Verflochtenes Europa. Netzwerke und europäischer Raum 1800-2000

Verflochtenes Europa. Netzwerke und europäischer Raum 1800-2000

Organisatoren
Michael Auer/Pascal Schillings, Zentrum für vergleichende Europäische Studien (ZEUS), Universität zu Köln
Ort
Köln
Land
Deutschland
Vom - Bis
27.01.2012 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Roland Cvetkovski, Historisches Institut, Universität zu Köln

Gerade in den letzten Jahren ist in der Forschung gleichsam ein Boom in der Verwendung von Netzwerkmetaphern zu verzeichnen. Statische, mehr an Containermodellen angelehnte Konzeptionen sind allmählich einem flexiblen, nationale und institutionelle Grenzen überschreitenden Verständnis von Kooperationen gewichen. Sie entwarfen dabei einen eher theoretischen Handlungsbegriff, der sich nun nicht mehr ausschließlich über die einzelnen persönlichen Akteure, sondern auch über das Netzwerk als zirkulierende und pulsierende Praxis definierte, die von einer Vielzahl von Faktoren abhängig war. Netzwerke greifen räumlich, materiell wie geistig aus, verbinden, lösen und erzeugen dabei immer wieder Strukturen, die sie jenseits von herkömmlichen politischen oder kulturellen Begrenzungen offenbar als ein sich selbst regulierendes System ausweisen. Der von Pascal Schillings (Köln) und Michael Auer (Bonn) im Rahmen des Zentrums für vergleichende Europäische Studien (ZEUS) in Köln veranstaltete Workshop erkundete nun die möglichen Bedeutungen von Netzwerken und ihre Operationalisierungen. Einerseits ging es darum, diese Denk- und Handlungsfigur in den unterschiedlichen Disziplinen zunächst sichtbar zu machen, um sie dann vor dem europäischen Hintergrund insbesondere auf ihre räumliche wie auch dynamische Dimension hin zu befragen.

Einleitend gab WOLFRAM NITSCH (Köln) eine Genealogie des Begriffs: Bezeichnete das Netzwerk im 19. Jahrhundert ein technisches und zuweilen auch technologisches Konzept, das in erster Linie den Ausbau materieller Infrastrukturen beschrieb, weitete vor allem die amerikanische Sozialwissenschaft in den 1930er-Jahren dessen Verständnis dahingehend, nun auch die sozialen Phänomene mit einzuschließen. Das Errichten flacher Hierarchien in den Managementstrukturen, das seit den 1970er-Jahren in den Betrieben immer öfter eingefordert wurde, und deren Umschreibung mit Netzmetaphern zeige an, dass dieser Begriff nun auch außerhalb der akademischen Welt eine unübersehbare Wirkung entfaltet hatte. Gleichzeitig aber kümmerten sich auch die Gesellschaftswissenschaften wieder um dieses Thema, was in der Akteur-Netzwerk-Theorie, wie sie von Bruno Latour am prominentesten vertreten wird, wohl ihren bedeutendsten Niederschlag fand. Seine These, nicht nur Menschen, sondern auch die mit ihnen verbundenen Dinge in ein Netzwerk wirksamer Aktanten einzubeziehen, werde gerade in letzter Zeit wieder verstärkt diskutiert. Das Internet schließlich mache die theoretische wie praktische Allgegenwart des Netzgedankens manifest. Der Ruf nach der Vernetzung nicht zuletzt der einzelnen Wissenschaftsdisziplinen erscheine dabei geradezu als ein logischer Imperativ, denn nur in einer solchen Entsprechung könnten die Grundbedingungen der modernen Welt auch wissenschaftlich angemessen beschrieben werden.

