Unterwegs im Namen der Religion. Pilgern als Form von Kontingenzbewältigung und Zukunftssicherung in den Weltreligionen

Unterwegs im Namen der Religion. Pilgern als Form von Kontingenzbewältigung und Zukunftssicherung in den Weltreligionen

Organisatoren
Internationales Kolleg für Geisteswissenschaftliche Forschung, Universität Erlangen
Ort
Erlangen
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.11.2011 - 11.11.2011
Url der Konferenzwebsite
Von
Hans-Christian Lehner/Erik Niblaeus, Internationales Kolleg für Geisteswissenschaftliche Forschung, Erlangen

In Erlangen richtete das Internationale Kolleg für Geisteswissenschaftliche Forschung (IKGF) am 10. und 11. November 2011 eine interdisziplinäre Konferenz aus, die sich in einem vergleichenden Ansatz mit dem Pilgern in den Weltreligionen befasste. Das Phänomen der Pilgerreise sollte dabei in erster Linie als Ritual in den Blick genommen werden, das imstande ist, nicht nur geografische, sondern auch kulturelle Entfernungen zu bewältigen. Ziel sollte sein, Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Religionen auch im Hinblick auf den Aspekt des zukünftigen Heils aufzuzeigen.

In seinem Einführungsvortrag beschrieb KLAUS HERBERS (Erlangen) den Aspekt des Unterwegsseins als menschliche Konstante und gesellschaftsübergreifendes Phänomen. Pilgern als Unterwegssein in religiösem Kontext umfasse dabei neben der real greifbaren Seite in einem metaphorischen Sinne auch eine geistig-geistliche Seite, ein Gesichtspunkt, welcher bei dem vorliegenden vergleichenden Zugriff von Bedeutung sei. Im anschließenden Vortrag knüpfte ANDREAS NEHRING (Erlangen) aus religionswissenschaftlicher Perspektive an diese Überlegungen an. Er machte das Heilige als Spezifikum des Pilgerns aus, was eine Sakralisierung von Bewegung und Orten bedinge. Dass Pilgern dabei für die Herausbildung von Identitäten als konstitutives Element, Mobilität mithin als Mittel zur Kontingenzbewältigung fungiert, konnte auch KARIN STEINER (Würzburg) mit Blick auf die Pilgerfahrt im brahmanisch-sanskritischen Hinduismus feststellen. In einem Beispiel aus dem altindischen Sanskrit-Epos Mahabharata konnte sie zudem Strukturen aufzeigen, die das Pilgern in dieser religiösen Tradition bis heute bestimmen, auch wenn dieser Text selbst keine Bedeutung mehr besitze.

Die Sektion „Intentionen und Vorbereitungen des Pilgerns: Bitte, Dank und Vorhersage“ wurde von Alessandro Gori (Florenz) durch einen Überblick über die Bedeutung der Hadsch eingeleitet, was einen optimalen Hintergrund für den Vortrag von HEIKO SCHUSS (Erlangen) bot, der sich mit den wirtschaftlichen Implikationen der rituellen Pilgerfahrt im Islam (am Beispiel von Hadsch und ’Umra) und deren historischer Entwicklung befasste. Das Heilige, das Andreas Nehring als Spezifikum des Pilgerns gegenüber dem Tourismus ausgemacht hatte, stehe hier aus unterschiedlichen Gründen in enger werdender Verbindung mit dem Tourismus. Gegen eine allzu simple Unterscheidung zwischen religiöser und nicht-religiöser Pilgerreise argumentierte auch CHARLES CASPERS (Nijmegen), der anhand zahlreicher Beispiele aus den Niederlanden Entwicklungen bis in die Gegenwart elaborierte. Für die Intentionen des Pilgerns konnte Caspers eine Zunahme der Pilgerfahrt aus Dankbarkeit gegenüber der Pilgerfahrt mit dem Ziel der Fürbitte beobachten. Der dritte Vortrag dieser Sektion von JÖRG GENGNAGEL (Heidelberg) betraf abermals den Hinduismus und zeigte anhand der Prozessionen im Wallfahrtsort Varanasi auf, wie Intentionalität und Kontingenz im Spannungsfeld präskriptiver „Raumtexte“ der sanskritischen Tradition und historischer Pilgerpraxis zu einer dynamischen Praxis des Unterwegsseins führt.

