unternahm, entstand sein Werk über die Stadtentwicklung Pompejis. Nissens heute weitgehend vergessenes Hauptwerk „Italische Landeskunde“ (1883 Band 1, 1903 Band 2), das er ebenfalls auf Anregung von Mommsen verfasste, sei damals nicht angemessen gewürdigt worden, so Schneider. Intensiv befasste sich Nissen darin mit einzelnen Städten sowie Klima- und Vegetationszonen und zog Vergleiche zwischen der Antike und seiner Gegenwart. Indem er die Fachgrenzen der Geschichte hin zur Geographie verließ, verfolgte Nissen einen in seiner Zeit modernen Ansatz. Insgesamt kann Nissen als ein zu Unrecht „vergessener“ Althistoriker angesehen werden, so das Fazit von Schneider.

Benedictus Niese wurde von REINHOLD BICHLER (Innsbruck) vorgestellt. Niese wurde auf Fehmarn geboren und stammte aus einer Pastorenfamilie. Sein Studium der Klassischen Philologie und der Alten Geschichte in Kiel und Bonn unterbrach er für einen Einsatz als Kriegsfreiwilliger im deutsch-französischen Krieg. Er wurde im jungen Alter von 22 Jahren promoviert und unternahm Bildungsreisen nach Italien. Als Nissen nach Göttingen berufen wurde, erhielt Niese 1877 einen Ruf nach Marburg als außerordentlicher Professor, 1879 erhielt er das Ordinariat. 1881 folgte er einem Ruf nach Breslau, sein Nachfolger wurde Eugen Bormann. 1885 kehrte er nach Marburg zurück, denn Bormann war nach Wien gewechselt. Nieses Studie über die Entwicklung der Homerischen Poesie, in der er sich mit einer unitarischen Position gegen die Liedertheorie wandte, hatte zuvor für Aufsehen gesorgt. In seine zweite Marburger Schaffensphase fallen der „Grundriss der römischen Geschichte“ im „Handbuch der Klassischen Altertumswissenschaften“ und eine sechsbändige Edition des Flavius Josephus. Nieses Grundriss erschien in vier Auflagen, die fünfte wurde von Ernst Hohl neu bearbeitet. Obwohl Niese ein solider Handbuchautor gewesen sei, habe man zu Unrecht seinen „nüchternen“ Stil kritisiert. Indem Bichler Passagen aus Nieses Grundriss mit der Überarbeitung von Hohl verglich, zeigte er Bewertungsverschiebungen bezüglich des Hellenismus auf. Ein Vergleich mit Droysen machte zudem deutlich, warum Niese im Schatten des Faszinosums Droysen in Vergessenheit geraten konnte: Er habe keine teleologische Geschichtssicht verfolgt, sondern habe sich vielmehr bei seiner Darstellung der politischen Ereignisgeschichte streng an die Quellen gehalten. Sein Stil war klar und informativ sowie ohne Pathos. Auch heute noch biete Nieses Werk zuverlässige Informationen, sein solides Werk zeuge von hohem Fleiß und er sei daher zu Unrecht als Handbuchautor verkannt worden, resümierte Bichler. Zweifellos darf er als einer der bedeutendsten Marburger Althistoriker angesehen werden.

Mit Eugen Bormann stellte ECKHARD WIRBELAUER (Straßburg) einen Ordinarius vor, der als Grundlagenforscher nachhaltig gewirkt hat: Er gab mehrere Bände des Corpus Inscriptionum Latinarum (CIL) heraus. Der überwiegend epigraphisch arbeitende Althistoriker Bormann studierte in Bonn und Berlin, wo er Mommsens Schüler wurde. Dieser hatte sich später auch für seine Berufung nach Marburg eingesetzt, Bormann bekleidete den Lehrstuhl von 1881 bis 1885. Die Marburger Fakultät setzte ihn primo loco, obgleich sie bemängelt habe, Bormann habe noch keine „eigentliche historische Arbeit“ geleistet, indem er sich „lediglich“ mit Inschriften beschäftigt habe. Gegen seine Berufung gab es Widerstand in Marburg, schließlich entschied das Ministerium und berief Bormann. In Marburg kündigte er Vorlesungen zu stadtrömischen Inschriften sowie Grabinschriften an. Wirbelauer hob die Wichtigkeit akribisch arbeitender Grundlagenforscher hervor und machte deutlich, dass Bormanns Werk auf den zweiten Blick sehr nachhaltig gewesen sei.