Mit infrastrukturellen, ökonomischen und ökologischen Netzwerken setzte sich ERIK VAN DER VLEUTEN (Eindhoven) auseinander. Die Ursachen, die Europa in diesen Bereichen gleichsam als „hidden integration“ miteinander vernetzen, stimmen nicht immer mit denen überein, die man bei den europäischen Vertretern in Brüssel antreffe, denen es vor allem um die Gewährleistung einer politischen Union gehe. Bei der Ausbildung solcher europäischer Netzwerke seien nun jenseits der politischen Rahmenbedingungen vor allem zwei theoretische Prämissen bedeutsam: zum einen der Fokus auf sogenannte „system builders“, also auf eine Gruppe historischer Akteure, die Netzwerke auf eine bestimmte Weise konzipieren, interpretieren und aushandeln, wodurch sie schließlich die Umsetzung spezifischer Infrastrukturen anstoßen; zum anderen aber lasse sich Europa selbst nicht als feststehende Entität voraussetzen, sondern müsse umgekehrt über Netzwerkanalysen wenn nicht hergestellt, so doch zumindest in seinen Umrissen und Bedeutungsinhalten genauer bestimmt werden. An den konkreten Beispielen des Strom-, Nahrungsmittel- und ökologischen Netzwerks verwies van der Vleuten auf die Schwierigkeiten und den Komplexitätsgrad, die sich aus einer solchen Analyse ergeben, da die verschiedenen Vernetzungsprozesse auf unterschiedlichen Ebenen – regionalen, urbanen, mesoregionalen, nationalen, paneuropäischen oder sogar auch transatlantischen – ablaufen und zumeist auch gleichzeitig auftreten können. Neben der Vielschichtigkeit und der jeweils historischen Bedingtheit der ausgebildeten Netzwerke zeige sich hierbei vor allem, dass die übergreifenden Prozesse immer zugleich auch Fragmentarisierungen – „multiple geographies“ – nach sich ziehen.

Historisch konkret und empirisch satt zeigte sich das erste Panel, das sich mit der Polarforschung befasste; dem Nordpol hatte sich dabei der Beitrag von ALEXANDER KRAUS (Münster) verschrieben. Waren die arktischen Expeditionen bislang eher durch heroisch-nationale, aber auch praktische wie auch kommerzielle Überlegungen motiviert, so plädierte der in habsburgischen Diensten stehende Marineoffizier und Geophysiker Carl Weyprecht 1875 erstmals für die rein wissenschaftliche Erforschung des Nordpols, die den nationalen Wettlauf endgültig hinter sich lassen sollte. Er versprach sich davon tiefere Einblicke in global wirksame meteorologische, geomagnetische und meereskundliche Zusammenhänge, die er ursächlich in der Arktis verortete. Das wissenschaftliche Netzwerk, das Weyprecht hierzu errichtete, war beträchtlich und führte bereits 1879 zur Bildung der ersten Polarkommission, die die weitere Koordinierung dieses Netzwerkes vornahm. Zusammen mit dem Kunstmäzen Johann Nepomuk Graf Wilczek organisierte er eine internationale, am Ende aus elf Nationen bestehende Expeditionskooperation, die nach der Ausrufung des Polarjahres 1882/83 mit simultanen Messungen die Geheimnisse des ewigen Eises lüften sollte. Das Ergebnis allerdings ließ zu wünschen übrig. Nicht nur fiel die öffentliche Resonanz auf die konzertierte Eroberung des Nordpols eher verhalten aus, was nicht zuletzt an einer fehlenden Synopse der wissenschaftlichen Ergebnisse lag, sondern die Art der Kooperation an und für sich wurde in Zweifel gezogen: Die Frage nach den wissenschaftlichen Standards, welche die Untersuchungen hätten vereinheitlichen sollen, war ungelöst geblieben, wie auch die Unmenge an Einzelberichten keine neue umfassende Theorie hervorgebracht hatte, was das eigentliche Ziel dieses Netzwerkes gewesen war. Zwar waren die einzelnen Expeditionen synchron aufeinander abgestimmt, griffen „mechanisch“ ineinander, doch brachte diese Kooperation offenbar keine neuen Ideen hervor. Das Netzwerk hatte hier, so Kraus, seinen kreativen Dienst verweigert und war zu einem bloßen Uhrwerk verkommen.

