Zwischen Revolutionsschock und Schulddebatte. Münchner Katholizismus und Protestantismus im 20. Jahrhundert

Zwischen Revolutionsschock und Schulddebatte. Münchner Katholizismus und Protestantismus im 20. Jahrhundert

Organisatoren
Arbeitskreis Katholizismusforschung/Protestantismusforschung, NS-Dokumentationszentrum München; Evangelische Stadtakademie München
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
12.12.2011 -
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Von
Angela Hermann, NS-Dokumentationszentrum München

Der interdisziplinäre und überkonfessionelle Arbeitskreis Katholizismus- und Protestantismusforschung wurde im Mai 2010 von Antonia Leugers angeregt. Die Gründungsdirektorin des NS-Dokumentationszentrums München berief daraufhin im Sommer 2010 die Leitung und die Mitglieder des wissenschaftlichen Arbeitskreises, um Grundlagenforschung für das NS-Dokumentationszentrum zu leisten. Gerade die Positionen der christlichen Konfessionen wurden bei vergleichbaren Ausstellungs- und Dokumentationsprojekten zur NS-Zeit in der Regel vernachlässigt und höchstens im Zusammenhang mit Widerstand und Verfolgung berücksichtigt. Die interessanten Fragen, wie Mitglieder der beiden christlichen Konfessionen die NS-Bewegung in den 1920er-Jahren wahrnahmen, wie sie die „Machtergreifung“ beurteilten, wie sie sich während der NS-Regimephase verhielten und wie sie diese und deren Verbrechen nach 1945 deuteten, werden für den Münchner Raum in diesem Arbeitskreis fokussiert. Dementsprechend stellte der Arbeitskreis auf seiner ersten Tagung eine Auswahl sehr verschiedener und höchst anregender Themen vor.

ANGELA HERMANN (München) ging der Frage nach, wie auswärtige Beobachter und insbesondere die Vertreter fremder Staaten die Revolutions- und Rätezeit und deren Protagonisten 1918/1919 in München wahrnahmen. Dabei stellte sie die Berichte Eugenio Pacellis über das Personal der Revolution erstmals in den Kontext anderer zeitgenössischer Gesandtschaftsberichte aus München. Die protestantischen Vertreter der Staaten Baden (Ludwig von Reck) und Württemberg (Carl Moser von Filseck), die den ersten bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner mehrmals persönlich sprachen, lieferten ihren Außenministerien weitgehend ausgewogene Berichte, in denen sie auch die Beweggründe der neuen Regierung korrekt darzustellen suchten. Andere Diplomaten hingegen, die mit der Revolutionsregierung nicht oder kaum persönlich zu tun hatten, zeichneten ein durch konservative und antisemitische Propaganda verzerrtes Bild der Münchner Verhältnisse. Hierbei stachen die Schilderungen des Apostolischen Nuntius, Eugenio Pacelli, des späteren Papstes Pius XII., mit mehrfachen Verweisen auf die Physiognomie der Protagonisten hervor, die eindeutig und prononciert antisemitische Stereotype aufweisen. Der Befund, die verunglimpfendsten Berichte über die Revolutions- und Räteaktivisten bei Pacelli vorliegen zu haben, sollte Anlass zu weiteren Untersuchungen sein.

In den Mittelpunkt seines Vortrags stellte FLORIAN MAYR (München) fünf Münchner Theaterproduktionen bzw. Aufführungsgeschichten: Hanns Johsts Schlageter (1933), Friedrich Forster-Burggrafs Alle gegen Einen. Einer für Alle (1933), die Luther-Gedenkfeier 1933, Erwin Guido Kolbenheyers Gregor und Heinrich (1934) und Rolf Hochhuths Der Stellvertreter (1963). Die zeitgeschichtliche Relevanz der Katholizismus-/Protestantismusforschung in theatergeschichtlicher Perspektive suchte Mayr an ihnen schlaglichtartig zu erproben und zu erweisen. Hervorzuheben sind die Konkurrenz und Gleichschaltung der christlichen Besucherorganisation „Theatergemeinde München“, die theatrale Selbstinszenierung und der Totenkult der NS-Bewegung bzw. NS-Partei, die Instrumentalisierung der Gestalt Luthers als nationaler Heros, die Kämpfe um die Deutungshoheit über die Reichs- und Papsttumsgeschichte, schließlich das "Dokumentarische Theater" als Forum bzw. Enzym der konfessionellen Aufarbeitungsdebatten. Die von Mayr präsentierten Dokumente (Akten, Programme, Plakate, Zeitungsausschnitte, Bilder) belegten die Vielfalt der zur Verfügung stehenden Quellen und die Möglichkeit einer anschaulichen Vermittlung der Thematik etwa im Rahmen einer dokumentarischen Ausstellung.

