Reformationsgeschichtliche Tagung: Die Marburger Artikel als Zeugnis der Einheit

Reformationsgeschichtliche Tagung: Die Marburger Artikel als Zeugnis der Einheit

Organisatoren
Fachbereich Evangelische Theologie, Philipps-Universität Marburg; Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck
Ort
Marburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
29.10.2011 -
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Von
Christoph Galle, Fachbereich Ev. Theologie, Philipps-Universität Marburg

Im Oktober 1529 versammelten sich auf Einladung des hessischen Landgrafen Philipp des Großmütigen die führenden Reformatoren des deutschsprachigen Raums im Marburger Schloss. Ziel der Zusammenkunft war es, als Grundlage für ein breit angelegtes, möglichst auch die Schweiz und die oberdeutschen Reichsstände umfassendes politisch-militärisches Bündnis eine Einigung in den wesentlichen Artikeln des reformatorischen Glaubens zu erlangen. Bekanntlich konnte dies in 14 Punkten tatsächlich realisiert werden, die divergierenden Haltungen Luthers und Zwinglis zur Abendmahlsfrage waren indes nicht zu überwinden.

Im Rahmen der bis 2017 andauernden Luther-Dekade der Evangelischen Kirche in Deutschland fand in Marburg am 29.10.2011 eine wissenschaftliche Tagung statt, die die als ‚Marburger Artikel‘ bekannt gewordenen Bekenntnisformeln von 1529 nicht, wie gewöhnlich, als Zeugnis der Uneinigkeit, sondern als Zeugnis eines gesamtreformatorischen Konsenses zu lesen versuchte. Zu diesem Zweck analysierten die einzelnen Vorträge detailliert Gruppen von jeweils mindestens zwei thematisch zusammengehörenden Artikeln und stellten sie in den Kontext der reformatorischen Lehrentwicklung. Lediglich der 15. Artikel zum Abendmahl, in dem keine Einigkeit errungen werden konnte, wurde gesondert und in zwei Vorträgen, das heißt einerseits aus lutherischer, andererseits aus reformierter Perspektive, untersucht. Die eingehende Analyse des Quellentextes ermöglichte, den individuellen Einfluss manch eines Reformators und zugleich die unterschiedliche Bewertung der behandelten Themen herauszuarbeiten. Die zudem vielfach erfolgte Einordnung in die Entwicklung der evangelischen Bekenntniszeugnisse des 16. Jahrhunderts zeigte die unterschiedliche Rezeption der Marburger Artikel auf und würdigte ihre Bedeutung als einzige gesamtreformatorische Bekenntnisurkunde.

Nach der Eröffnung der Tagung durch Wolf-Friedrich Schäufele (Universität Marburg) und Helmut Wöllenstein, den Propst des Sprengels Waldeck und Marburg der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck (EKKW), führte WOLF-FRIEDRICH SCHÄUFELE (Marburg) in die Fragestellung ein und ordnete die Marburger Artikel in den dreifachen historischen Kontext des Marburger Religionsgesprächs, der protestantischen Bündnispolitik und der reformatorischen Bekenntnisentwicklung ein.

Inwieweit sich die Teilnehmer des Marburger Religionsgesprächs an den Dogmen der Alten Kirche, insbesondere den Ergebnissen des Konzils von Nicäa orientierten, verdeutlichte PETER GEMEINHARDT (Göttingen) am Beispiel der ersten drei Artikel. Dies sei besonders in Fragen der Trinität, wie etwa der Zeugung des Sohnes aus dem Vater, ihrer Wesensgleichheit oder der Gottheit des Heiligen Geistes nachweisbar. Der Wittenberger Einfluss zeige sich hier in besonderer Weise, sei doch Vieles bereits ganz ähnlich in den von Melanchthon und Luther kurz zuvor verfassten Schwabacher Artikeln enthalten.

Diese Traditionslinie wurde auch im Falle der Artikel 4 bis 7 sichtbar, denen sich ANDRÉ BIRMELÉ (Straßburg) widmete. Insbesondere das Verständnis der Erbsünde weise einen Konsens auf, der in dieser Form auch im zweiten Artikel der ‚Confessio Augustana‘ Aufnahme gefunden habe. Übereinstimmung zwischen Wittenbergern und Schweizern / Oberdeutschen sei auch in der Annahme zu konstatieren, der Glaube sei Geschenk Gottes und nicht ein menschliches Werk.

