Europäisierung – Objekt, Perspektive oder Praxis sozial- und kulturwissenschaftlicher Forschung?

Europäisierung – Objekt, Perspektive oder Praxis sozial- und kulturwissenschaftlicher Forschung?

Organisatoren
Marcel Berlinghoff, Zentrum für Vergleichende Europäische Studien (ZEUS)
Ort
Köln
Land
Deutschland
Vom - Bis
01.07.2011 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Sandra Vacca, Historisches Institut, Universität zu Köln

Kaum ein Begriff ist in der interdisziplinären Europaforschung so verbreitet wie der der Europäisierung – und kaum einer ist bei genauerem Hinsehen so uneindeutig. Mag in den Sozialwissenschaften Europäisierung noch einigermaßen klar auf gesellschaftlichen und politischen Wandel infolge der fortschreitenden Europäischen Integration bezogen sein, so weitet sich das Feld möglicher Bedeutungen in den Kulturwissenschaften um ein Vielfaches. Um interdisziplinären Missverständnissen, konzeptionellen Frustrationen und einer daraus folgenden grundlegenden Verwerfung des Begriffs als zu unspezifisch vorzubeugen, widmete sich der von ZEUS-Stipendiat Marcel Berlinghoff organisierte Doktorandentag im Sommersemester 2011 der „Europäisierung als Objekt, Perspektive und Praxis sozial- und kulturwissenschaftlicher Forschung“.

In seiner Einführung hob Berlinghoff die Uneindeutigkeit des Begriffs hervor, indem er in Anlehnung an den Regensburger Philologen Walter Koschmal Europäisierung als „Schwarzes Loch“ der europäischen Kulturwissenschaften beschrieb: Ein Begriff, der geschaffen worden sei, um ein oder mehrere Phänomene zu untersuchen, die sich nicht näher beschreiben ließen, der jedoch leicht verständlich und dadurch anschlussfähig für eine mediale Öffentlichkeit und zugleich vielfältig emotional besetzt sei. Allein in der Zeitgeschichte, so Berlinghoff, umfasse Europäisierung so unterschiedliche Bedeutungen wie die Integration der Europäischen Union (EU), die Entstehung einer europäischen Identität oder den kolonialen Einfluss europäischer Großmächte auf die von ihnen beherrschten Gebiete. Weite man den Blick auf die gesamte Geschichtswissenschaft und schließlich auf andere kultur- und sozialwissenschaftliche Disziplinen, so steige die Zahl der möglichen Bedeutungen exponentiell.

Um angesichts der während des Workshops erwartbaren Vielfalt möglicher Aspekte von Europäisierung den Überblick zu behalten, schlug Berlinghoff drei Perspektiven vor, um die folgenden Beiträge einzuordnen: 1) Europäisierung als Forschungsperspektive, die europabezogene transnationale oder transkulturelle Prozesse, Strukturen und Entwicklungen in den Blick nehme; 2) Europäisierung als Objekt der Forschung zur europäischen Integration auch über die Geschichte der EU hinaus; 3) Europäisierung als Forschungspraxis, die dazu beitrage, methodologische Nationalismen in Fragestellungen und Arbeitsweisen zu überwinden.

Als erster näherte sich SIMON MUSEKAMP (Trier) dem Thema aus politologischer Perspektive. Dabei widersprach er zunächst der Vorstellung eines einheitlichen Europäisierungsbegriffs in der Politikwissenschaft und stellte unterschiedliche Definitionsversuche aus seiner Fachrichtung vor. Daran anschließend setzte er sich anhand des konkreten Beispiels der Debatten um das deutsche Zuwanderungsgesetz von 2005 mit der Frage auseinander, ob die Europäisierung die Exekutive stärke, indem gleichzeitig auf europäischer Ebene anstehende Entscheidungen zur Migrationspolitik im Sinne der Regierungsparteien beeinflusst würden. Letztlich, so Musekamp sei die Realität seines Untersuchungsgegenstandes zu komplex gewesen, um anhand der in seiner Abschlussarbeit verwendeten Theorien zu eindeutigen Ergebnissen zu kommen. Hierzu seien kleinteiligere Studien notwendig. Dennoch wurde an diesem Beispiel deutlich, wie Europäisierung als Forschungsperspektive dazu beigetragen kann, das komplexe Feld der Beeinflussungen von politischen Positionen auf nationaler Ebene genauer zu untersuchen.

