„Irreguläre“ Bestattungen in der Urgeschichte: Norm, Ritual, Strafe ...?

„Irreguläre“ Bestattungen in der Urgeschichte: Norm, Ritual, Strafe ...?

Organisatoren
Römisch-Germanische Kommission; Goethe-Universität Frankfurt am Main
Ort
Frankfurt am Main
Land
Deutschland
Vom - Bis
03.02.2012 - 05.02.2012
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Von
Reena Perschke, Institut für Vor- und Frühgeschichtliche Archäologie und Provinzialrömische Archäologie, Ludwig-Maximilians-Universität München

Als „irregulär“ wird in der Archäologie ein „Sonderbefund“ bezeichnet, der sich von einem definierten „Regelbefund“ absetzt. Vor allem bei Bestattungen lassen sich mehrstufige Totenrituale, ungewöhnliche Grabanlagen oder verrenkte Körperhaltungen nachweisen, die von einem jeweils zeitgleichen und kulturimmanenten „Regelbefund“ differieren. Die Deutung dieser „Sonderbefunde“ unterliegt keinen festen Regeln, sondern hängt von dem jeweiligen kulturellen Kontext, empirischen Auswertungen und der Interpretation des Ausgräbers ab.

Um das Phänomen der irregulären Bestattungen auf zeit- und raumübergreifende Kontinuitäten und Brüche zu untersuchen, brachte die gemeinsam von der Römisch-Germanischen Kommission und der Goethe-Universität in Frankfurt am Main veranstaltete und von der Gerda-Henkel-Stiftung geförderte internationale Tagung vom 3. bis 5. Februar 2012 insgesamt 125 Teilnehmer aus 11 Ländern zusammen. Ein epochenübergreifendes Fundament von der Steinzeit bis in die Römische Kaiserzeit wurde geschaffen, indem die Vorträge nicht den Einzelfall, sondern den jeweiligen Vergleich von Sonder- und Regelbefund der behandelten Kultur gegenüberstellten. Die Aktualität dieser Fragestellung manifestierte sich in der großen Anzahl von 11 Postern und 30 angemeldeten Vorträgen.

Während der Tagung zeigte sich wiederholt, wie vielfältig die Definition „Sonderbefund“ gehandhabt wird und wie unterschiedlich die zugrunde gelegten Kriterien ausfallen. Die grundsätzliche Notwendigkeit einer gemeinsamen begrifflichen Basis illustrierten Postertitel wie „Wenn ‚Sonderbestattungen’ zur Regel werden“ (Amelie Sophie Alterauge und Ursula Wittwer-Backofen, Freiburg) oder „What ist typical? What is regular?“ (Hanna Kowalewska-Marszałek und Henri Duday, Warzawa).

Bereits die einführenden Vorträge von NILS MÜLLER-SCHEESSEL (Frankfurt am Main), ULRICH VEIT (Leipzig) und EDELTRAUD ASPÖCK (Wien) führten zur zentralen Frage: Wie definiert sich eine „Bestattung“ – als ritualisierte Niederlegung eines Toten im Erdboden? Als Niederlegung eines Verstorbenen in egal welchem Medium, Zustand oder Totenhaltung? Enthält der Begriff „Grab“ z.B. auch die „Entsorgung“ von Skelettteilen in Gruben oder handelt es sich dabei ausschließlich um ein intentionell angelegten Ort für eine „Beerdigung“? Wie können ethnologische Analogien von Entfleischungsriten, Feuer- und Wasserbestattungen in die Begriffe von „Grab“, „Bestattung“ und „Regelbefund“ integriert werden? Welche Rückschlüsse erlauben uns unterschiedliche Bestattungspraktiken innerhalb einer ansonsten kulturell geschlossenen Gruppe?

