"Das war mal unsere Heimat ..." Jüdische Geschichte im preußischen Osten

"Das war mal unsere Heimat ..." Jüdische Geschichte im preußischen Osten

Organisatoren
Centrum Studiów Niemieckich i Europejskich im. Willy'ego Brandta Uniwersytetu Wrocławskiego; Deutsches Historisches Museum; Humboldt-Universität zu Berlin, Lehrstuhl Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mit Schwerpunkt im Nationalsozialismus; Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas; Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung; Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum; Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
02.11.2011 - 03.11.2011
Url der Konferenzwebsite
Von
Ulrich Baumann, Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas

Die jüdische Geschichte in den östlichen Gebieten Preußens lag lange im Schatten der Erinnerung. Vertriebenenverbände zeigten wenig Interesse, über ihre einstigen jüdischen Nachbarn zu sprechen, von denen viele nur drei Jahre vor Flucht und Vertreibung der nichtjüdischen Deutschen ermordet worden waren. Die kritische und an der Aufarbeitung des Nationalsozialismus interessierte deutsche Geschichtsschreibung sah hier kein Betätigungsfeld, die Kolleginnen und Kollegen im früheren Ostblock mussten sich dieses erst aneignen. Umso verdienstvoller ist es, dass sich unter Federführung der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung und der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas sieben Einrichtungen entschlossen haben, den neuesten Forschungsstand zur jüdischen Geschichte in Schlesien, Pommern, West- und Ostpreußen, der brandenburgischen Neumark und der Provinz Posen zu präsentieren. Von Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse, der die Tagung im Berliner Centrum Judaicum eröffnete, bekamen ihre Teilnehmer auf den Weg, Anregungen für die Forschung zur deutsch-jüdischen Geschichte insgesamt zu geben und auch die benachbarte polnische Judenheit in die Analysen einzubeziehen.

Die Konferenz begann mit dem Aspekt der Erinnerung – in doppelter Hinsicht. Zum einen wurde von sehr unterschiedlichen Projekten berichtet, die sich mit jüdischer Geschichte bzw. Gegenwart und der Erinnerungsarbeit östlich von Oder und Neiße beschäftigen; MIŁOSŁAWA BORZYSZKOWSKA-SZEWCZYK (Danzig) und CHRISTIAN PLETZING (Sankelmark) bezogen sich auf die Kaschubei, KORNELIA KUROWSKA (Allenstein) auf Allenstein, JANA MECHELHOFF-HEREZI (Berlin) auf das Königsberger Gebiet und MAGDA ABRAHAM-DIEFENBACH sowie KATJA WOLGAST (Frankfurt an der Oder) auf Frankfurt an der Oder und das auf der anderen Flussseite liegende heutige Słubice. Zum anderen ging es um die Erinnerungen einer Zeitzeugin, der 1928 in Breslau geborenen Karla Wolff, die die Deportation der dortigen jüdischen Gemeinde unmittelbar miterlebte. Der beeindruckende Bericht leitete zu den ersten beiden Beiträgen am folgenden Konferenztag über, die sich auf die schlesische Hauptstadt bezogen. Die Literatur- und Kunstwissenschaftlerin ROSWITHA SCHIEB (Borgsdorf) stellte zunächst den "Geist von Breslau" (Leo Baeck) heraus, jenen besonderen Charakter der Gemeinde zwischen Tradition und Haskala, der jüdischen Aufklärung. Doch jenseits dieses Besonderen zeichnete Schieb anhand autobiographischer Texte auch allgemeine Charakteristika des deutschen Judentums in ihrer Breslauer Ausprägung nach. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn Schieb auf die sozialhistorischen Befunde und die Thesen Till van Rahdens eingegangen wäre, der in seinem Buch "Juden und andere Breslauer" das Konzept der situativen Ethnizität entwickelt hat. Um Identitäten ging es auch im Vortrag von KNUT BERGBAUER (Wuppertal). Die drittgrößte jüdische Gemeinde Deutschlands brachte 1912 den ersten Bund der jüdischen Jugendbewegung hervor, den zionistischen "Blau-Weiß", noch während des Ersten Weltkriegs folgte der "Deutsch-jüdische Kameradschaftsbund". Bergbauer zeigte, dass die von den jungen Juden diskutierten Positionen zum Judentum und zum Deutschsein nie statisch waren, sondern sich mit den in Deutschland herrschenden gesellschaftlichen Realitäten verschoben. In den folgenden Referaten widmete sich die Konferenz dann der Peripherie. Diese war im "preußischen Osten" häufig Grenzland, und damit Ort der Auseinandersetzung zwischen Deutschen und polnischen Nachbarn bzw. zwischen deutschen und osteuropäischen Juden. MATHIAS SEITER (Portsmouth) ging es dabei um die Konstruktion eines jüdischen Heimatbegriffs im Osten durch jüdische Lokalhistoriker in der Provinz Posen. Heimat war für sie deutsch definiert, oder, anders gesagt: Die Verbundenheit mit Posen bedeutete die Verbundenheit mit der deutschen Nation. Seiter nahm hier explizit Bezug auf die Arbeiten der amerikanischen Historiker Celia Applegate und Alon Confino, die diese Identitätsbildungsprozesse für das deutsche Kaiserreich herausgearbeitet haben. Nicht um ein Bekenntnis mit der Feder, sondern um den Einsatz für den Verbleib Oberschlesiens beim Deutschen Reich 1920 ging es im Beitrag von PHILIPP J. NIELSEN (New Haven) und in seiner Vignette zu Rudolf Haase, einem jungen Juden, der vermutlich von polnischen Nationalisten erschossen wurde. Die Bollwerkmentalität gegen die östlichen Nachbarn, die christliche und jüdische Deutsche zeitweise einte, war wohl ein Spezifikum der Grenzregionen des preußischen Ostens. Ihr konnten Juden und Jüdinnen im Westen oder Süden Deutschlands sicherlich wenig abgewinnen, wie Stefanie Schüler-Springorum betonte.