Im Bereich der Migrationspolitik verbleibend stellte MARCEL BERLINGHOFF (Heidelberg/Köln) Teile seines zeithistorischen Dissertationsprojekts zur Europäisierung der Anwerbestopps in den frühen 1970er-Jahren vor. Im Mittelpunkt stand dabei die Frage, warum sich die europäischen Migrationsregime trotz höchst unterschiedlicher Ausgangsbasen in relativ kurzer Zeit einander so stark angenähert hatten, dass in dieser Zeit von dem Beginn eines gesamteuropäischen Migrationsregimes gesprochen werden könne. Dabei unterschied Berlinghoff verschiedene Dimensionen von Europäisierung von der nationalen Angleichung in einem Politikfeld bis zur Entwicklung europäischer Identitätsvorstellungen. Entscheidend sei jedoch die Europäisierung einer gemeinsamen Problemperzeption und Lösungsfindung in den nationalen Regierungsadministrationen in Bezug auf die „Gastarbeiterbeschäftigung“ gewesen, die schließlich zu einer restriktiven Zulassungspolitik gegenüber als „außereuropäisch“ wahrgenommen Arbeitsmigranten bei gleichzeitiger Stärkung der Arbeitskräftemobilität von „Europäern“ geführt habe.

Aus Sicht der Kulturanthropologie und Europäischen Ethnologie nahm ANNINA LOTTERMANN (Frankfurt am Main/Essen) den Faden auf und berichtete aus ihrer Forschung über „Europäisierung als alltägliche Praxis“. Für ihre Dissertation untersucht sie deutsch-polnische und deutsch-türkische Städtepartnerschaften und dabei insbesondere das Spannungsfeld von Europäisierung als Konstrukt und gleichzeitiger alltagskultureller Praxis. Bezug nehmend auf die eingangs vorgeschlagenen Kategorien ordnete sie ihre Forschung eher dem Bereich der Europäisierung als Perspektive zu, wenngleich die Praxis der Städtepartnerschaften als „EU-europäisiert“, d. h. als durch EU-Fördermaßnahmen strukturiert gelten könne. Im deutsch-türkischen Fall komme hinzu, dass die Städtepartnerschaften auch Mobilitätsprozesse „europäisiere“, da hierdurch leichter an Touristenvisa zu kommen sei.

Zur Europäisierung der Forschungspraxis durch EU-Förderung berichtete schließlich CHRISTINA BITTERBERG (Bonn) von ihrer Arbeit bei der Nationalen Kontaktstelle „Sozial-, Wirtschafts- und Geisteswissenschaften“ für das 7. Europäische Forschungsrahmenprogramm. Die Schaffung eines Europäischen Forschungsraums sei explizites Ziel des Programms, das in vielen Bereichen zumindest strukturell schon sehr erfolgreich sei und nach ihrem Eindruck auch inhaltlich weitreichende Folgen habe.

Auf die Frage, was denn nun genau Europäisierung sei, konnte erwartungsgemäß auch in der engagierten Abschlussdiskussion keine eindeutige Antwort gefunden werden. Europäisierung, so ein verbreiteter Konsens, sei zwar nicht zuletzt durch finanzstarke Mobilisierung und Strukturierung eng mit der EU verbunden, könne jedoch nicht auf diese beschränkt werden.

Als Ausweg aus der interdisziplinären Uneindeutigkeit wurde vorgeschlagen, die eigene Forschung möglichst kleinteilig zu gestalten. Auch die Verbindung von Mikro-.und Makroebene könne zu einer greifbareren Vorstellung des Begriffs beitragen. Als grundlegende Probleme der Europäisierungsforschung wurden sowohl die Gefahr des Zirkelschlusses zwischen Europäisierung als Objekt und Perspektive der Forschung als auch das Setting „Europäische Forschung als Europäer über Europäisierung“ benannt. Während ersterem durch die Differenzierung verschiedener Dimensionen von Europäisierung begegnet werden könne, müsse letzteres durch die konsequente Hinterfragung der eigenen Positionierung und Gebundenheit gebannt werden.

Zusammenfassend ermöglichte der Workshop den Teilnehmern eine intensive Auseinandersetzung mit (auch interdisziplinär) unterschiedlichen Bedeutungen und Dimensionen von Europäisierung, die dazu beitrugen, das jeweils eigene Verständnis des Begriffs zu schärfen und darüber hinaus auch die eigene Problemstellung klarer zu fassen.

Konferenzübersicht:

Politikwissenschaft

Simon Musekamp (Trier): Stärkt die Europäische Integration die Exekutive? Europäisierung als Machtinstrument der Regierungen gegen ihre Parlamente

Zeitgeschichte

Marcel Berlinghoff (Heidelberg/Köln): “Suddenly the countries of Western Europe stepped into line…” Europäisierung der Migrationspolitik in den 1970er Jahren

Kulturanthropologie

Annina Lottermann (Frankfurt am Main/Essen): Europäisierung als alltägliche Praxis (am Beispiel von deutsch-polnischen und deutsch-türkischen Städtepartnerschaften)

Wissenschaftspraxis

Christina Bitterberg (Bonn): Europäisierung der Forschungsförderung in den Sozial-, Wirtschafts- und Geisteswissenschaften


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