Auffälligkeiten in der Totenbehandlung können auf eine soziale Gruppenzugehörigkeit zurückgehen. Dies gilt einerseits für die unterrepräsentierten Kinderbestattungen im Neolithikum, deren Verbleib LINDA FIBIGER (Oxford) untersuchte, andererseits aber auch, wie CATALIN PAVEL (Kennesaw/USA) anführte, für den Einfluss, den körperliche oder geistige Behinderung anscheinend auf ihre Grablegung ausgeübt haben.

Ein Schwerpunkt untersuchte die Schädelseparierung im vorderasiatischen Neolithikum (REENA PERSCHKE, München/Berlin) und den möglichen Zusammenhang von disartikulierten menschlichen Überresten, Sekundärbestattungen und Kannibalismus (JÖRG ORSCHIEDT und MIRIAM HAIDLE, beide Hamburg/Tübingen). Im Vergleich von prähistorischen Schnittspuren an Knochen mit dem nordamerikanischen „Packer-Fall“, einem Überlebens-Kannibalismusfall von 1874, erkannten Orschiedt und Haidle in den untersuchten Befunden keinen steinzeitlichen Kannibalismus, sondern komplexe, mehrstufige Totenbehandlungen.

Auch die Beiträge von CHRISTIAN MEYER, CHRISTIAN LOHR und DETLEF GRONENBORN (alle Mainz) sowie von DANIELA HOFMANN (Cardiff) und JOACHIM PECHTL (Manching) setzten sich mit linienbandkeramischen Bestattungen aus Massengräbern, Kreisgrabenanlagen, Gräberfeldern und Siedlungsbestattungen auseinander. Inwiefern es sich bei disartikultierten Knochen oder verrenkten Skeletten um Kannibalismus, rituelle Zerstückelung oder artifizielle Knochenpräparierung handelt, wurde ebenso diskutiert wie die Frage, ob die Massengräber als Opfer von Epidemien, Kriegen, Massakern oder als schlichte Sekundärbestattungen zu betrachten seien. Für die ausklingende Linienbandkeramik diskutierten LECH CZERNIAK und JOANNA PYZEL (beide Gdańsk) für „Untypische Bestattungen der post-LBK in der Polnischen Tiefebene“ kulturübergreifende Kontinuitäten bzw. Diskontinuitäten.

Das wiederholte Vorkommen von zusätzlichen Skelettelementen in vermeintlichen Einzelbestattungen der Trichterbecherkultur hinterfragten ANSELM DRAFEHN und SARA SCHIESBERG (beide Köln). Durch ethnologische Vergleiche mit frühneuzeitlichen indianischen Ossuarien interpretierten sie die zusätzlichen Menschenknochen als Bestandteil mehrstufiger Bestattungsriten.

Ebenfalls eine soziologische Differenzierung konstatierten ALENA BISTÁKOVÁ und NOÉMI PAŽINOVÁ (Nitra) bei den „Bestattungen der Lengyel Kultur im Karpatenbecken“. Die Komplexität zeigt sich in Gräberfeldern, Siedlungs-, Gruben- und Höhlenbestattungen mit Skelett- und Brandgräbern. Die differenzierte Totenbehandlung in der gleichen Kultur führten die Referentinnen auf die Todesumstände der Individuen zurück. Dagegen führte CHRISTOPH RINNE (Kiel) die fragmentierten „Bestattungen in Siedlungen. Norm und Sonderfall in der Bernburger Kultur“ auf Beisetzungen im Kontext der Siedlungsaufgabe zurück und verglich sie mit antiken Überlieferungen zu Bestattungs- und Passageriten.

