Nach der Moderne? Italien und Bundesrepublik Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Nach der Moderne? Italien und Bundesrepublik Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Organisatoren
Thomas Großbölting/Massimiliano Livi/Daniel Schmidt, Westfälische Wilhelms-Universität Münster; Carlo Spagnolo, Universität Bari
Ort
Como
Land
Italy
Vom - Bis
06.11.2011 - 09.11.2011
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Von
Nicolai Hannig, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Die 1970er-Jahre sind unverkennbar in der Praxis der deutschen Geschichtswissenschaft angekommen. Einige Sammelbände und anlaufende Qualifikationsarbeiten zeigen dies deutlich an. So symmetrisch sich die Erschließung der Jahrzehnte von den 1950er-, 1960er- und nun 1970er-Jahren jedoch abwickeln lässt, so uneinheitlich gestalten sich doch die analytischen und begrifflichen Kategorien, mit denen man den Dezennien zu Leibe rückt. Der unterschwellige Tenor der Erfolgs- und Liberalisierungsgeschichte wird abgelöst von einer Krisenkommunikation, die sich aus den Quellen des ausgehenden 20. in die Analytik der Geschichtswissenschaft des 21. Jahrhunderts zu schleichen scheint. Krisen und Strukturbrüche sind es, die zum Gegenstand der Untersuchungen werden und gleichzeitig Narrationen der Forschungen dominieren. In keinem der vergangenen Jahrzehnte träten die Wurzeln gegenwärtiger Probleme so deutlich hervor wie in den 1970er-Jahren: der Veränderungsdruck, der auf dem Sozialstaat lastet; die Krise fordistischer Produktionsprozesse, die einsetzende Staatsverschuldung, der demografische Wandel und nicht zuletzt die fortschreitende Säkularisierung.

Inwiefern diese Motive des Krisenhaften und des Strukturbruchs nun tatsächlich auf die 1970er-Jahre zurückgehen, das untersuchte eine Tagung unter der wissenschaftlichen Leitung von Thomas Großbölting, Massimiliano Livi, Daniel Schmidt und Carlo Spagnolo im Deutsch-Italienischen Zentrum Villa Vigoni. Im Hinblick auf die Breite des Themas „Nach der Moderne? Italien und Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ konnten freilich nur einzelne Bereiche des breiten sozialen Wandels geprüft werden. Die Kombination aus breit angelegten Keynotes, die dann aus jeweils spezialisierten, empirisch fundierten Perspektiven kommentiert wurden, stellte sich jedoch als ein gelungenes Format heraus, um den Zäsurcharakter genauer zu hinterfragen. In ihren Einführungen erweiterten THOMAS GROßBÖLTING (Münster) und CARLO SAGNOLO (Bari) sogar noch den thematischen Rahmen der Tagung und wiesen auf die derzeit vorherrschende sozioökonomische Engführung des historiografischen Zugriffs auf die 1970er-Jahre hin. In der zweifelsohne wichtigen Untersuchung von Industrialisierung, Produktionsbeziehungen und politischer Ökonomie bleibe das Individuum in seinen Lebenserfahrungen, -entwürfen und -praktiken blass, obwohl doch gerade der viel zitierte Wandel von der Klasse zur Schicht eher den veränderten Wahrnehmungen von Gesellschaftshierarchien als der Veränderung grundlegender sozialhistorischer Daten geschuldet sein dürfte. Die Deutungsangebote von Lutz Raphael und Anselm Doering-Manteuffel aus ihrem Essay „Nach dem Boom“1 bildeten dabei unverkennbar den Rahmen und auch die Kontrastfolie der Einleitung und des folgenden interdisziplinären Gesprächs zwischen italienischen und deutschen Sozial- und Geschichtswissenschaftlern.

Insgesamt bestimmten vier Themenfelder die Diskussionen. Übergeordnet stand die Frage, ob die Veränderungen innerhalb der Moderne so gravierend waren, dass für das späte 20. Jahrhundert von einer sich anschließenden Phase der „Nachmoderne“ auszugehen sei. Um diese Frage einzugrenzen, schlossen sich Diskussionen entlang der drei Prozesskategorien „Individualisierung“, „Pluralisierung“ und „Entnormativierung“ an, in denen diese auf ihr Deutungspotenzial für die mögliche Ablösung bestimmter Modernevorstellungen befragt wurden. Schnell stellte sich jedoch heraus, dass diese drei Konzepte kaum getrennt voneinander diskutierbar waren. Gleichsam deutete sich auch an, dass das Potenzial des Begriffs „Entnormativierung“ wohl eher auf sein Dasein als Quellenbegriff zu beschränken wäre, da der Begriff kaum in der Lage sei, zeittypische Veränderungen der 1970er-Jahre zu bündeln.

