Chile zwischen Diktatur und Demokratie

Chile zwischen Diktatur und Demokratie

Organisatoren
Prof. Dr. Silke Hensel / Dr. Stephan Ruderer, Historisches Seminar und Exzellenzcluster "Religion und Politik" der WWU Münster; Akademie Franz Hitze Haus
Ort
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
09.12.2012 - 10.12.2012
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Von
Anja-Maria Bassimir / Christian Kaindl, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Vom 9. bis 10. Dezember fand in der katholisch-sozialen Akademie des Bistums Münster, dem Franz-Hitze-Haus, eine Konferenz zum Thema „Chile zwischen Diktatur und Demokratie“ statt, mit der die Veranstalter die Folgen des Militärregimes sowie die Solidaritätsbewegung in Deutschland und Münster aufarbeiten wollten, um an die Ereignisse von 1973 zu erinnern. Die Tagung wurde gemeinsam vom Exzellenzcluster Religion und Politik, dem Historischen Seminar der Universität Münster und dem Franz-Hitze-Haus veranstaltet. Die wissenschaftliche Debatte wurde um persönliche und auch zum Teil emotionale Sichtweisen ergänzt, da sich an den beiden Tagen akademisches Fachpublikum und Zeitzeugen/innen der deutschen Solidaritätsbewegung sowohl am Rednerpult als auch im Publikum austauschten.

STEFAN RINKE (Berlin) eröffnete den inhaltlichen Teil der Konferenz mit einem Vortrag zu den Hintergründen des Putsches vom 11. September 1973 und der Institutionalisierung der Diktatur. Er bezeichnete den Putsch in Chile als Geburtsstunde der Lateinamerika-Solidaritäts-Bewegung. Chile habe in den 1970er-Jahren als demokratisch legitimiertes „sozialistisches Experiment“ die Weltöffentlichkeit als Gegenmodell zu Kuba auf sich gezogen. Nach dem Putsch sei Chile hingegen als (neo-)liberales Vorbild gesehen worden. In der anschließenden Diskussion wurde vor allem die These aufgegriffen, dass nicht die Destabilisierungsbemühungen der USA, sondern die gesellschaftlichen Konflikte in Chile der wichtigste Auslöser des Putsches gewesen seien. Die ehemaligen Aktivisten/innen wollten die Rolle der USA stärker betont wissen.

GEORG DUFNER (Berlin) stellte die Relevanz der Beziehungen zur Bundesrepublik Deutschland für Chile heraus. Während des Kalten Krieges wurde die Bundesrepublik für Chile ein bedeutender wirtschaftlicher und politischer Partner, der mit Beginn der kubanischen Revolution die Entwicklungshilfe in Lateinamerika ausweitete, um der Ausbreitung marxistischer Diktaturen vorzubeugen. Nach dem Putsch seien zunächst die zwischenstaatlichen und wirtschaftlichen Beziehungen stagniert. Ebenso haben Bildungskooperationen und der Kulturaustausch gelitten. Dufner betonte, dass durch die starke mediale Präsenz des Militärputsches die bundesrepublikanischen Diskurse, besonders innerhalb der politischen Lager, polarisiert worden seien. Vergleiche mit dem Nationalsozialismus waren an der Tagesordnung. Das Schicksal der politisch Verfolgten habe im Mittelpunkt der Solidaritätsbewegung, die mit dem 11. September stark anwuchs, gestanden. Gleichzeitig sei der Putsch in konservativen Kreisen in Deutschland als logische Folge der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zerrüttung wahrgenommen worden. Während des Transitions-Prozesses zur Demokratie in Chile haben dann bundesrepublikanische Parteien- und Stiftungskooperation an Einfluss gewonnen.