CAROLA METZNER-NEBELSICK und VERA HUBENSACK (beide München) stellten anhand von „Mitteldeutschen frühbronzezeitlichen Sonderbestattungen in Siedlungsgruben“ ein Projekt zur Aufnahme der seit 1990 geborgenen frühbronzezeitlichen Bestattungen vor, von deren Gesamtzahl ungefähr 10 Prozent in Siedlungsgruben eingebracht waren. Die Varianz der Totenhaltungen ist weitgefächert: von ganzen Skeletten in „regulärer“ oder gequetschter Haltung über Teilskelette, Pithosbestattungen und Knochenhaufen bis hin zu Einzelknochen. Der Begriff „Siedlungsbestattung“ wurde vermieden, da nur in den seltensten Fällen eine zeitgleiche Siedlungstätigkeit nachgewiesen werden konnte. Die anthropologischen Analysen zeigten Anzeichen für eine stärkere körperliche Belastung und Mangelernährung als in den Gräberfeldern. Diskutiert wurden potenzielle Einflüsse aus dem Südosten auf die unkonventionellen Niederlegungen sowie ein profaner statt ritueller Ursprung für die verdrehten und zerteilten Skelette.

Einen weiteren Baustein brachten die naturwissenschaftlichen Untersuchungen auf dem Aunjetitzer Gräberfeld in Prag 9 – Miškovice: MICHAL ERNÉE (Prag) zeigte auf, wie durch feinmaschige Phosphatanalysen „reguläre“ Skelettbestattungen, Teilbestattungen, Kenotaphe und Grabgruben mit vergangenen Skeletten differenziert werden können. Die von ihm beobachtete Vielfalt der Bestattungssitten deckte sich mit den Ergebnissen von ANNA PANKOWSKÁ, MIROSLAV DAŇHEL und JAROSLAV PEŠKA (alle Olomouc) anhand einer „Formal classification of settlement burials from Moravia“ der Frühbronzezeit. Nach einer Korrespondenzanalyse der Daten unterschieden sich „irreguläre“ Grubenbestattungen nicht von „regulären“ Bestattungen, so dass sich der „Sonderbefund“ zugunsten einer vielfältigeren Totenbehandlung auflöste.

Die peri- und postmortale Behandlung von Grubenbestattungen in der Südwestslowakei dokumentierte JÚLIUS JAKAB (Nitra) in zahlreichen Bildern, die eine differenzierte Behandlung von „nicht rituell“ entsorgten Skeletten in Abfallgruben von „rituell“ pietätvoll bestatteten Toten nahe legten. Gleichfalls aus der Slowakei berichteten PAVO JELÍNEK und JÚLIUS VAVÁK (beide Nitra) von frühbronzezeitlichen Skelettresten mit postmortalen Knochenmanipulationen aus Budmerice sowie mit von den „regulären“ Beigaben abweichenden, durchbohrten Flussmuscheln im Grab, die als Ausdruck von chthonischen Opfern und Spiritualität in der Mad'arovce-Kultur interpretiert wurden. Im Gegensatz dazu interpretierten KATALIN SEBÖK und ÁGNES KIRÁLY (beide Budapest) früheisenzeitliche Massengräber in Ungarn, die auf den ersten Blick wie „kultische“ Opfergruben wirkten, als einfaches Ergebnis mehrstufiger Bestattungsrituale. In drei Gruben seien die Leichname jeweils gleichzeitig, aber teilweise nicht mehr im anatomischen Verbund eingebracht worden. Die Knochenanalyse zeige allerdings einen „normalen“ Querschnitt durch die Bevölkerung, so dass eher von einer Massenbestattung teilweise vergangener Körper als von einem Menschenopferplatz oder ritueller Verstümmelung ausgegangen werden müsse.

Die Sitte der Bestattung an landschaftlich hervorgehobenen Orten wurde für zwei Felsdenkmäler untersucht: STEFAN FLINDT und Kolleg/innen (Osterode am Harz) berichteten von der Lichtensteinhöhle bei Osterode. Durch DNA-Analysen konnten von 70 Individuen 24 Menschen unterschiedlichen Generationen eines Familienclans zugeordnet werden. Statt eines Menschenopferplatzes führen die naturwissenschaftlichen Ergebnisse zu einer Deutung als Sonderbestattungsplatz an einem geographisch herausragenden Ort. Ein ebensolcher Ort ist der „Hohle Stein“ bei Schwabthal, der von ELISABETH NOACK (Tübingen) und LYDIA HENDEL (Bamberg) auf Kulturgeschehen in der Eisenzeit untersucht wurde. Knochen von mindestens 23 geborgenen Individuen verteilten sich auf alle Altersklassen und Geschlechter und waren von gleichem Alter wie die umliegenden Bestattungen der Frankenalb. 68 Prozent der Skelettreste gehörten zu Kinderskeletten – möglicherweise sind hier die an anderen Bestattungsorten fehlenden Kinderbestattungen zu finden. Als landschaftlicher Marker im Sinne einer Naturmanifestation könnte der „Hohle Stein“ ein Sonderbestattungsplatz vor allem für Jungverstorbene gewesen sein, ohne dass sich daraus zwangsläufig eine Ritual- oder Opferdiskussion ergeben müsse.