EDITH KOLLER (München) widmete sich einer historischen und ikonographischen Analyse antiklerikaler und antisemitischer Karikaturen, vor allem aus den Zeitschriften Simplicissimus, Der Wahre Jakob, Lachen Links, Die Brennessel und Der Stürmer. Dies ermöglichte einen Überblick über die Visualisierung von politischer Kritik und Stereotypen sowie über die Generierung von Feinbildern ab der Mitte des 19. Jahrhunderts bis etwa zum Beginn des Zweiten Weltkriegs. Im Fokus des Vortrags standen Traditionen der gesellschaftlichen und politischen Satire, Veränderungen einzelner Elemente der bildlichen Darstellungen oder deren Kontinuität. Vorgestellt wurden hierfür zunächst zwei verbreitete Typen innerhalb dieses Karikaturenspektrums: der Typus des politisch tätigen Pfarrers und der des „Ostjuden“. Im Anschluss wandte Koller sich dem völkischen und nationalsozialistischen Bild „vom Juden“ sowie von Kirchen und Geistlichen seit der Niederschlagung der Revolution 1918 zu. Anhand der extrem radikalisierten – vor allem antisemitischen – Darstellungen im Stürmer verwies sie auf eine mögliche Form der Verknüpfung beider Feindbilder und konnte hierüber deren ganz unterschiedliche Bedeutung für die NS-Ideologie illustrieren. Der diachrone Vergleich verdeutlichte die lange Tradition der antijüdischen und antisemitischen Bildsprache sowie der gegen Kirche und Klerus gerichteten Satiren. Karikaturen aus der NS-Regimephase zeigen, dass die bestehenden Feindbilder weitergeführt, nun aber – auch bildlich – radikalisiert und im Sinne der NS-Ideologie instrumentalisiert wurden. Auch in der Bildsprache wurde das Feindbild „Judentum“ dem antiklerikalen klar übergeordnet. Der Vortrag und die lebhafte Diskussion unterstrichen, welche Chancen in der Einbeziehung des vorgestellten – bislang für diese Fragestellung kaum beachteten – Quellenkorpus liegen.

AXEL TÖLLNER (Nürnberg) überraschte eingangs mit der Feststellung, bis heute habe der „Bund für Gotterkenntnis“ seinen Sitz in der ehemaligen „Ludendorff-Villa“ in Tutzing. Dieser auf bundesweit etwa 240 Mitglieder zusammengeschrumpfte Verein gehe zurück auf die Ideologie der völkisch-religiösen „Ludendorff-Bewegung“. Während Mathilde Ludendorff sich bereits Anfang des 20. Jahrhunderts von der evangelischen Kirche löste, trat Erich erst 1927 in München unter dem Einfluss seiner zweiten Ehefrau aus. Mathilde hatte eine rassistische und antichristliche Weltschau entwickelt, für die sie Deutungshoheit beanspruchte. Erich trug seine Theorie von einer Verschwörung „überstaatlicher Mächte“ gegen das deutsche Volkstum bei. Der Blick auf einflussreiche Stimmen des Münchner Protestantismus könne keine spezifisch lokalen Stellungnahmen zur „Ludendorff-Bewegung“ nachweisen. Zur Sprache kamen dabei das Evangelische Gemeindeblatt München, das in zahlreichen evangelischen Haushalten gelesen wurde, der deutschnationale Publizist und Theologe Gottfried Straub, bis zum Kirchenaustritt ein Weggefährte Ludendorffs, und die beiden Münchner Pfarrer Heinrich Hauck und Eduard Putz, Autoren zweier maßgeblicher Schriften von 1932/1933. Sie führten Erich Ludendorffs Abwendung vom Protestantismus auf den antichristlichen Einfluss von Mathilde zurück. Sein Beitrag zur Ideologie der „Ludendorffer“ blieb weithin unbeachtet, schöpften seine Verschwörungstheorien doch aus einem Reservoir nationalprotestantischer Ressentiments gegen Katholiken oder Juden. Mit der Kritik an der antichristlichen völkisch-religiösen Ludendorff-Bewegung verknüpfte sich das Werben um eine kirchenfreundliche Linie der NSDAP.

ANTONIA LEUGERS (München/Tübingen) stellte Katholische Kriegsfriedensdiskurse der Münchner Zwischenkriegszeit aus ihrem Forschungsprojekt vor. Den Vortrag rahmten zeitlich die Errichtung zweier Münchner Denkmäler, an denen der mentale Wandel beider Nachkriegszeiten ablesbar sei: vom Gefallenendenkmal (1925) mit dem erhofften Sieg der Besiegten zum Friedensmahnmal eines ehemals dem Sieg geweihten Tores in bundesrepublikanischer Zeit. In der Phase nach dem Ersten Weltkrieg waren unter den Bedingungen des Versailler Friedensvertrages viele Deutsche erfüllt von Hoffnungen auf einen späteren siegreichen Krieg oder gepeinigt von Befürchtungen eines kommenden schrecklicheren Krieges. Wer vom Frieden sprach, tat, als gebe es ihn noch nicht wirklich, als schwiegen die Waffen nur rein äußerlich, als handele es sich um einen Kriegsfrieden. Diese Kriegsfriedensdiskurse waren spannungsgeladen, weil die jeweilige Sprecherseite die Überzeugung eigener Friedensliebe herausstrich, während sie den Grund des noch nicht realisierten Friedens einzig im Gegenüber, dem Adressaten dieser Diskurse, sah und ihm die drohende Kriegsgefahr anlastete. Leugers wählte als Beispiele katholischer Kriegsfriedensdiskurse die beiden Katholikentagsreden Kardinal Faulhabers von 1922 auf dem Münchner Königsplatz und seine Friedensrede beim Gebet um Völkerfrieden 1932 in St. Bonifaz in München. Während Faulhaber 1922 durch seine Eröffnungsansprache den „inländischen Frieden“ mit seinen Angriffen auf die Republik („Meineid“, „Hochverrat“, „Kainsmal“) nachhaltig störte, erschütterte er in seiner Schlussansprache, die dem Weltfriedensthema gewidmet war, die versöhnungsbereiten ausländischen Gäste durch seine Anwürfe. Seine 1932 verkündete, den Frieden fördernde neue „Kriegsmoral“ sah Faulhaber ausgerechnet in den „Friedensreden“ Adolf Hitlers 1933 und in dessen „Großtat der Sicherung des Völkerfriedens“ im September 1938 realisiert. Die Konstruktion dieser „Kriegsmoral“ und die Hervorhebung der hehren Ziele des „Friedenskanzlers“ bargen die Gefahr, im September 1939 wiederum an Hitlers besten Absichten und an seinem gerechtfertigten Handeln nicht zweifeln zu wollen. Der katholische Kriegsfriedensdiskurs Faulhabers war auf fatale Weise an ein Ende gekommen: den Zweiten Weltkrieg.

In seinem Vortrag beleuchtete THOMAS FORSTNER (Berlin) drei zentrale, sich teilweise überlappende Phasen der Auseinandersetzung der katholischen Kirche mit dem Handeln ihrer Protagonisten im Nationalsozialismus. In der ersten Phase, der Idealisierung, die bis in die frühen 1960er-Jahre andauerte, dominierte ein geschönter Blick auf die Vergangenheit. Ihre eigene Rolle im Nationalsozialismus thematisierte die Kirche in dieser Zeit kaum. Im Wesentlichen verstand sie sich als (einzige) Organisation, die dem Nationalsozialismus maßgeblichen Widerstand entgegengebracht habe. Zugleich standen der Gedanke der Versöhnung mit den Tätern und die Zurückweisung kollektiver Schuld im Vordergrund. Ein maßgeblicher Protagonist dieser Zeit war der Münchner Weihbischof Johannes Neuhäusler, der einerseits für die Errichtung eines Sühneklosters auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau verantwortlich zeichnete, andererseits ehemalige Täterkreise im Verein "Stille Hilfe" massiv unterstützte. In der sich anschließenden zweiten Phase kam es gewissermaßen zu einer Ausweitung der bisherigen Strategie. Nun einsetzender öffentlicher Kritik am Handeln bzw. Nichthandeln ihrer Protagonisten während der NS-Zeit begegnete die Kirche mit einer systematischen Monumentalisierung von Konfliktereignissen aus der Zeit des Dritten Reichs. Zur Dokumentation ihres Selbstbildes als Widerstandsorganisation bediente sie sich nun auch wissenschaftlicher Organisationen wie der von der Deutschen Bischofskonferenz finanzierten "Kommission für Zeitgeschichte", die im kirchlichen Auftrag das 1984 erstmals erschienene Werk Priester unter Hitlers Terror herausgab, welches mit seiner Dokumentation aller nur denkbaren Formen von Konfliktereignissen einem entgrenzten Widerstandsbegriff Vorschub leistete. Diese Phase ging unter dem Pontifikat Johannes Pauls II. dessen Märtyrerbegeisterung folgend in die dritte Phase über, die von einer zunehmenden Sakralisierung der Protagonisten geprägt ist. Mit der Konvertitin Edith Stein, die sich ideal als Projektionsfläche der katholischen Opferinszenierung eignete, sicherte sich die katholische Kirche sozusagen einen prominenten Platz unter den Opfern von Auschwitz. Auf lokaler Ebene spiegelte sich dieses Phänomen in der Aufnahme der Konvertitinnen Annemarie und Elfriede Goldschmidt, zweier in Auschwitz ermordeter Jugendlicher, in die Liste der "Blutzeugen der Erzdiözese München und Freising" wider.

Beim Umgang des bayerischen Protestantismus mit der NS-Vergangenheit bestimmen bis heute zwei antagonistische Deutungsmuster die kontroverse Diskussion, so BJÖRN MENSING (Dachau). Auf der einen Seite stehe das Bild von der bayerischen Landeskirche als Hort des Widerstands. Die Kirchenleitung unter Landesbischof Hans Meiser ließ sich dies im Herbst 1945 durch ein Urteil des Kassationshofes bestätigen. Die Kirche war demnach als Sieger aus dem weltanschaulichen Ringen hervorgegangen und hoffte auf eine Rechristianisierung des deutschen Volkes nach dessen „großem Abfall“ von Gott. Diese Deutung blieb von Anfang an nicht unwidersprochen. Besonders Vertreter des radikalen Flügels der Bekennenden Kirche wie Karl Steinbauer, die schon in der NS-Zeit den Kurs der Kirchenleitung als zu angepasst kritisiert hatten, und NS-Verfolgte wie Pfarrer Wolfgang Niederstraßer forderten ein offenes Bekenntnis zum schuldhaften Versagen der Kirche und einen theologischen Neuanfang. Die Kirchenleitung marginalisierte diese unbequemen Protestanten und tat wenig zur Erinnerung an NS-Opfer wie den Kirchenjuristen Friedrich von Praun. Stattdessen trat sie für die rasche Rehabilitierung von früheren Nationalsozialisten ein. Den im Nürnberger Juristen-Prozess zu zehn Jahren Haft verurteilten Wilhelm von Ammon machte die Kirchenleitung 1957 zum Direktor der Landeskirchenstelle. Erst Jahre nach Meisers Tod 1956 rückte man sukzessiv von der apologetischen Deutung des „Kirchenkampfes“ ab, möglichst ohne bei der Benennung der NS-Verstrickungen konkret zu werden: „Plausibilisierung durch Generalisierung“ (Harry Oelke). Wie wenig diese veränderte Geschichtspolitik allerdings in der Breite des lutherisch-konservativen Milieus angekommen ist, so Mensing, zeigten in den letzten Jahren niveaulose Rechtfertigungsversuche in den Debatten um die Umbenennung der Meiser-Straßen und das Fortwirken von rechtsextremem Gedankengut beispielsweise in latent antisemitischer Israelkritik in kirchlichen Kreisen.

Der Fachwelt und der Öffentlichkeit präsentierte der von Antonia Leugers und Björn Mensing geleitete Arbeitskreis eine innovative Tagung, bei der insbesondere die interdisziplinäre und überkonfessionelle Herangehensweise, der kritisch-reflexive Umgang mit erstmals vorgestellten Quellen und die methodische Vielfalt bestachen.

Konferenzübersicht:

Begrüßung und Eröffnung: Jutta Höcht-Stöhr, Leiterin der Evangelischen Stadtakademie München, und Antonia Leugers, Co-Leiterin des Arbeitskreises Katholizismus-/Protestantismusforschung

Angela Hermann (München): Im Visier der Diplomaten: Nuntiatur- und Gesandtschaftsberichte zur Münchner Revolutions- und Rätezeit

Florian Mayr (München/Freising): Zeugen, Päpste, Revoluzzer – Konfessionen im theatralen Diskurs

Edith Koller (München): Karikaturen in der Münchner Presselandschaft: Feindbild Klerus – Feindbild Jude

Axel Töllner (Nürnberg): Erich und Mathilde Ludendorff und die evangelische Kirche

Antonia Leugers (München/Tübingen): Katholische Kriegsfriedensdiskurse der Münchner Zwischenkriegszeit

Thomas Forstner (Berlin): Idealisierung, Monumentalisierung, Sakralisierung – katholische Selbstdeutungen nach 1945

Björn Mensing (Dachau): „Weltanschauliche“ Sieger oder moralisches Versagen? – Evangelische Debatten nach 1945