Demokratie und Wirtschaft

Demokratie und Wirtschaft

Organisatoren
BMBF-Verbundprojekt „Gestaltung der Freiheit – Regulierung von Wirtschaft zwischen historischer Prägung und Normierung“, Georg-August-Universität Göttingen; Zentrum für Historische Grundlagen der Gegenwart, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn; London School of Economics
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
01.03.2012 -
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Von
Julia Maier-Rigaud, Institut für Geschichtswissenschaft / Zentrum für Historische Grundlagen der Gegenwart, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Das interdisziplinäre Verbundprojekt „Gestaltung der Freiheit – Regulierung von Wirtschaft zwischen historischer Prägung und Normierung“ an den Universitäten Bonn, Göttingen und der LSE wird seit Mai 2009 vom BMBF gefördert. Es hat sich die Erforschung von Regulierung in ihrer wirtschaftshistorischen, juristischen sowie rechtshistorischen Dimension zum Ziel gesetzt. Die Tagung zum Thema „Demokratie und Wirtschaft“ war der vierte von fünf Workshops, die im Rahmen des Projekts durchgeführt wurden. Die Beiträge beleuchteten, überwiegend aus rechtswissenschaftlicher und -historischer Perspektive, das Verhältnis von wirtschaftlicher Regulierung und demokratischer Ordnung.

In einem einleitenden Beitrag zeichnete THOMAS ZÜLL (Göttingen) rechtliche Rahmenbedingungen nach, die das Verhältnis zwischen individuellen ökonomischen Freiheiten und politischen Gestaltungsmöglichkeiten bestimmen. Sowohl das Grundgesetz als auch die Europäischen Verträge lassen mit Blick auf die Gewichtung von Freiheit und politischer Steuerung Interpretationsspielraum. So fällt mit der verfassungsgerichtlich festgestellten „wirtschaftspolitischen Neutralität“ des Grundgesetzes die ordnungspoltische Gestaltung in die Verantwortung des Gesetzgebers. Züll beschrieb verschiedene Ausprägungen des Verhältnisses zwischen Demokratie und Wirtschaft: Einerseits sei die Gefahr einer Einschränkung der Demokratie durch wirtschaftliche Interessen zu befürchten, die eine unzureichende Wahrnehmung von Gemeinwohlinteressen zur Folge haben kann. Zum anderen sei zu beobachten, dass der politische Wettbewerb um Wählerstimmen langfristige wirtschaftliche Entscheidungen erschwere. Abschließend zeigte Züll Beispiele institutioneller Ausprägungen von Regulierung auf nationaler und europäischer Ebene auf.

Die erste Sektion mit dem Titel „Responsivität der Demokratie vs. Stabile Wettbewerbsverhältnisse“ schloss unmittelbar an die Frage nach der Rolle demokratischer Institutionen für die Wirtschaftsregulierung an. In seinem Beitrag „Grenzen legislativer Regulierung: Komplexität, Dynamik, Flexibilität als Argument?“ fragte REINER SCHMIDT (Universität Augsburg) vor dem Hintergrund sich schnell wandelnder technischer und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen nach der Eignung des Parlamentsgesetzes als regulatorisches Instrument. Schmidt richtete dazu den Blick zunächst auf die Aufgabe und Erscheinungsform der Gesetze. Zum einen liege eine erhebliche Vielfalt an Regeln vor. Parlamentsgesetze seien inzwischen auch durch transnationales Recht und Formen der Governance ergänzt worden. Diese Vielfalt ließe vermuten, dass Gesetzgebung hinreichend flexibel sei, auch komplexe Sachverhalte regulatorisch zu erfassen. Umgekehrt sei das Aufkommen privater Regeln ein Indiz für den Bedeutungsverlust des Parlamentsgesetzes. Zum anderen seien Parlamentsgesetze durch eine Reihe von Gesetzesflexibilitäten gekennzeichnet, die in der Regel das Ergebnis von Aushandlungen im Gesetzgebungsprozess seien und erhebliche Handlungsspielräume bei der Umsetzung beließen. Am Beispiel des Telekommunikationsgesetzes seien die Folgen flexiblen Regulierungsrechts sichtbar. Es folge dem „Ordnungsziel einer regulierten Selbstbindung“ und ließe den Regulierungsbehörden bei der Umsetzung beträchtlichen Ermessensspielraum.

FIETE WULFF (Bonn) erwiderte den rechtstheoretischen Blick auf die regulatorische Rolle von Parlamentsgesetzen durch einen Einblick in die Regulierungspraxis der Bundesnetzagentur. In seinem Referat über „Unabhängige Regulierungsbehörden als Garanten stabilen Wettbewerbs“ stellte er sich der Kritik an einer sich entwickelnden „Expertokratie“ der Regulierungsbehörden entgegen und legte dar, dass auch behördliche Entscheidungen auf normativer Grundlage stehen. Den rechtlichen Rahmen bildete längst nicht mehr nur nationales, sondern vor allem europäisches Recht. Als eigentliches Problem der Regulierungspraxis sei die Komplexität der Prüfmaßstäbe zu benennen. Wulff gab zu bedenken, dass der Komplexität des Regulierungsrechts nur durch hohen Personaleinsatz gerecht zu werden sei. So sei es in der Praxis fraglich, ob eine gerichtliche Kontrolle im Regulierungsrecht zu einer höheren Entscheidungsqualität führe. Die Klärung wettbewerbsrechtlicher Problemstellungen liefe meist auf den Einsatz weniger fachkundiger Gutachter hinaus, auf deren technische und ökonomische Beurteilung sich die gerichtliche Kontrolle letztlich aufgrund fehlender eigener Sachkunde stützen müsse.