Der zweite Konferenztag begann mit einer Sektion mit dem Titel „Pilgern zwischen ritueller Vorschrift und Freiheit“, die den Grad der Verpflichtung zu bestimmten religiösen Praktiken in den verschiedenen Religionen ausloten sollte. Einleitend rückte Hannes Möhring (Erlangen) die Pilgerfahrt in einen Zusammenhang mit den christlichen Kreuzzügen des Mittelalters. Auf einer theoretisch-systematischen Ebene siedelte im Anschluss TILMAN ALLERT (Frankfurt am Main) seinen Vortrag an. Ohne sich auf eine bestimmte Religion zu fokussieren, definierte er aus einer soziologischen Perspektive das Pilgern unter dem Minimalkriterium des Ortswechsels als eine kommunikative Praxis mit Eigenaktivität, die einen in die Lebensführung eingebauten Zweifel zu verdrängen suche. Pilgern lasse sich demnach als reproduzierte Religionsentstehung auffassen. In einer Fortführung der Gedanken von Andreas Nehring und Charles Caspers konnte er somit die dem Pilgern immanente Sakralität als selbstkreiert festmachen. Im anschließenden Beitrag beschrieb RICHARD LANDES (Erlangen), wie sich im Europa des 11. Jahrhunderts die Einstellung zum Pilgern veränderte und wie Endzeiterwartungen um das Jahr 1000 Einfluss auf religiöse Praxis und Glaubenssätze gewannen. Diese Entwicklungen resultierten im europäischen Christentum in der Massenpilgerfahrt, die sich ihrerseits mehr und mehr mit dem Heiligen Land und Jerusalem in Verbindung setzte. Vorläufiger Höhepunkt dieser Entwicklung war der Erste Kreuzzug 1096-1099. Der Referent zog dabei auch Parallelen zu Praktiken des Pilgerns in Islam und Judentum und wies dabei auch die eschatologische Dimension der heutigen Islampilgerfahrt nach Mekka hin. Eine eher geographische Dimension eröffnete KATJA TRIPLETT (Marburg) in ihrem Vortrag zu buddhistischer Pilgerfahrt im modernen Japan. Dabei konnte sie die Komplexität des Verhältnisses von äußerlicher Wirklichkeit und spiritueller Signifikanz aufzeigen. Präskriptive Texte geben dabei sowohl detailliert Richtlinien vor als auch die Erlaubnis zu einer beachtenswerten Wahlfreiheit hinsichtlich des Erreichens der zahlreichen einzubeziehenden Rituale.

Die besonders lange zweite Sektion des Tages schloss unter dem Titel „Qualität und Materialität heiliger Stätten“ Christentum, Islam, Judentum, Hinduismus und Buddhismus ein. Die Weite des Themas führte zu einem facettenreichen und interessanten Querschnitt durch die Religionen. Im ersten Beitrag stellte FERNANDO LÓPEZ ALSINA (Santiago de Compostela) eines der bedeutendsten Pilgerziele in Europa vor, Santiago de Compostela. López Alsina verband eine historische Perspektive mit einer Sicht auf den heutigen Wallfahrtsort, wobei er die Diversität der Pilger mit Blick auf die jeweiligen Herkünfte und Motivationen deutlich machte. Ebenfalls die Frage nach der Motivation, diesmal für jüdische Pilger, stellte CYRIL ASLANOV (Jerusalem). Die Antwort war hier vielfältig: Einige reisten für spirituelle Zwecke mit dem Wunsch verbunden, das Heilige Land zu sehen, andere von einer messianischen Mission inspiriert, einige unternahmen die Reise, um Unterricht von renommierten Lehrern oder Philosophen zu erhalten, andere zu den Gräbern bereits verstorbener Lehrer. Insgesamt sei es oft schwierig, mittelalterliche jüdische Wallfahrt von anderen Reisen zu unterscheiden, besonders in den Mittelmeerländern, wo der Dar al-Islam zeitweise eine beispiellose persönliche Mobilität erlaubte. Cyril Aslanov gelang es jedoch, eine bemerkenswerte Vielfalt an Motivationen in seiner Taxonomie der mittelalterlichen jüdischen Wallfahrt zu demonstrieren. Stärker auf die Bedeutung des Pilgerns für eine Region konzentrierte sich ANNE FELDHAUS (Tempe, AZ) am Beispiel von Pilgerstätten im indischen Maharashtra. Dabei skizzierte sie, wie das Praktiken des Pilgerns, die sich selbst als komplex und vielfältig zeigten, zur Stärkung und Schaffung regionaler Identitäten in jenem Gebiet führen kann. Zwar werden solche durch Rituale des Pilgerns geformte Identitäten politisch zu instrumentalisieren versucht, doch konnte Feldhaus zeigen, dass sie nicht unbedingt zum Anstieg regionaler politischer Bewegungen führen. Noch einmal an die vorangegangene Sektion anknüpfend bemerkte GERALD HAWTING (London), dass die islamische Lehre an dieser Stelle relativ wenig Spielraum für die Personalisierung von religiösem Ritual und die Planung für die Zukunft biete. Es gebe keine Orakel oder prophetische Element für die Pilgerfahrt nach Mekka, wie sie nach islamischem Recht ausgeführt wird. Dennoch konnte Hawting zeigen, dass narrative Darstellungen der Hadsch dazu dienen können, dieses Bild durch einen bestimmten, persönlichen Blick zu verdrängen. Allerdings seien die Quellen oft schwer zu bedienen und neigten dazu, der „offiziellen“ Lehre zu entsprechen; Einzelangaben über persönliche Hoffnungen und Bestrebungen müssten aus Texten, die auf den ersten Blick unlösbar und wenig originell dünken, herausgelöst werden. Im einzigen Vortrag der Konferenz zu Praktiken des Pilgerns in China stellte ROBERT ANDRÉ LAFLEUR (Beloit, WI) zum Abschluss anhand einiger Fotos und persönlicher Erfahrungen vor, wie divinatorische Praxis und Pilgern miteinander korrelieren und verortete dies sodann in einem historisch-politischen Kontext. Da dieser Punkt bereits in einigen vorangegangenen Beiträgen angeklungen war, waren alsdann LaFleurs kenntnisreiche Ausführungen darüber, wie die moderne Tourismusindustrie und jahrhundertealte religiöse Praktiken aufeinander einwirken, von besonderem Interesse.