MATTHÄUS HEIL (Berlin) stellte den akademischen Werdegang von Elimar Klebs, der von 1906 bis 1913 in Marburg wirkte, als eine Abfolge verpasster Chancen dar. Ihm habe ein Dasein als „ewiger Privatdozent“ gedroht, bevor er im Alter von 54 doch noch nach Marburg berufen wurde. Klebs studierte in Königsberg und Berlin, wo Curtius, Droysen und Mommsen zu seinen Lehrern zählten. Er bearbeitete neben Hermann Dessau und Paul von Rohden an der Berliner Akademie die erste Auflage der Prosopographia Imperii Romani (PIR), doch habe er diese Aufgabe als reine Auftragsarbeit verstanden. Die Möglichkeiten, die die zu der Zeit neu aufkommenden Großprojekte boten, habe er verkannt und dadurch mehrere Chancen vertan. 1906 sei Marburg vom Weggang Nieses überrascht worden und die Fakultät habe kurzfristig Ersatz gesucht. Zur Sicherung der Lehre sei Klebs berufen worden, er war zunächst außerordentlicher, ab 1907 dann ordentlicher Professor. Doch auch diese Chance zum Neuanfang habe Klebs nicht genutzt. Nachdem er ernsthaft krank geworden war, bat er schließlich 1914 um seine Versetzung in den Ruhestand. Als er 1918 starb, habe er kein Lebenswerk hinterlassen, er hatte keine Doktoranden und es gab keinen Nachruf auf ihn. Sein Nachfolger wurde für kurze Zeit (1914–1916) Walter Otto.

Abgerundet wurde der erste Tag mit einem abendlichen Festvortrag von ALEXANDER DEMANDT (Lindheim/Berlin), der einen Überblick über die Wandlungen des Geschichtsbildes vom Humanismus zum Historismus bot. Angefangen im 16. Jahrhundert, in dem die biblische Autorität für Anfang und Ende der Historie das Geschichtsbild dominierte, spannte Demandt einen großen Bogen über den Kampf der Konfessionen und den Rückgriff der Humanisten auf die Antike hin zur Aufklärung und dem Bruch mit dem christlichen Geschichtsbild, bevor er sich der Professionalisierung im 18. Jahrhundert und der Institutionalisierung der Geschichte im 19. Jahrhundert zuwandte. Er erläuterte damit den großen Entwicklungsrahmen, in den der Marburger Mikrokosmos einzuordnen ist.

In seinem Grußwort zu Beginn des zweiten Tagungstages unterstrich ECKART CONZE (Marburg), der Sprecher des Marburger Arbeitskreises für Universitätsgeschichte, die Bedeutung der Scharnierfunktion der Universitätsgeschichte zwischen Wissenschaftsgeschichte einerseits und politisch-gesellschaftlicher Geschichte andererseits.

Mit Wilhelm Enßlin stellte BEAT NÄF (Zürich) dann einen Althistoriker vor, der in Marburg als Privatdozent gelehrt hat. Enßlin studierte zunächst in Tübingen, Berlin, München und Straßburg Geschichte und Klassische Philologie und wurde mit einer Arbeit über „Kaiser Julians Gesetzgebungswerk und Reichsverwaltung“ promoviert. Im Ersten Weltkrieg diente er als Soldat und wurde 1920 aus französischer Gefangenschaft entlassen. Am Marburger Gymnasium Philippinum wurde er 1922 Studienrat und habilitierte sich ein Jahr später mit einer Arbeit über Ammianus Marcellinus. In der Lehre vertrat er ein breites Themenspektrum, beispielsweise bot er auch Lehrveranstaltungen zur Wirtschaftsgeschichte an. 1927 wurde er zum nichtbeamteten außerordentlichen Professor in Marburg ernannt, 1930 folgte er dann einem Ruf nach Graz. Näf versuchte, Enßlins Arbeiten zu den Ostgoten in den 1930er-Jahren in Beziehung zu setzen zu den rassistischen bzw. völkischen Darstellungen der Germanen, Ostgoten und Theoderichs im Nationalsozialismus. Enßlin hatte ein positives Germanenbild und stand damit in einer langen Tradition, beispielsweise sah er Theoderichs Treue gegenüber Goten und Römern als eine deutsche Eigenschaft an. Insbesondere betonte er die „germanische Gefolgschaft“. Näf konnte zeigen, dass Enßlin sich nicht von Werken distanzierte, die einen rassekundlichen Ansatz verfolgten. Zudem beteiligte er sich mit Beiträgen am „Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften“: an dem von Helmut Berve herausgegebenem Sammelband „Das Neue Bild der Antike“ und dem von Joseph Vogt herausgegebenem Sammelband „Rom und Karthago“. Enßlins Werk nach 1945 ist durch Kontinuität gekennzeichnet.