Bereits in der ersten Sektion stellte sich unter italienischen und deutschen Wissenschaftlern rasch ein Konsens in der Ablehnung von Begrifflichkeiten wie „Postmoderne“ oder „Nachmoderne“ heraus. Eine „geringe Relevanz für die Geschichtsschreibung“ sah PAOLO POMBENI (Trento) im Begriff „postmodern“, da sämtliche Paradigmenwechsel in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Moderne nicht abgeschlossen, sondern nur verändert hätten. LUTZ RAPHAEL (Trier) konkretisierte in seinem Papier dazu in kulturgeschichtlicher Perspektive, dass die „grundlegenden Perspektivenwechsel in den Selbstbeschreibungen von Gesellschaften, die spätestens seit 1800 zu beobachten sind, (...) eine solche Vielfalt an Ordnungsmustern (Beschreibungsformen, Institutionen) hervorgebracht (haben), dass alle Versuche als kurzsichtig und vorschnell erscheinen, die damit eröffnete Epoche der Geschichte für abgeschlossen zu erklären“. In Ihren Kommentaren zu dieser Sektion diskutierten GIOVANNI BERNARDINI (Trento) und NICOLE KRAMER (Potsdam) genau diese begrifflichen Unsicherheiten. Die „Post-“Begriffe hätten sich insbesondere im italienischen Raum allmählich von beschreibenden zu vorschreibenden Kategorien entwickelt und seien durch allzu teleologische Aufladungen immer unbrauchbarer für eine analytische Verwendung geworden. Auch Kramer betonte mit empirischem Blick auf die Herausbildung einer Altenhilfepolitik in Italien und Deutschland, dass der Begriff der Postmoderne den Fluchtpunkt zu weit nach hinten verlagere und nicht wie die Zeitgeschichte in die Gegenwart. Soziale Ungleichheiten im Alter hätten im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zwar eine merkliche Verschärfung erfahren. Damit verbundene Wandlungsprozesse etwa in den Alterswissenschaften oder den Familienleitbildern setzten allerdings schon seit 1945 ein.

Der Begriff der Individualisierung stellte sich hingegen als Kategorie mit reichlich analytischem Potenzial heraus, zumal sie als Zeitdiagnose verstärkt erst in den 1970er-Jahren auftauchte, wie DETLEF SIEGFRIED (Kopenhagen) in seiner Historisierung des Individualisierungsparadigmas betonte. In kulturkritischer Verbrämung erschien sie zwar schon weitaus früher immer wieder als Rede vom „Ende des Individuums“ auf. In diagnostischer Wendung blieb sie zum Ende des 20. Jahrhunderts jedoch weitgehend neutral. Suche man nach einem Ausgangpunkt für eine Zeitgeschichtsforschung, die Individualisierungsvorgänge als gesellschaftliche Abläufe in den Blick zu nehmen versucht, so biete sich laut Siegfried insbesondere der Generationenwechsel als entscheidender Faktor zur Differenzierung bestimmter Lebensstile an. Denn in Bezug auf die intergenerationelle Mobilität stelle der Aufstieg über Milieugrenzen hinweg eher die Ausnahme dar. Verbreiteter sei – mit Verweis auf den Politikwissenschaftler Michael Vester – vielmehr die „Modernisierung des Habitus von einem autoritären zu einem eigenverantwortlichen Verhaltensmuster innerhalb der jeweiligen Milieus“. So habe die jüngere Generation „auf dem Wege der Mobilität, die die soziale Öffnung ermöglicht hatte, ihren Herkunftshabitus ‚mitgenommen’, wenn auch offener gestaltet und modernisiert“. Prozesse der Individualisierung markierten daran anschließend auch OLGA SPARSCHUH (Berlin) und BARBARA GRÜNING (Bologna) überwiegend als Merkmale der Moderne. Die Hinwendung von eher asketischen zu mehr und mehr hedonistischen Lebensstilen unter italienischen Arbeitsmigranten im Zuge der europäischen Integration zeige dies ebenso deutlich an wie das Auftreten des Subjekts als eine deutlich konturierte kulturelle Kategorie. So sei etwa der Konsument eine genuine Erfindung der Moderne, wie auch ROBERTA SASSATELLI (Milano) in ihrem Vortrag über die Rolle der Konsumkultur für die Vermittlung neuer Individualisierungsstrukturen betonte: „As a normative cultural identity, the `consumer´ appears in striking continuity with hegemonic modern views of subjectivity. The development of capitalist society has consolidated and popularized a particular notion of the subject: the autonomous actor in a growing distance from things.”