Eine kurze allgemeine Diskussion beschloss die Konferenz. Als Ergebnis wurde von Klaus Herbers die Erkenntnis festgehalten, dass erst neue theoretische Basis-Elemente eine Erschließung der kognitiven Tiefendimension der Religionen grundlegend auch in Bezug auf das Pilgerthema ermöglichen (wie insbesondere in den Vorträgen von Nehring und Allert nahe gelegt). Eine Historisierung der Perspektive würde zudem der offensichtlich gewordenen Vielfalt der Dimensionen des Pilgerns Rechnung tragen, wie eine Folgeveranstaltung deutlich machen könnte.

Konferenzübersicht:

Klaus Herbers (Erlangen) Begrüßung und Einführung

Eröffnungsvortrag
Andreas Nehring (Erlangen) „Auf dem Weg zum ‚Heiligen’? Pilgern aus religionswissenschaftlicher Perspektive“

Dreams, Visions and Pilgrimage

Karin Steiner (Würzburg) „König Yudhisthiras Vision: Pilgerfahrt im brahmanisch-sanskritischen Hinduismus“

Intentionen und Vorbereitungen des Pilgerns: Bitte, Dank und Vorhersage

Alessandro Gori (Florenz) Einführung

Jörg Gengnagel (Heidelberg) „Aspekte von Intentionalität und Kontingenz im nordindischen Wallfahrtsort Varanasi“

Heiko Schuß (Erlangen) „Ökonomische Aspekte der islamischen Pilgerfahrt“

Charles Caspers (Nijmegen) „Ex voto. Christian pilgrimage during the Middle Ages and beyond“

Pilgern zwischen ritueller Vorschrift und Freiheit

Hannes Möhring (IKGF Fellow) Einführung

Tilman Allert (Frankfurt/M.) „Transitorische Glaubensvirtuosität – elementarsoziologische Anmerkungen zum Pilgertum im Islam“

Richard Landes (IKGF Fellow) „Pilgrimage and the Future in the 11th Century“

Katja Triplett (Marburg) “Approaching emptiness: Buddhist pilgrimages in Japan”

Qualität und Materialität heiliger Stätten

Hartmut Bobzin (Erlangen) Einführung

Fernando López Alsina (Santiago de Compostela) „Pilgrimage to Santiago”

Gerald Hawting (London) „The Hajj, the Meccan Sanctuary, and Hopes for the Future”

Cyril Aslanov (Jerusalem)„For which Purpose did Medieval Jewish Pilgrims travel?”

Anne Feldhaus (Tempe, AZ) „Pilgrimage and Regional Consciousness in Hindu India“

Robert LaFleur (Beloit, WI) „Splending Religiosity. The Cultural Economics of Divination on China’s Southern Sacred Mountain”


Redaktion
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Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Englisch, Deutsch
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