Eine ganz andere Blickrichtung auf "Grenzerfahrungen" nahm TOBIAS BRINKMANN (Penn State) ein. Er sprach über Danzig; die "Stadt ohne Land" wurde nach 1920 zum Durchgangsort für tausende jüdische Flüchtlinge, die hier ohne Pässe einreisen konnten. Brinkmann betrachtet Migration nicht von ihrem Ergebnis her, der Niederlassung, sondern sieht auf die 'Reise' und die Reisenden, als Teil eines Projektes zur jüdischen Migration zwischen 1860 und 1950. Im Fall Danzigs war die jüdische Gemeinde mit dem Zustrom überfordert, internationale Akteure kamen ins Spiel. Brinkmann zeigte das Potenzial des Forschungsthemas für übergeordnete Fragen nach Flüchtlingsrechten ebenso auf wie für den engeren Bezug der Tagung: Für einige Jahre begegneten sich in Danzig deutsche und osteuropäische Juden und Jüdinnen und mussten sich miteinander arrangieren. Brinkmanns Vortrag gehörte bereits zur zweiten Sektion der Tagung, die sich den Themen "Antisemitismus, Verfolgung, Vertreibung und Ermordung" widmete. Hier zeigten sich die größten Forschungslücken, denn jenseits der im folgenden Vortrag vorgestellten Ergebnisse von INGO LOOSE (Berlin) über die Region Posen bzw. den späteren Warthegau und einer Analyse eines biographischen Textes eines ostpreußischen Juden durch AVNER OFRAT (Berlin) existieren zur Zeit offenbar kaum vielversprechende Projekte zum Alltag der Juden im preußischen Osten unter nationalsozialistischer Herrschaft. So blieb, über das gewaltsame Ende des jüdischen Lebens in diesen Gebieten des Deutschen Reiches zu sprechen. Der Experte ALFRED GOTTWALDT (Berlin) beschrieb in einer Fallstudie die Deportationen aus einer Region, hier: Ostpreußen.