Ein chthonischer Zusammenhang scheint nach IRMTRAUD HELLERSCHMID und MONIKA GRIEBL (Wien) auch bei den „Menschendepositen in Siedlungsgruben der befestigten Höhensiedlung von Stillfried an der March“ eine Rolle gespielt zu haben. Hier wurden aus 25 von etwa 100 Gruben partielle und vollständige Skelette geborgen, die dem „Regelbefund“ der urnenfelderzeitlichen Brandbestattung widersprechen. Möglicherweise erhielten nicht alle Individuen eine Brandbestattung.

Eine der direkten Fragestellungen der Tagung, inwiefern sich aus „irregulären“ Bestattungen der Ausdruck eines verstetigten sozialen Handelns ergibt, wurde von IMMO HESKE (Göttingen) und SILKE GREFEN-PETERS (Braunschweig) an einem konkreten Beispiel untersucht. Vom „Regelbefund“ der Hockerbestattungen und späteren Brandbestattungen im Nordharz weichen die „irregulären“ Siedlungsbestattungen von Teilskeletten in ungewöhnlichen Haltungen deutlich ab. Bei näherer Betrachtung sei ein nicht unerheblicher Teil der Verstorbenen ganz oder teilweise, jedenfalls aber „regelhaft“ in Siedlungsgruben, vermutlich im Zustand fortgeschrittener Verwesung gelangt. In Anbetracht der bereits oben besprochenen, vergleichbaren Befunde der Aunjetitzer Kultur deutet sich für die fortschreitende Bronze- und Eisenzeit ein verstetigtes, soziales Handeln in diesem Bereich an. Erst durch die Einbeziehung der „irregulären“ Siedlungsbestattungen ergibt sich somit ein vollständiges Bild der zeitgenössischen Bestattungssitten.

Der letzte Tag begann mit einem Beitrag von PETER TREBSCHE (Asparn an der Zaya) über „Sonderbestattungen“ von Erwachsenen, Säuglingsbestattungen und einzelnen Menschenknochen in österreichischen eisenzeitlichen Siedlungen. Für alle drei Gruppen können gewisse Regelhaftigkeiten herausgearbeitet werden, weshalb von einer „Irregularität“ nicht zu sprechen sei. Möglicherweise wurden die Körper während der Verwesung in Gruben aufbewahrt, bis sie für eine Verbrennung exhumiert wurden. Dies würde die isolierten Menschenknochen der Siedlung erklären. Nur bei einer ungeplanten Unterbrechung des mehrstufigen Totenrituals verblieben die Toten in den Gruben, wo sie gemäß unserer heutigen Anschauung als „Sonderbestattung“ erschienen. Siedlungsbestattungen stellten demzufolge eine Momentaufnahme in einem mehrstufigen Bestattungsritual dar, dessen Kontext uns durch die Schriftlosigkeit der Vorgeschichte verloren gegangen sei.