Auch der Südpol hatte eine mindestens ebenso hohe Aufmerksamkeit auf sich gezogen und war in seiner Erforschung an ähnliche Grundbedingungen geknüpft, wie sie für die Arktis zuvor anzutreffen waren. Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts scheint sich hier allerdings ein Paradigmenwechsel vollzogen zu haben: Das alte Muster einer geografisch bestimmten Expeditionskultur, die geprägt war von einer männlichen, national durchsetzten und heldenhaft-dramatischen Erzählung, wurde nun, wie PASCAL SCHILLINGS (Köln) darlegte, langsam überdeckt von einer „wissenschaftlichen Explorationskultur“, die nun aus zumindest zweierlei Gründen auf Kooperation angewiesen war: Zum einen benötigte man jede Polarexpertise, um diesen letzten weißen Fleck tatsächlich von der Landkarte zu tilgen, zum anderen machten die extremen klimatischen Umstände eine Zusammenarbeit unausweichlich. Verflechtungen lassen sich hier auf mindestens drei Ebenen nachzeichnen. Erstens bildeten sich sogenannte „Expeditionsnetzwerke“ aus, wie sich etwa an der Ausrüstung der Exepditionsteilnehmer ablesen lässt, die nach Kriterien der Qualität, der Verfügbarkeit, aber auch nach finanziellen Aspekten zusammengestellt wurde: So spannte man sibirische Polarhunde vor norwegische Schlitten, bepackte Maultiere aus dem Himalaya und ernährte sich unter anderem mit deutschen Fertigsuppen. Ganz im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie arbeiteten all diese Menschen, Tiere und Dinge gemeinsam als „Akteure“ an der Erforschung des Südpols. Um eine solche Zusammenstellung zu ermöglichen, waren – dies die zweite Ebene – „makrotechnologische Netzwerke“ notwendig. Eine globale Infrastruktur – die sibirischen Polarhunde wurden etwa von einem deutschen Dampfer über Hong Kong nach Australien verschifft – war die Grundvoraussetzung, die den Gedanken an ein Expeditionsnetzwerk (und dessen nachfolgende Umsetzung) überhaupt erst erlaubte. Und schließlich legten sich drittens „Wissensnetzwerke“ über den Antarktiskomplex, bei dem sich insbesondere die geografischen Gesellschaften hervortaten. Sie pflegten zwar nach wie vor ihre nationalen Rhetoriken, waren aber unweigerlich auf das transnational generierte Wissen angewiesen und verbreiteten es zugleich durch ihren wissenschaftlichen Auftrag. Netzwerke, so Schillings, waren für die Erforschung der Antarktis geradezu paradigmatisch, wie sich dies auch an weiteren Verflechtungsebenen etwa im Bereich der Politik (Flottenausbau) oder im kommerziellen Sektor (Walfang) festmachen lasse.

Das zweite Panel näherte sich nun aus literaturwissenschaftlicher Perspektive der Netzwerkfigur. Dem europäischen Phänomen des Philhellenismus in den 1820er- und 1830er-Jahren widmete sich dabei CLAUDE D. CONTER (Mersch/Luxemburg). War die griechische Rebellion gegen das Osmanische Reich zunächst eine ernste politische Bewährungsprobe für die restaurative Friedensordnung, die 1815 für Europa beschlossen worden war, so drohte von den zahlreichen Unterstützern des griechischen Aufstandes scheinbar noch größere Gefahr: Zeitgleich war eine philhellenische Bewegung entstanden, die sich nicht nur in etlichen Klubs organisierte, sondern sich überdies europäisch vernetzte. Den Ordnungshütern der Restauration erschien die Agilität der Philhellenen nicht nur bedenklich, sondern man stellte sie sogar unter den Generalverdacht, eine internationale Verschwörung anzuzetteln. Dies hatte auch durchaus einen handfesten Grund, betrafen doch die grenzüberschreitenden Kooperationen der Philhellenenfreunde den generellen Nachrichtenaustausch, die Beschaffung finanzieller Mittel für die Aufständischen oder aber auch den Druck und die Verbreitung von Pamphleten. Die Netzwerkarbeit dieser Vereine war in den 1820er-Jahren immens, und das Thema fand auch in der zeitgenössischen Literatur seinen Niederschlag. Aber nicht nur der Philhellenismus, sondern das Netzwerk selbst wurde zum Gegenstand literarischen Schaffens und führte zu seiner kulturellen Verfestigung. Zum einen zeichnete die Literatur eine Diplomatenfigur, die sich über ein Netz von geheimen Verbindungen konstituierte und sich darüber – gleichsam im Untergrund – verständigte. Zum anderen entwarf sie im Gegenzug den Revolutionär, der gegen das Arkanum der Diplomatie ankämpfte und es nach außen in die Öffentlichkeit kehrte. Die Dichtung hatte offensichtlich die Funktion übernommen, das zu entbergen, was die Politik wissentlich verbarg. Die Netzwerkfigur, so Conter, war dabei auf mehreren Ebenen wirksam: Euphemistisch beschrieb sie etwa als „Spinnennetz“ die Fäden, die bei wenigen, das politische Klima der Restaurationszeit maßgeblich prägenden Entscheidungsträgern zusammenliefen. Genauso konnte sie aber auch, wie im Fall der philhellenischen Vereine, als „politisches Abstraktum“ wahrgenommen werden und durch ihre europaweite Verflechtung als eine bedrohliche, die politische Ordnung gefährdende Organisationsform erscheinen. Und schließlich war das Netzwerk auf beiden Seiten in übergeordnete Rhetoriken der Solidaritätsbekundungen eingelassen.