Die Sektion zur Pluralisierung schloss sich in ihren Diskussionen in vieler Hinsicht der Auseinandersetzung mit Individualisierungsvorgängen an. Zum Ausgangspunkt der Debatte wurden hier allerdings vermeintlich voreilige Annahmen eines Wertewandels, der sich in der Ablösung bürgerlicher Familienmodelle, dem Akzeptanzverlust verbindlicher Normen, der Pluralisierung von Lebensstilen bis hin zur fortschreitenden Säkularisierung verdichtet seit den 1970er-Jahren offenbare. FRANK BÖSCH (Potsdam) versuchte dementsprechend eher die Grenzen der Individualisierungs- und Pluralisierungsthese aufzuzeigen, indem er die den 1970er-/1980er-Jahren zugeschriebenen Wandlungsprozesse in längere historische Transformationen einbettete. Im Vordergrund standen dabei die Frage nach der tatsächlichen Radikalität der Pluralisierung von Familienformen, die angebliche Auflösung sozialer Bindungen sowie die postmoderne kulturelle Beliebigkeit, verstanden etwa als das Ende großer Erzählungen. In der Familiengeschichte seien beispielsweise nicht die 1970er-, sondern eher die 1950er-/1960er-Jahre eine Ausnahmezeit gewesen. Denn schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts sank die Zahl der Lebendgeburten pro Frau deutlich. Daher knüpften die Jahre seit etwa 1970 eher an diesen langfristigen Trend an, der „durch den Nachkriegskinderboom“ nur kurz angehalten wurde. Ganz ähnlich habe es sich mit dem Wandel der familiären Lebensformen verhalten. So sank in den 1970er-Jahren sogar die Zahl der Alleinerziehenden in Westdeutschland, bis dann – insbesondere in den neuen Bundesländern – erst seit den 1980er-/1990er-Jahren ein Anstieg zu verzeichnen ist. In Italien hingegen, so argumentierte MARCO MARAFFI (Milano), ließen sich selbst im gesamten 20. Jahrhundert familiengeschichtlich kaum markante Wandlungen beobachten, was für ihn jedoch auch gegen eine Zäsurensetzung zur Mitte der 1970er-Jahre sprach. Im religiösen Feld ließen sich, wie Bösch argumentierte, noch die markantesten Pluralisierungs- und Individualisierungsprozesse während der 1970er-Jahre ausmachen. So seien die Austritte aus den beiden Großkirchen eben nicht zwangsläufig ein Säkularisierungsmerkmal, sondern vielmehr der Wegbereiter eines stärker erlebnis- und erfahrungsbezogenen Glaubens gewesen. Aus religionshistorischer Perspektive wies NICOLAI HANNIG (München) jedoch darauf hin, dass diese gesteigerte Aufmerksamkeit, die dem alternativ-religiösen Spektrum zuteil wurde, eng mit Problemen der (wissenschaftlichen) Vermessung des Wandels verbunden war. Denn wie sollte man in den 1970er-Jahren die neuen fluiden Religionsformen erheben, die sich gerade nicht durch Mitgliedschaften, Kirchgänge oder statistisch erfassbare Frömmigkeitspraktiken auszeichneten? Ein Wandel der wissenschaftlichen Erhebungsverfahren angepasst an den Wandel des religiösen Feldes schien dafür unabdingbar. Versuche man also, den religiösen Wandel seit den 1970er-Jahren historisch zu analysieren, müsse man stärker berücksichtigen, dass sich gleichzeitig mit der religiösen Landschaft auch deren Vermessungstechniken, auf die man sich stützt, verändert haben, ja in vieler Hinsicht sogar selbst Teil des Wandels waren.