BARBARA RUPFLIN (Münster) ging in ihrem Beitrag auf die Chile-Solidaritätsbewegung in Westdeutschland ein und erläuterte am Beispiel Münsters die Rolle religiöser Akteure. Die lokale Chile-Solidarität habe sich durch das starke Engagement der Evangelischen wie der Katholischen Studentengemeinde ausgezeichnet. Während der Glaube Deutungen bereit hielt, die zum Handeln motivierten, stellten die Studentengemeinden Ressourcen zur Verfügung, die zur langjährigen Kontinuität der Bewegung beitrugen. Den Auftakt für die Entstehung der transnational orientierten Chile-Solidaritäts-Bewegung, so Rupflin, bildeten die ersten Demonstrationen unmittelbar nach dem Putsch, die in vielen Städten der BRD stattfanden. Mobilisierende Faktoren seien die Empörung über die Menschenrechtsverbrechen und die Etablierung eines dichotom strukturierten Narrativs gewesen, in dem Allende den friedlichen und demokratischen Weg zum Sozialismus verkörperte und Pinochet zum Symbol für brutalen Staatsterror wurde. Zudem haben die Auseinandersetzungen um die Lehren aus dem Nationalsozialismus das Selbstverständnis der Aktivisten geprägt. Die Bewegung habe es als ihre Aufgabe verstanden, eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen und mittels einer Vielzahl von Aktionsformen, darunter Demonstrationen, Blutspenden und Konzerte, die Menschenrechtsarbeit in Chile und die Chilenen im bundesdeutschen Exil symbolisch wie materiell zu unterstützen.

In ihrem Vortrag zur „Moralischen Opposition“ ging SILKE HENSEL (Münster) auf die Rolle der katholischen Kirche während der Militärdiktatur ein. Während zunächst wenig Kritik an der Militärjunta geübt worden sei und der Putsch teilweise auch von kirchlichen Amtsträgern unterstützt wurde, sei der Widerstand der katholischen Kirche mit der Verschleppung, dem Verschwinden und der Ermordung von Priestern gewachsen und fand Ausdruck in der Hilfe für die Opfer, zum Beispiel durch das „Komitee für den Frieden“. Die katholische Kirche sei somit, insbesondere durch ihre Menschenrechtsarbeit, zu einer wichtigen Stütze der Opposition und das von ihr gegründete Solidaritätsvikariat schließlich zum „Instrument der Re-Demokratisierung“ geworden. In der anschließenden Diskussion wurde nach der Beziehung der Priester zur Oberschicht, aus der sie sich größtenteils rekrutierten, und der gegenseitigen Beeinflussung gefragt – doch hierzu liegen bisher kaum Studien vor. Darüber hinaus wäre es interessant, auch die Rolle der evangelischen Kirchen zu beleuchten.

KUNO FÜSSEL (Koblenz) und MICHAEL RAMMINGER (Münster) berichteten in ihrem Vortrag aus ihrer Arbeit in der Chile Solidaritätsbewegung in Münster und Chile. Aus ihrem Verständnis des Christentums und des Sozialismus speiste sich das politische Engagement für Latein-Amerika und die Hinwendung zur kirchlichen „Option für die Armen“. Die Neuerungen des Zweiten Vatikanischen Konzils haben es manchen erlaubt, Kirche als „Kirche der Armen“ zu denken und sich als „Christen für den Sozialismus“ zu organisieren. Das soziale Engagement sei aus der realen Konfrontation mit der Armut entstanden. Im Klima der Reformen und angeregt durch die Befreiungstheologie sei das Ideal des „organischen Intellektuellen“ aufgegriffen worden, der sich mit den Problemen vor Ort auseinandersetzte. Diese Arbeit fand vor allem in sogenannten „Basisgemeinden“, Selbstorganisationen von Laien, statt. Der emotionsgeladene Bericht provozierte Zwischenrufe, Sympathiebekundungen und Nachfragen. Diskussionsbeiträge reichten von Verständnisfragen zur Befreiungstheologie, über Kritik an der Polemik gegenüber den USA, bis zur Diskussion eines am Kommunismus orientierten Gesellschaftsideals als Alternative zur kapitalistischen Marktwirtschaft.

INGRID WEHR (Freiburg) zog in ihrem Vortrag einen Vergleich zwischen den nationalen Protesttagen der 1980er-Jahre, die die Transition in Chile einläuteten, und der Massenmobilisierung von 2011. Die Besonderheit der aktuellen Proteste sah Wehr im geringen Einfluss traditioneller Akteure, wie den Parteien und Gewerkschaften. Darüber hinaus spielten neue netzwerkartige Organisationsformen eine Rolle, die aber zu einer gewissen Atomisierung der Bewegung beitrügen. Auch die Bedeutung neuer Massenkommunikationsmitteln stellte sie heraus. Aus dem Zusammenwirken der Faktoren wagte sie die Prognose, dass, im Unterschied zu vergangenen Protesten, heute eine Umgestaltung der chilenischen Gesellschaft wenn auch schwierig so doch möglich schiene.