Das geistige Klima im Umfeld der Marburger Altertumswissenschaften der 1920er-Jahre schilderte BARBARA STIEWE (Marburg) am Beispiel des Klassischen Philologen Paul Friedländer, der von 1920 bis 1932 in Marburg lehrte. Friedländer gehörte zu einer jungen Generation von Wilamowitz-Schülern, die in Abgrenzung von der Bonner historisch-positivistischen Methodik eine ‚neue‘ Wissenschaftsauffassung vertraten. Sie versuchten, durch eine ganzheitlich inspirierte Hermeneutik eine neuartige Ethik freizulegen und verstanden die antike Literatur nicht als rein geschichtliche Quelle; für sie war das Altertum vielmehr ein zeitenthobener Bildungswert. Eine Gruppe Konservativer um den Dekan Anton von Premerstein versuchte, die Berufung Friedländers nach Marburg zu verhindern, wie Stiewe anhand der Akten aus dem Universitätsarchiv belegen konnte. Dabei bildete sich eine Frontstellung zwischen den Anhängern der konservativen und der ‚neuen‘ Philologie. Zudem versuchte die Referentin, das Verhältnis Friedländers zu dem Historiker und George-Schüler Friedrich Wolters, der zur gleichen Zeit nach Marburg berufen worden war und um den sich in Marburg ein George-„Unterkreis“ herausgebildet hatte, zu ergründen. Beide verband eine freilich unterschiedlich ausgeprägte George-Bewunderung. Stiewe zeigte auf, dass es im Marburg der 1920er-Jahre einen interdisziplinären Dialog, einen Marburger „Salon“ Friedländers gegeben habe, dessen Ausprägung es noch gründlich zu erforschen gelte.

Als der von KAI RUFFING (Marburg) vorgestellte Anton Ritter von Premerstein 1916 nach Marburg berufen wurde, war die Lage der Alten Geschichte in Marburg nach dem Ausscheiden von Klebs nicht sehr günstig. Der in Laibach geborene österreichische Althistoriker hatte in Wien studiert, zu seinen Lehrern gehörte auch Bormann. Sein erster Ruf führte ihn nach Prag. Während des Ersten Weltkriegs war er für das Österreichische Rote Kreuz als Referent für die Kriegsgefangenenfürsorge an der Österreichischen Gesandtschaft in Bern tätig. Politisch verortete Ruffing ihn von seiner Sozialisation her als Anhänger der Habsburger Monarchie und so verwundert es nicht, dass er 1932 den Aufruf zur Wahl Hindenburgs sowie den „Ruf der Gebildeten an die Welt“ unterzeichnete. Dass er, wie viele seiner Kollegen auch, Förderndes Mitglied der SS war, wertete Ruffing als „Verbeugung vor dem System“, antisemitische Tendenzen ließen sich in seinem Werk nicht erkennen. Sein größtes Verdienst und für die Prinzipats-Forschung ein erheblicher Fortschritt war die Sicherung des auctoritas-Begriffs in Kapitel 34 der Res gestae divi Augusti aufgrund eines Neufundes, womit er eine Rekonstruktion Mommsens widerlegte. Von Premerstein deutete die auctoritas später als staatsrechtliche Kategorie. Sein Werk „Vom Werden und Wesen des Prinzipats“ wurde von seinem Schüler Hans Volkmann posthum veröffentlicht. Der soziologische Teil wurde gut aufgenommen, der staatsrechtliche Teil seines Werkes konnte sich nicht durchsetzen. Ruffing konnte überzeugend darlegen, dass von Premersteins Konzentration auf die Überlegungen zu den sozialen Grundlagen der Macht des Augustus vor dem Hintergrund seiner eigenen Zeit zu verstehen seien: Es sind die Erfahrungen eines Angehörigen des k.u.k-Adels, der mit der Auflösung Österreich-Ungarns 1918 den Untergang der Monarchie, meuternde Soldaten, die die Gefolgschaft aufkündigten, und Befehlsverweigerung erlebte.