Die zweite Sektion unter dem Titel „Europäisierung der Infrastruktur – Europäisierung des Rechts“ widmete sich der supranationalen Dimension der Regulierung. GEROLD AMBROSIUS (Siegen) leistete in seinem Beitrag „Historische und gegenwärtige Perspektiven einer Europäischen Infrastrukturpolitik“ einen empirisch-analytischen Vergleich der Infrastrukturpolitik der vergangenen dreißig Jahre mit den Entwicklungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ambrosius zeigte zahlreiche Parallelen in beiden Zeiträumen auf. So gleiche etwa das europäische „Connecting Europe-Programm“ in zahlreichen Punkten den Zielsetzungen der Infrastrukturpolitik des 19. Jahrhunderts. Wurde damals hingegen ein Schwerpunkt auf Interkonnektivität gesetzt, so seien heutige Herausforderungen vor allem die Interkompatibilität von Technik und Standards. Durch beide Zeiträume ziehen sich Standardisierungsprozesse, in denen sich epistemische Gemeinschaften herausbildeten, die als Experten die Harmonisierungsprozesse voranbrachten.

Im Rahmen der dritten Sektion „Historische Perspektiven auf Demokratie und Wirtschaft“ stellte MATHIAS SCHMOECKEL (Bonn) „Das Konzept der Wirtschaftsdemokratie bei Fritz Naphtali“ vor. Vor dem Hintergrund zunehmender Monopol- und Kartellbildung schlug Naphtali 1928 die Einrichtung zentral gelenkter Zwangsverbände der industriellen Produktion vor, die eine Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs sicherstellen und durch eine institutionalisierte Beteiligung von Gewerkschaften die Wirtschaftsverfassung auf eine demokratischere Grundlage stellen sollten. Schmoeckel stellte die Idee einer „Wirtschaftsdemokratie“ der amerikanischen Regulierungspolitik gegenüber. Zwar finde sich mit dem Begriff der „industrial democracy“ ein der Wirtschafsdemokratie ähnlicher Gedanke in der amerikanischen Diskussion, doch seien die Ideen Naphtalis in den USA letztlich ohne Einfluss geblieben. Dieser Umstand sei unter anderem auf die starke Trennung von Öffentlichem und Privatem in USA zurückzuführen, welche sich auch auf die Wirtschaftsverfassung ausgewirkt habe.

Hieran anschließend entwickelte EKKEHART REIMER (Heidelberg) in seinem Beitrag „Die sieben Stufen der Steuerrechtfertigung“ Ideen für einen rechtsdogmatischen Ansatz zur Begründung und Ausgestaltung einer Steuerrechtsordnung. Die sieben Facetten der Steuerrechtfertigung basieren auf den Maßstäben des Verfassungs-, des Unions- und des Völkerrechts. Sie ergeben sich aus historischen Erfahrungen einerseits und spiegeln andererseits hoheitliche Aufgaben wider. Der Ausblick auf die Steuerrechtfertigungslehre öffnete den Blick für Alternativen zur Regulierung, insbesondere durch Lenkungssteuern.

Die vierte und letzte Sektion beleuchtete unter dem Titel „Regulierung und wirtschaftliche Freiheit“ Fragen der Abwägung zwischen kollektivem und privatem wirtschaftlichen Interesse. Dazu ging MARKUS KRAJEWSKI (Erlangen/Nürnberg) auf die Rolle von „Daseinsvorsorge in wettbewerblichen Ordnungen“ ein. Der Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge ist insbesondere durch europäisches Recht in einen wettbewerblichen Kontext gerückt worden. Das Spannungsverhältnis zwischen öffentlichem Interesse und freier Wirtschaft offenbart sich dabei insbesondere in den Entscheidungen über die Organisationsform, die (wettbewerblichen) Rahmenbedingungen und die Finanzierung der Leistungserbringung. Krajewski vertiefte seine Überlegungen mit einem Fallbeispiel zur Anwendung des Beihilfenrechts auf Ausgleichszahlungen für öffentliche Dienstleistungen.

Die Tagung wurde dem Anspruch gerecht, den Konflikt zwischen gesellschaftlich erstrebenswerten Zielen und privatwirtschaftlich erforderlichen Freiheiten aufzuzeigen und das sich daraus ergebende Spannungsverhältnis anhand von Beispielen aus der nationalen und europäischen Regulierungspraxis historisch informiert zu illustrieren.

Konferenzübersicht:

Thomas Züll (Göttingen): Einführung in die Thematik

Sektion I – Responsivität der Demokratie vs. Stabile Wettbewerbsverhältnisse

Reiner Schmidt (Augsburg): Grenzen legislativer Regulierung: Komplexität, Dynamik, Flexibilität als Argument?

Fiete Wulff (Bonn): Unabhängige Regulierungsbehörden als Garanten stabilen Wettbewerbs

Kommentar von Markus Patt (Bonn) und Diskussion

Sektion II – Europäisierung der Infrastruktur – Europäisierung des Rechts

Gerold Ambrosius (Siegen): Historische und gegenwärtige Perspektiven einer Europäischen Infrastrukturpolitik

Kommentar von Christian Maurer (Göttingen) und Diskussion

Sektion III – Historische Perspektiven auf Demokratie und Wirtschaft

Mathias Schmoeckel (Bonn): Das Konzept der Wirtschaftsdemokratie bei Fritz Naphtali

Ekkehart Reimer (Heidelberg): Die sieben Stufen der Steuerrechtfertigung

Kommentar von Boris Gehlen (Bonn) und Diskussion

Sektion IV – Regulierung und wirtschaftliche Freiheit

Markus Krajewski (Erlangen/Nürnberg): Daseinsvorsorge in wettbewerblichen Ordnungen

Kommentar von Karen Horn (Berlin) und Diskussion


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