Abschließend stellte MICHAEL AUER (Bonn) Jacques Derridas 1991 erschienene Abhandlung über Geopolitik und Eurozentrismus L’autre cap vor, wartete aber mit einer Lesart auf, die den Text auf ein explizit mediales europäisches Netzwerk hin fluchtete. Das Missfallen Derridas am ausschließlichen Kulturanspruch Europas entzündete sich unter sprachlich-medialen Aspekten an dem von Pierre Bourdieu 1990 initiierten Zeitschriftenprojekt liber, das eine Kooperation von mehreren europäischen Zeitungen vorsah, die in regelmäßigen Abständen Texte wichtiger europäischer Intellektueller in der jeweiligen Landessprache abdruckten. Derrida indes, der in diesem Zusammenhang abfällig von einer „Übersetzungszentrale“ sprach und dabei den hegemonialen Charakter der einzelnen Sprachen, in die die Texte übertragen worden waren, im Sinn hatte, schien diesem Gleichklang lieber eine „Kakophonie“ Europas vorzuziehen. Die Aufgabe der europäischen Intellektuellen bestand seiner Ansicht nach darin, gerade gegen eine Metasprache anzugehen, um sich dafür auf die eigene zurückzuziehen. Teletechnologien, vor allem das Telefon, als unmittelbare, aber vor allem als subversive Medien spielten für ihn dabei eine große Rolle, die Heterogenität und damit die Gleichwertigkeit der Sprachen zum Ausdruck zu bringen. Das Netzwerk, das sich über diese Teletechnologie konstituieren ließ, ermöglichte nicht nur eine Zirkulation, sondern in erster Linie eine synchrone Performanz der Vielstimmigkeit. Weniger Inhalte als „Phone“, so Auer, rückten nun ins erste Glied bei der Zusammensetzung eines „polyglotten europäischen Kontextes“. Für Derrida war dieses mediale Netzwerk vor allem wegen seiner Dissonanz der unmittelbare Ausdruck eines dezentral und – im Idealfall – enthierarchisiert organisierten Europa.

Angesichts ihrer unterschiedlichen Einfassungen, aber auch aufgrund ihrer nicht eindeutig messbaren, geradezu unterirdischen Nachhaltigkeit entziehen sich Netzwerke offenbar klaren räumlichen, aber auch exakt funktionalen Definitionen; der jeweils spezifische Umgang der am Workshop beteiligten Disziplinen zeigte die unbedingte Flexibilität dieser Denkfigur. Auch wenn Netzwerke offensichtlich einzig innerhalb von Netzen denkbar sind, bleiben, um sie überhaupt sichtbar und heuristisch nutzbar zu machen, zumindest zwei Problemkomplexe zentral, die unausweichlich einer Außenperspektive bedürfen: zum einen die Frage danach, wo genau die Grenzen eines Netzwerks verlaufen und wie diese abbildbar sind, und zum anderen, wie Netzwerke mit Wandel umgehen und wie dieser sich darin manifestiert. Dass sich die Erklärung und Definition von Netzwerken nicht eindeutig einem Fachgebiet zuschlagen lässt, ist einer der wichtigen Erträge dieses Workshops. Denkt man jedoch entlang der unterschiedlichen Verwendungen des Begriffes „Netzwerk“, der zumeist als historisches Phänomen wie auch als Metapher aufscheint, dürfte aber für die Forschung die Einsicht ungleich wichtiger sein, das Netzwerk zusätzlich als Erkenntnismedium nutzen zu müssen, und das heißt, eine angemessene Außenperspektive gerade dadurch herzustellen, indem der Begriff auf die Forschungssituation selbst angewendet wird. Eine Herausforderung, der man sich weiterhin stellen sollte.

Konferenzübersicht:

Begrüßung
Wolfram Nitsch (Köln): Einführung

Transport- und Infrastrukturnetzwerke, 1900–2000

Erik van der Vleuten (Eindhoven): Transnational System Building. Modern Europe’s Infrastructure, Economic and Ecological Networks

Panel 1: Polare Wissensnetzwerke um 1900

Alexander Kraus (Münster): Vom Netzwerk zum Uhrwerk. Wissenschaftskooperationen im Kontext des 1. Internationalen Polarjahres 1882/83

Pascal Schillings (Köln): Expeditions- und Wissensnetzwerke der europäischen Antarktisexpedition um 1900

Panel 2: Netzwerke politischer Bewegungen, 1800-2000

Claude D. Conter (Mersch/Luxemburg): „Tausende von glühenden Griechenfreunden aus allen Teilen Europas.“ Philhellenische Solidarität – ein literarischer Mythos?

Michael Auer (Bonn): Netzwerktechnik und Europaidee. Derridas „L’autre cap“