Der Beitrag von STEPHAN RUDERER (Münster) hatte die Vergangenheitspolitik Chiles seit 1990 zum Gegenstand, die er als ambivalent und mit dem Begriff der „hybriden Erinnerung“ charakterisierte. Obwohl sich die Bevölkerung 1988 in einer Volksabstimmung gegen den Diktator aussprach und das Land seit 1990 demokratisch regiert wird, würden im öffentlichen Diskurs auch heute noch – und wieder – Errungenschaften der Diktatur gelobt und damit die Verbrechen und das Leiden der Opfer relativiert. Der erste demokratisch gewählte Präsident nach der Diktatur, Patricio Aylwin, habe Vergangenheitspolitik zunächst offensiv betrieben. Die Regierung habe jedoch bald auf eine „Strategie des Verdrängens“ umgeschwenkt, durch die auch der Legitimationsdiskurs der Rechten wieder Raum gewonnen habe. Die Verhaftung Pinochets in London 1998 habe, Ruderer zufolge, mehr als eine Katalysatorwirkung gehabt. Denn obwohl der ehemalige Diktator freigelassen und letztendlich nie verurteilt wurde, sei die Vergangenheit in Chile so wieder zum Thema und während der Bachelet-Regierung Teil des öffentlichen Diskurses geworden. Die Menschenrechtsverbrechen der Diktatur seien heute offiziell nicht mehr zu leugnen, gleichzeitig könnten jedoch die „guten“ Seiten des Pinochetregimes immer noch öffentlich hervorgehoben werden.

Die Konferenz wagte den Spagat, Zeitzeugen und Akteure mit Historikern zusammenzubringen und ihren Beiträgen gleichen Raum und Wert einzuräumen. Die unterschiedlichen Einschätzungen zur historischen und aktuellen Situation Chiles gaben Anlass zu regen Debatten. In der Abschlussdiskussion wurde dafür plädiert, die aus der ungewöhnlichen Konstellation resultierenden Potenziale aber auch Spannungen zu nutzen. Ein sensibler Umgang mit der jeweils anderen Seite wurde angemahnt. Zeitzeugen beklagte zum Beispiel ein „Unwohlsein“, wenn Historiker ihre Berichte zu „Diskursen verdampften“, während mancher Historiker mit der Emotionalität der Zeitzeugenbeiträge im Rahmen einer wissenschaftlichen Konferenz Probleme hatte. Insgesamt wurde aber das Zusammenkommen verschiedener Perspektiven als bereichernd betrachtet.

Konferenzübersicht:

Stefan Rinke, Berlin: Hintergründe des Putsches vom 11. September 1973 und die Institutionalisierung der Diktatur (1973 - 1990)

Georg Dufner, Berlin: Die politischen Beziehungen zwischen Chile und der Bundesrepublik Deutschland während der Diktatur (1973 - 1990)

Barbara Rupflin, Münster: Gelebte Solidarität: Chile-Solidarität in Münster und in der Bundesrepublik Deutschland

Film „Machuca, mein Freund“ (Chile 2004), Regie: Andrés Wood, anschließend Gespräch und Diskussion Hans Gerhold, Münster

Silke Hensel, Münster: Moralische Opposition. Die Haltung der Katholischen Kirche zu Diktatur und Menschenrechtsverletzungen

Kuno Füssel, Koblenz und Michael Ramminger, Münster: Option für die Armen. Der theologische und pastorale Wandel in der Katholischen Kirche Chiles im 20. Jahrhundert

Ingrid Wehr, Freiburg: Der Weg aus der Diktatur und die Rückkehr zur Demokratie. Politische und gesellschaftliche Aspekte der Transition in Chile

Stephan Ruderer, Münster: Erinnerung, Aufarbeitung und Versöhnung. Vergangenheitspolitik in Chile


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