Welche Hindernisse zur Einigung überwunden werden mussten, hob MARTIN SALLMANN (Bern), dessen Vortrag die Artikel 8, 9 und 14 thematisierte, eindrücklich am Beispiel der Taufe hervor. So hielt Zwingli die Taufe, die für ihn von Gott eingesetzt war, nicht für fähig, den Gläubigen von seinen Sünden zu befreien; für Luther hingegen war sie gleichsam eine Neugeburt. Die Beobachtung, dass vor allem in den Formulierungen dieser drei Artikel ein enormer Interpretationsspielraum vorliege, erklärt, wie manch ein Konsens während des Marburger Religionsgesprächs erzielt werden konnte.

JAN ROHLS (München) skizzierte das Modell evangelischer Ethik, wie es die Artikel 10-13 entwerfen: Darin werde gleichsam eine Anleitung zum Leben als Gläubiger gegeben, indem der Nutzen guter Werke trotz Ablehnung der Werkgerechtigkeit, ein heilsamer Gebrauch der Beichte sowie der Gehorsam gegenüber der weltlichen Obrigkeit aufgezeigt würden. Insbesondere die Ausführungen zur Beibehaltung der kirchlichen Tradition (13. Art.) haben weit über das Marburger Religionsgespräch und die ‚Confessio Augustana‘ von 1530 hinaus gewirkt.

Dass sich ATHINA LEXUTT (Gießen) und PETER OPITZ (Zürich) aus lutherischer bzw. reformierter Perspektive dem 15. Artikel – der Abendmahlsfrage – widmeten, erwies sich als gelungener Abschluss der Auseinandersetzung mit den Marburger Artikeln. Einmal mehr zeigte sich die Notwendigkeit, die jeweiligen Haltungen nicht allein auf das Religionsgespräch zu begrenzen, sondern im Kontext sowohl der Wirkungsgeschichte Luthers und Zwinglis als auch der Entwicklung der Bekenntnisbildung im 16. Jahrhundert zu sehen. Auch wenn die Positionen zum Abendmahl als Erinnerungsmahl bzw. als sakramentales Mahl mit der Realpräsenz Jesu Christi in Brot und Wein im Verlauf des Marburger Religionsgesprächs unvereinbar blieben und der 15. Artikel nur in begrenzter Weise als Zeugnis der Einheit gelten könne, stellt seine Abschlussformulierung eine zukünftige Einigung nicht in Frage: „[Es] soll doch ein Teil gegen den anderen christliche Liebe, sofern jedes Gewissen immer das leiden kann, erzeigen, und beide Teile Gott den Allmächtigen fleissig bitten, daß er uns durch seinen Geist den rechten Gebrauch bestätigen wolle.“

Zum öffentlichen Abendvortrag begrüßte die Präsidentin der Universität Marburg, Prof. Dr. Katharina Krause, die Tagungsteilnehmer. Dass das nicht zuletzt durch die Marburger Artikel gekennzeichnete Streben nach einem (einheitlichen) evangelischen Bekenntnis auch als fruchtbares Erbe für die Gegenwart genutzt werden könne, legte abschließend der Vortrag des Kirchenhistorikers und Bischofs der EKKW, MARTIN HEIN (Kassel), dar, der krankheitshalber durch seinen Referenten verlesen wurde. Demnach gehöre es zum Wesen der evangelischen Kirche, um die Wahrheit zu streiten, für die Einheit zu beten und die Vielfalt zu gestalten.

Die einzelnen Beiträge haben ganz neu den verschieden starken Einfluss der Tagungsteilnehmer von 1529 aufgezeigt, der für jeden der Marburger Artikel individuell zu konstatieren ist. Die Orientierung am Wortlaut der Artikelformulierungen ließ nicht nur die Gewichtung einzelner Aspekte deutlich werden, sondern ermöglichte auch, deren Rezeption in späteren Bekenntnisschriften des 16. Jahrhunderts aufzudecken. Die Marburger Artikel erfuhren auf diese Weise eine neue, vielfältige und ihrer Bedeutung entsprechende Würdigung.

Konferenzübersicht:

Wolf-Friedrich Schäufele (Marburg): Die Marburger Artikel im Kontext der reformatorischen Bekenntnisentwicklung

Peter Gemeinhardt (Göttingen): Das Erbe der alten Kirche: Gott und Christus (Art. 1-3)

André Birmelé (Straßburg): Das reformatorische Evangelium: Sünde und Rechtfertigung (Art. 4-7)

Martin Sallmann (Bern): Glaube als Geschenk: Predigt und Taufe (Art. 8-9, 14)

Jan Rohls (München): Glaube und Leben: Die evangelische Ethik (Art. 10-13)

Athina Lexutt (Gießen): Das Abendmahl (Art. 15) – die lutherische Perspektive

Peter Opitz (Zürich): Das Abendmahl (Art. 15) – die reformierte Perspektive

Martin Hein (Kassel): Das bleibende Erbe der Reformation. Was heißt heute "evangelisch"?


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Deutsch
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