In der vierten Sektion zur Entnormativierung unternahmen die Referenten den Versuch, in Ergänzung zur sozioökonomischen Perspektive aus Raphaels und Doering-Manteuffels „Nach dem Boom“ die Rolle des Individuums in seinen Lebenserfahrungen, -entwürfen und -praktiken für den vermeintlich nachmodernen Wandel genauer zu bestimmen. THOMAS GROßBÖLTING (Münster) betonte dahingehend das Wegbrechen religiöser Legitimationen der Lebensform Familie als deutliche Zäsur des ausgehenden 20. Jahrhunderts: „Wo früher Religion, Tradition und Standeszugehörigkeit die privaten Lebensformen festlegten, sind es heute die Regeln und Reglementierungen des Sozialstaats und seiner Medien der Rechtsprechung, Bildung und öffentlichen Meinung“. Wertstrukturen verschwänden also nicht, so argumentierten auch FIAMMETTA BALESTRACCI (Trento) und PAOLO JEDLOWSKI (Cosenza), sondern würden ergänzt und zum Teil auch überlagert von den „Konstitutivnormen“ einer zweiten Moderne. Hier würden nun Differenz und Pluralität nicht mehr diskreditiert oder gar sanktioniert. Eher würden sie akzeptiert und als gesellschaftsgestaltend anerkannt. Damit bestätige sich dann auch, so Jedlowski weiter, dass Modernität ein ständig unabgeschlossenes Ganzes sei, mehrteilig und in vieler Hinsicht widersprüchlich. Eingedenk dieser Offenheit des Modernekonzepts, das sich eng an die Idee der multiple modernities anlehnt, sei schließlich auch der Analysebegriff der Entnormativierung kaum noch brauchbar, so JÖRG NEUHEISER (Tübingen), zeige er doch lediglich eine Normenpluralisierung an, die er mit dem Verschwinden eines traditionellen Kanons von Überzeugungen gleichsetze. Entscheidender sei jedoch die Frage, welche neuen begrenzenden und eröffnenden Strukturen auftauchten und wie sich das Individuum in diesen „Sowohl-als-auch-Dispositionen“ verortete.

Elemente, die der Postmoderne zugeschrieben werden, stellen sich allzu oft als Phänomene der Moderne heraus, resümierte auch MASSIMILIANO LIVI (Münster) in der Abschlussdiskussion. In nahezu allen Diskussionen der italienisch-deutschen Tagung schien diese Beobachtung auf. Das Beschreibungsdilemma lässt sich jedoch ebenso wenig abfedern, würde man beispielsweise von einer flüssigen Moderne sprechen – wie vielfach vorgeschlagen wurde –, suggeriert eine solche Wendung doch, dass die Moderne vorher statisch war. Auch die Rede von einer zweiten Moderne dürfte einen Strukturbruch betonen, der sich kultur- und sozialhistorisch nur schwerlich in den Lebenswelten der Zeitgenossen wiederfinden ließe, das haben die Diskussionen und vorgestellten empirischen Befunde mehr als deutlich gezeigt. Auch wenn sich in der aktuellen Strukturbruch-Debatte sicherlich nicht zum ersten Mal zeigt, dass Historiker dazu neigen, die Erosion früherer Gesellschaftsstrukturen meist rund 40 Jahre zurückzudatieren, bleibt die Periodisierungsdebatte doch stets fruchtbar. Denn die Zäsurenbildung zählt auch weiterhin zu den wohl streitproduktivsten Feldern der Geschichtswissenschaft.

Konferenzübersicht:

Begrüßung und kurze Einführung

Carlo Spagnolo (Bari)
Massimiliano Livi (Münster)
Thomas Großbölting (Münster)
Daniel Schmidt (Münster)

Sektion I - Moderne/Postmoderne?

Keynotes:
Paolo Pombeni (Trento)
Lutz Raphael (Trier)

Kommentare:
Giovanni Bernardini (Trento)
Nicole Kramer (Potsdam)

Sektion II - Individualisierung?

Keynotes:
Roberta Sassatelli (Milano)
Detlef Siegfried (Kopenhagen)

Kommentare:
Barbara Grüning (Bologna)
Olga Sparschuh (Berlin)

Sektion III - Pluralisierung?

Keynotes:
Marco Maraffi (Milano)
Frank Bösch (Potsdam)

Kommentar:
Nicolai Hannig (München)

Sektion IV - Entnormativierung?

Keynotes:
Paolo Jedlowski (Cosenza)
Thomas Großbölting (Münster)

Kommentare:
Fiammetta Balestracci (Trento)
Jörg Neuheiser (Tübingen)

Sektion V - Die Nachmoderne/Postmoderne als Herausforderung für die Zeitgeschichte? Italienisch-Deutsche Perspektiven

Zusammenfassung der Ergebnisse aus den Sektionen:
Massimiliano Livi (Münster)
Carlo Spagnolo (Bari)
Daniel Schmidt (Münster)
Thomas Großbölting (Münster)

Anmerkung:
1 Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 2008.


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Deutsch, Italienisch
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