Die dritte Sektion widmete sich den unmittelbaren Nachkriegsjahren. In Stettin und Niederschlesien, das machten ACHIM WÖRN (Würzburg) und HELGA HIRSCH (Berlin) deutlich, erstand das jüdische Leben – allerdings ein gänzlich anderes – wieder, sogar in bisher ungekanntem Ausmaß. Zwischen den noch anwesenden Deutschen und bereits umgesiedelten christlichen bzw. nichtjüdischen Polen ließen sich zehntausende polnisch-jüdische Holocaustüberlebende nieder und bekamen von der polnischen Regierung zunächst Autonomierechte zugesprochen, dann aberkannt. Schon nach den Pogromen von Kielce 1946 wanderten die Neusiedler massenhaft aus. Vor allem Helga Hirsch gelang es, eine Brücke zu den bisherigen Konferenzthemen zu schlagen, indem sie auch das kurze und prekäre Zusammenleben deutscher und polnischer Juden auf schlesischem Boden beleuchtete. Im Mittelpunkt ihrer Ausführungen standen dessen Schattenseiten, das nicht gewaltlose Miteinander von Deutschen und Polen. Wie ein Diskutant bedauerte, kreiste ihre Erzählung ausschließlich um die 'Geschichte einer Ausreise' (der jüdischen Bevölkerung).

Mit den Ausreisebewegungen der letzten deutschen und der gerade erst angekommenen polnischen Juden endete ein vielfältiges jüdisches Leben in diesen Regionen. Was blieb, ist die Erinnerung. MAXIMILIAN EIDEN (Görlitz) zeigte an den Mitteilungen des Vereins ehemaliger Breslauer in Israel, wie sich emigrierte Juden und Jüdinnen an den Ort ihrer Jugend erinnerten: anders als die nichtjüdischen Heimatvertriebenen. So sei in den israelischen Mitteilungen im Gegensatz zu den zahlreichen Heimatblättern der Vertriebenenverbände wenig von Dingen, sondern mehr von Menschen die Rede gewesen. Das Vereinsblatt musste im Oktober 2011 eingestellt werden. Was bleiben wird, ist die Aufgabe, die deutsch-jüdische Geschichte im preußischen Osten zu vermitteln. STEPHANIE ZLOCH (Braunschweig) präsentierte erste Ansätze für neuartige Unterrichtsinhalte, die sich unter anderem nach dem Leitprinzip der Multiperspektivität an exemplarischen Biografien orientiert; im Falle Ostpreußens an dem Architekten Erich Mendelsohn und der Philosophin Hannah Arendt.

Die abschließende Diskussion bündelte vor allem die Desiderate. So fehle eine Gesellschaftsgeschichte der benannten Regionen für die Zeit nach 1933. Die Voraussetzungen für ihre Ausarbeitung sind freilich andere als für andere Landschaften, die zum Deutschen Reich gehörten. Das symbolische "Grabe, wo stehst" der deutschen "Geschichte von unten"-Bewegung bezog sich auf die Regionen zwischen Flensburg und Berchtesgaden, später auch zwischen Schwerin und Görlitz, naturgemäß jedoch nie auf Schlesien oder Ostpreußen. Dort 'standen' die (deutschen) Akteure nicht, und dementsprechend fehlten die lokalen Konflikte zwischen den Generationen über den Umgang mit dem Nationalsozialismus, die diese Bewegung zu Beginn anfeuerten. Jenseits von Oder und Neiße greift die neuere Forschung diese Fragen jedoch auf. Darin und im Fehlen identitätsstiftender Ansätze seitens der jüngeren deutschen Wissenschaftler/innen liegen aber auch eine Chance und die Modernität (Michael Wildt) der wissenschaftlichen Untersuchungen zur Geschichte des preußischen Ostens, auch seiner jüdischen Geschichte. Die Tagung war eine außerordentlich wichtige Bestandsaufnahme und ein gelungenes Beispiel dafür, wie ertragreich es für die Geschichtsschreibung zu deutschen Juden und Jüdinnen sein kann, die regionalen Aspekte des preußischen Ostens einzubeziehen.