Eine alternative Erklärung für sehr ähnliche zeitgleiche Befunde in Süddeutschland wurde von NILS MÜLLER-SCHEESSEL und Kolleg/innen (Franfurt am Main) präsentiert. Dort lassen sich komplexe Deponierungssitten, z.B. durch die differenzierten Verteilung von Schmuck, nachweisen: Während in den „regelhaften“, reichen Gräbern alle Schmuckkategorien vorhanden sind, kommt in den Siedlungsbestattungen ausschließlich Ringschmuck vor. An der auffälligen Felsformation „Heidentor“ wurde dagegen der „fehlende“ Bestand an Trachtbestandteilen wie Fibeln oder Perlen geborgen. Möglicherweise wird hier in einer kulturellen Transitionsphase der Verlust von traditionellen Werten anhand einer uneinheitlichen Bestattungskultur gefasst, bevor in der Latènezeit neue verbindende Elemente aufkamen.

Die „Irregularität“ von ältereisenzeitlichen Bestattungen am hessischen Glauberg anhand von Reichtum oder Armut an Beigaben besprach auch eine Forschergruppe um CHRISTIAN MEYER (Mainz). Die beigabenlose Niederlegung von Individuen in Massengräbern, das nachweisbare Abrutschen von Leichenbergen sowie fehlende Verwandtschaftsbeziehungen zeigten, dass die „irregulären“ Bestattungen möglicherweise „reguläre“ Bestattungen für eine Unterschicht der damaligen Gesellschaft darstellten. Der im Vortrag vermiedene Begriff „Sklave“ wurde in der folgenden Diskussion heftig besprochen, wobei durchaus eine Grundbereitschaft unter den Zuhörern vorhanden war, eine abhängige Arbeiterschicht in den „armen“ Gräbern und den „entsorgten“ Individuen zu sehen.

Die folgenden Vorträge waren einem bereits eingesetzten Wandel in den Interpretationsschemata gewidmet. FELIX FLEISCHER, MICHAËL LANDOLT (beide Sélestat) und MURIEL ROTH-ZEHNER (Habsheim) besprachen den Zusammenhang von eisenzeitlichen Siedlungsbestattungen im Elsass mit zeitgleichen Tierdeponierungen. In Siedlungen wurden Menschen beider Geschlechter und aller Altersklassen in vielfältigen und unkonventionellen Niederlegungspositionen mit und ohne Beigaben begraben. Durch epigenetische Auffälligkeiten lassen sich teilweise Verwandtschaftsbeziehungen nachweisen. Insofern scheinen die Siedlungsbestattungen keinen Sonderbefund zu spiegeln, sondern einen varianzreichen Regelbefund, dessen soziale Grundlagen sich unserer Kenntnis entziehen.

SUSANNE SIEVERS (Frankfurt am Main) untersuchte die „Menschlichen Skelettreste von Manching im Wechselspiel der Interpretationen“: Durch die Annahme einer stufenweisen Bestattungssitte für die Spätlatènezeit sei der Eindruck des Irregulären inzwischen dem des Regulären gewichen, allerdings solle weiterhin differenziert werden zwischen unterschiedlichen Niederlegungsarten, leeren (oder geleerten?) Gruben mit „Beigaben“ und indirekt nachzuweisenden Bestattungen. Möglicherweise erklärt sich die Varianz der Grabformen in Manching durch Migrationsvorgänge.

Auch SANDRA PICHLER und HANNELE RISSANEN (beide Basel) setzten eine variantenreiche Totenbehandlung am spätlatènezeitlichen Fundplatz Basel-Gasfabrik voraus. Die Individuen aus zwei Gräberfeldern, Siedlungsgruben und einzelnen Menschenknochen in Siedlungskontexten demonstrierten komplexe Praktiken, die sich aus mehrstufigen Bestattungsritualen, anthropogener Skelettmanipulation und sozialer Differenzierung ergeben. Der „Sonderbefund“ scheint damit zum „Regelbefund“ geworden zu sein.

Vor dem Hintergrund der besprochenen Themen schloss STEFAN BURMEISTER (Kalkriese) die Tagung passend mit einer weiteren Grundfrage ab: „Moorleichen – Grabbrauch, Strafjustiz, Opfer?“. Durch eine kritische Betrachtung des jeweiligen Kontextes könnten zumindest einige der unsachlichen Beiträge zur Moorleichenforschung entkräftet werden. Auch hier sei zu hinterfragen, wie weit unsere zeitgenössische Sicht die Niederlegung im Moor als „Sonderbefund“ überinterpretiert würden. Möglicherweise sei das Moor zur Zeit der Bestattung als intentioneller Konservierungsort für Körper betrachtet worden und nicht als negativ konnotierte Entsorgungsmöglichkeit.

Hervorzuheben ist die durchgehende Diskussionsfreudigkeit der Tagungsteilnehmer/innen, auch wenn zuweilen eine klarere Verwendung der Begrifflichkeiten wünschenswert gewesen wäre. Im Verlauf der Tagung kristallisierte sich immer deutlicher heraus, dass in weiten Teilen der Vorgeschichte der einfache Gegensatz „Regelbefund“ zu „Sonderbefund“ bei differenzierter Betrachtung des Materials und zusätzlichen naturwissenschaftlichen Untersuchungen nicht mehr zu halten ist. Im Einzelnen wird in Zukunft bei jedem Befund zu fragen sein, wie ein spezielles Individuum in genau dieser Art und Weise in den jeweiligen Grabkontext gelangte. Der Einfluss naturwissenschaftlicher Untersuchungen, aber auch genauer Grabungsdokumentationen auf die archäologische Interpretation von Befunden wird immer wichtiger, um dem empirisch herausgearbeiteten „Regelbefund“ potenzielle „Sonderbefunde“ gegenüberzustellen zu können. In absehbarer Zeit könnten diese beiden historisch geprägten Begriffe aufgrund der Zunahme dezidierter Erkenntnisse (und freierer zeitgenössischer Interpretationen als noch vor einigen Jahrzehnten) zugunsten von neuen sozial-, hierarchisch- oder kontextbezogenen Definitionen ersetzt werden. Es ist zu hoffen, dass die geplante Publikation der Tagungsbeiträge diesen Prozess befördern wird.

Konferenzübersicht:

Theorien und Konzepte/Theories and Concepts

Nils Müller-Scheeßel (Frankfurt am Main): Einführung in die Thematik „Irreguläre Bestattungen“

Ulrich Veit (Leipzig): „Sonderbestattungen“: Vorüberlegungen zu einem integrierten Ansatz ihrer Erforschung

Edeltraud Aspöck (Wien): Normale- und Sonder-Bestattungen: über die dichotome Auffassung von Totenbehandlung/Bestattungen und die Erforschung von Variabilität in Totenpraktiken im archäologischen Befund

Catalin Pavel (Kennesaw/USA): The social construction of disability in prehistoric societies – a perspective from funerary archaeology

Neolithikum/Neolithic

Reena Perschke (München): Kopf und Körper – eine soziokulturelle Betrachtung des vorderasiatischen „Schädelkults“

Jörg Orschiedt (Köln)/Miriam Haidle (Tübingen): Zerbrochene Knochen: vermischte Knochenakkumulationen und die Identifikation von Sekundärbestattungen und Kannibalismus im zentraleuropäischen Frühneolithikum

Christian Meyer/Christian Lohr/Detlef Gronenborn (Mainz): Interpretationsansätze zu ‚irregulären’ Bestattungen während der Linienbandkeramischen Kultur

Daniela Hofmann (Cardiff)/Joachim Pechtl (Manching): Sonderbestattungen in der Linearbandkeramik: alle oder keiner?

Linda Fibiger (Oxford): Unusual norm? Child burials in Neolithic Germany

Lech Czerniak/Joanna Pyzel (Gdańsk): Untypische Bestattungen der post-LBK in der Polnischen Tiefebene

Anselm Drafehn (Frankfurt am Main)/Sara Schiesberg (Köln): Überlegungen zur Norm und Abweichungen im Bestattungsbrauch der Trichterbecherzeit

Christoph Rinne (Kiel): Bestattungen in Siedlungen. Norm und Sonderfall in der Bernburger Kultur

Alena Bistáková/Noémi Pažinová (Nitra): Bestattungen der Lengyel Kultur im Karpatenbecken

Bronzezeit/Bronze age

Michael Ernée (Prag): Uniformität oder Vielfalt des Bestattungsritus? Ergebnisse der Phosphatanalyse auf dem Aunjetitzer Gräberfeld in Prag 9 – Miškovice

Carola Metzner-Nebelsick/Vera Hubensack (München): Mitteldeutsche frühbronzezeitliche Sonderbestattungen in Siedlungsgruben

Anna Pankowská/Miroslav Danhel/Jaroslav Peska (Olomouc): Formal classification of settlement burials from Moravia (the Czech Republic) dating from the Early Bronze age

Július Jakab (Nitra): Menschliche Skelette in urgeschichtlichen Siedlungsgruben der Südwestslowakei

Pavol Jelínek/Juliús Vavák (Nitra): Menschliche Skelettreste aus der frühbronzezeitlichen befestigten Siedlung in Budmerice (Südwest-Slowakei)

Stefan Flindt (Osterode am Harz)/Thomas Saile (Regensburg)/Reinhold Schoon (Regensburg)/Susanne Hummel (Göttingen)/Gisela Wolf (Göttingen): Die Lichtensteinhöhle bei Osterode am Harz (Niedersachsen): ein spätbronzezeitlicher Höhlenfundplatz mit Menschenresten

Irmtraud Hellerschmid/Monika Griebl (Wien): Menschendeposite in Siedlungsgruben der befestigten Höhensiedlung von Stillfried a. d. March, Niederösterreich. Weit verbreitete Praxis der Totenbehandlung in der Urnenfelderkultur?

Immo Heske (Göttingen)/Silke Grefen-Peters (Braunschweig): Rückkehr in die Bestattungsgemeinschaft – ‚Zerrupfte‘ Bestattungen der Bronze- und frühen Eisenzeit am Nordharz

Eisenzeit/Iron Age

Katalin Sebők/Ágnes Király (Budapest): Early Iron Age „Mass Graves” in the Middle Tisza Region: Investigation and Interpretation

Elisabeth Noack (Tübingen)/Lydia Hendel (Bamberg): Opfer oder Abfall? Regel oder Sonderfall? Kulturgeschehen in der Eisenzeit am Hohlen Stein bei Schwabthal

Peter Trebsche (Asparn an der Zaya): Einige Regelhaftigkeiten der „irregulären“ Bestattungen und ihr Bezug zur gebauten Umwelt während der Eisenzeit in Ostösterreich

Nils Müller-Scheeßel (Frankfurt am Main)/Gisela Gruppe (München)/Annette Schwentke (Tübingen)/Anja Staskiewicz (München)/Joachim Wahl (Konstanz): Ältereisenzeitliche Siedlungsbestattungen in Süddeutschland

Christian Meyer/Frauke Jacobi/Corina Knipper/Christina Roth/Marc Fecher/Leif Hansen/Kurt W. Alt (Mainz): „Irreguläre“ Bestattungen in der Eisenzeit? Ein bioarchäologischer Ansatz zur Deutung

Felix Fleischer (Sélestat)/Michaël Landolt (Sélestat)/Muriel Roth-Zehner (Habsheim): Die vorgeschichtlichen Siedlungsbestattungen im Elsass

Susanne Sievers (Frankfurt am Main): Menschliche Skelettreste aus dem Oppidum von Manching im Wechselspiel der Interpretationen

Sandra Pichler/Hannele Rissanen (Basel): Die Regelmässigkeit des Irregulären: Menschliche Skelettreste vom spätlatènezeitlichen Fundplatz Basel-Gasfabrik

Stefan Burmeister (Kalkriese): Moorleichen – Grabbrauch, Strafjustiz, Opfer? Annäherungen an eine kontrovers diskutierte Quellengruppe


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