Mit dem Alten Orient beschäftigte sich JOSEF WIESEHÖFER (Kiel): Er verglich die Orient-Bilder von Fritz Taeger, der (freilich mit Unterbrechung) von 1935 bis 1960 den Marburger Lehrstuhl innehatte und dem jüdischen Althistoriker Victor Ehrenberg, der 1939 von Prag nach England in die Emigration getrieben worden war. Taeger und Ehrenberg verband eine lebenslange enge Freundschaft. Wiesehöfer machte an einigen Beispielen deutlich, dass beide aus einer universalhistorischen Perspektive heraus von einer Bipolarität von Ost und West ausgehen: Ehrenberg zeichnet den Gegensatz als gleichberechtigtes Spiel und Gegenspiel von Ost und West, bei Taeger stehen Orient und Okzident für den Antagonismus von Despotie und Freiheit. Wiesehöfer zeigte, dass Taeger in seinen Werken NS-Ideologeme und -Wertungen übernahm, deren Motive schon in den 1920er-Jahren angelegt waren. In Neuauflagen seines Werkes „Das Altertum“ habe Taeger lediglich eingeräumt, die Bedeutung der Rasse sei überschätzt worden.

Die Situation der Alten Geschichte in Marburg nach 1945 nahm VOLKER LOSEMANN (Marburg) in den Blick. Taeger war im Zuge des Entnazifizierungsverfahrens seines Amtes enthoben worden. Wie es schließlich dazu kam, dass das Verfahren 1949 für Taeger ein positives Ende nahm, konnte Losemann anhand der Quellen aus dem Universitätsarchiv eindrücklich nachzeichnen. Er zeigte, dass man offenbar nicht mit einer Wiederkehr Taegers rechnete. Die universitären Gremien kamen jedoch lediglich zu der Einschätzung, Taeger sei kein Nationalsozialist gewesen, es habe ihm nur an politischer Urteilsfähigkeit gemangelt. In der Zwischenzeit bewarb sich Taeger an anderen Universitäten. Als die Fakultät schließlich eine Dreierliste ohne Taeger für die Wiederbesetzung des Lehrstuhls für Alte Geschichte verabschiedete, nahm das Verfahren eine überraschende Wendung: Nach persönlichen Verhandlungen in Wiesbaden wurde Taeger aufgrund der Intervention eines amerikanischen Universitätsoffiziers wieder eingestellt. Losemann machte abschließend deutlich, dass der für Taeger positive Ausgang des Entnazifizierungsverfahrens unter den Althistorikern den Normalfall darstellte.

Die beiden letzten Referenten wagten eine erste wissenschaftsgeschichtliche Annäherung an Karl Christ, der die Wissenschaftsgeschichte der Alten Geschichte als Disziplin in Deutschland etablierte. Von 1958 an war Christ in Marburg tätig, von 1965 bis zu seiner Emeritierung 1988 als ordentlicher Professor.

HARTMUT LEPPIN (Frankfurt am Main) gab einen Überblick über Christs Gesamtwerk von seinen numismatischen Anfängen bis hin zu den Forschungen zur Geschichte seines eigenen Faches. Als Christ Ende der 1960er-Jahre mit der Wissenschaftsgeschichte begann, sei diese eher verachtet worden – durch Christ habe sich dies langfristig geändert, er habe mit seiner Forschung Maßstäbe auch für andere Disziplinen gesetzt und Anstöße weit über die Fachgrenzen hinaus gegeben. Leppin zeigte, dass in der Rückschau in Christs wissenschaftsgeschichtlichen Publikationen eine deutliche Verschärfung seines Urteils auszumachen ist. Christ gehörte zu einer Schülergeneration, deren Fragen an die eigenen Lehrer bezüglich der Verstrickung in den Nationalsozialismus häufig unbeantwortet bleiben mussten, dennoch sei er immer beiden „Seiten“ gerecht geworden.

Wie fruchtbar die jahrelange enge Verbindung zwischen Karl Christ und der italienischen Althistorie, insbesondere mit Arnaldo Momigliano und später mit Emilio Gabba war, zeigte LEANDRO POLVERINI (Rom) auf. Er zeichnete die Entwicklung des wissenschaftlichen Austausches nach, der 1970 mit einer Serie von Konferenzen zur Wissenschaftsgeschichte in Gießen, Heidelberg und Marburg begann, die Momigliano und Christ gemeinsam organisierten. Christ unterhielt eine enorme Korrespondenz mit Wissenschaftlern auch über die Fachgrenzen hinaus. Der Referent betonte den Quellenwert des Briefwechsels zwischen Christ und Momigliano sowie zwischen Christ und Gabba. Die Auswertung dieser Korrespondenzen bezeichnete Polverini als Desiderat, dessen Untersuchung künftige Qualifikationsarbeiten leisten könnten. Wie stolz Christ auf den fruchtbaren wissenschaftlichen und persönlichen Austausch war, verdeutlichte Polverini mit einem Zitat Christs auf der Piazza del Duomo di Trento nach einem der Seminare: „Heute bin ich ein glücklicher Mensch.“

In der Abschlussdiskussion fasste KAI RUFFING die Ergebnisse der Konferenz zusammen und verwies auch auf die Grenzen des biographischen Ansatzes, der mit der Konzeption der Tagung verfolgt worden war. Walter Otto, Hans Volkmann und Dietmar Kienast, die auf der Tagung nicht gewürdigt werden konnten, sollen im geplanten Tagungsband berücksichtigt werden.

Die Summe der Vorträge ergab in der Zusammenschau einen chronologischen Überblick vom ersten Lehrstuhlinhaber Heinrich Nissen bis hin zu Karl Christ. Im Rückblick auf die Entwicklung des Seminars für Alte Geschichte in Marburg wurde dabei neben den fachlichen Schwerpunkten der Ordinarien auch ihre akademische Lehre thematisiert. Insbesondere wurde auch der Einfluss der Zeitläufte sowohl auf das wissenschaftliche Werk als auch auf das Wirken der Marburger Althistoriker diskutiert.

Konferenzübersicht:

Begrüßung und Einführung

Wilhelm E. Winterhager (Marburg)

Andreas Hedwig (Marburg)

Hans-Joachim Drexhage (Marburg)

Chair: Leandro Polverini

Helmuth Schneider (Kassel): Heinrich Nissen (1869-1877)

Reinhold Bichler (Innsbruck): Ein verkannter Handbuchautor? Benedictus Niese (1877-1881 und 1885-1906)

Chair: Josef Wiesehöfer

Eckhard Wirbelauer (Straßburg): Auf Mommsens Empfehlung, halb gegen seine Neigung – Eugen Bormann als Professor für Alte Geschichte in Marburg

Matthäus Heil (Berlin): Verpasste Chancen: Elimar Klebs in Berlin und Marburg

Alexander Demandt (Lindheim/Berlin), Festvortrag: Vom Humanismus zum Historismus. Wandlungen des Geschichtsbilds in der frühen Neuzeit

Grußwort Eckart Conze (Marburg)

Chair: Reinhold Bichler

Beat Näf (Zürich): Wilhelm Ensslin und die Spätantike

Barbara Stiewe (Marburg): Marburger Altertumswissenschaften in den 1920er-Jahren

Kai Ruffing (Marburg): Aus der Donaumonarchie an die Lahn oder Ein anderer Althistoriker zwischen Habsburg/Hohenzollern Reich und NS-Diktatur: Anton Ritter v. Premerstein (1916–1935)

Chair: Eckhard Wirbelauer

Josef Wiesehöfer (Kiel): Fritz Taeger (1935–1960), Victor Ehrenberg und der Alte Orient

Volker Losemann (Marburg): Brauchen Sie keinen Althistoriker? Alte Geschichte in Marburg nach 1945

Chair: Helmuth Schneider

Hartmut Leppin (Frankfurt am Main): Im Banne der Dialektik zwischen Alter Geschichte und Wissenschaftsgeschichte: Karl Christ (1965–1988)

Leandro Polverini (Rom): Karl Christ und die italienische Althistorie

Abschlussdiskussion


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