Konferenzübersicht:

Begrüßung
Hermann Simon (Direktor Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum)

Grußwort
Wolfgang Thierse (Vizepräsident des Deutschen Bundestages)

Schlaglichter deutsch-jüdischer Geschichte. Auf der Suche in Polen und der Russischen Föderation

Miłosława Borzyszkowska-Szewczyk (Instytut Kaszubski Gdańsk)/Christian Pietzing (Academia Baltica Sankelmark): Die Sprache der Steine lesen. Jüdische Spuren in Danzig und der Kaschubei

Kornelia Kurowska (Stowarzyszenie Wspólnota Kulturowa "Borussia" Olsztyn): Wiederentdeckung des jüdischen Allensteins – Erich Mendelsohn und das Projekt "Bet Tahara" der Kulturgemeinschaft "Borussia"

Jana Mechelhoff-Herezi (Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas Berlin): Zweifach vergessen – Bruchstücke und Gedenken im russischen Königsberger Gebiet

Magda Abraham-Diefenbach/Katja Wolgast (Institut für angewandte Geschichte Frankfurt/Oder): Der jüdische Friedhof Frankfurt/Oder in Słubice – zwischen Vergessen und Erinnern an der deutsch-polnischen Grenze

Zeitzeugengespräch
Karla Wolff (*1928) im Gespräch mit Ingo Loose

Schlusswort
Andreas Kossert (Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung Berlin)

Begrüßung
Alexander Koch (Präsident Stiftung Deutsches Historisches Museum Berlin)

Manfred Kittel (Direktor Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung Berlin)

Sektion I Jüdisches Leben und jüdischer Alltag
Moderation: Stefanie Schüler-Springorum (Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin)

Roswitha Schieb (Borgsdorf): Juden in Breslau zwischen Assimilation, Wahrung der Tradition und Überassimilation

Knut Bergbauer (Bergische Universität Wuppertal): Jüdische Jugendbewegung in Breslau 1912-1938

Mathias Seiter (University of Portsmouth): Die Konstruktion jüdischer Heimat im Osten: Regionale Geschichtsforschung und deutsch-jüdische Identität

Philipp J. Nielsen (Yale University): Der Schlesische Schlageter – Jüdische Deutsche und die Verteidigung ihrer Heimat im Osten

Sektion II Antisemitismus, Verfolgung, Vertreibung, Ermordung
Moderation: Hermann Simon (Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum)

Tobias Brinkmann (Penn State University): Stadt ohne Land: Einheimische und 'heimatlose' Juden in der Freien Stadt Danzig 1918 -1939

Avner Ofrath (Freie Universität Berlin): From East Prussia to Palestine: The Reminiscences of Gideon Cohen - Breach, Emigration and Reflections on the Past

Ingo Loose (Institut für Zeitgeschichte München-Berlin): Jüdisches Leben im ethnischen Grenzgebiet – von der Provinz Posen zum 'Reichsgau Wartheland'

Alfred Gottwaldt (Deutsches Technikmuseum Berlin): Die Deportation der ostpreußischen Juden

Sektion III Jüdische Geschichte nach 1945 – Verlust und Erinnerung
Moderation: Uwe Neumärker (Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas)

Achim Wörn (Universität Würzburg): Die jüdische Bevölkerung in Stettin in den Jahren 1945 -1950

Helga Hirsch (Berlin): Deutsche und polnische Juden in Niederschlesien 1945-1957

Maximilian Eiden (Schlesisches Museum zu Görlitz): Breslauer jüdisches Leben und Gedenken nach 1945 in Israel

Stephanie Zloch (Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung, Braunschweig): Jüdische Geschichte in Ostpreußen als Thema im Schulunterricht

Abschlussdiskussion
Forschungsstand und Forschungsperspektiven - eine vorläufige Bilanz
Andreas Kossert, Uwe Neumärker, Stefanie Schüler-Springorum, Michael Wildt (Humboldt-Universität zu Berlin, Moderation)


Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Klassifikation
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts