Im Netz des Positivismus? Vom Nutzen und Nachteil des Internets für die historische Erkenntnis

Im Netz des Positivismus? Vom Nutzen und Nachteil des Internets für die historische Erkenntnis

Organisatoren
Universität Hamburg, Historisches Seminar
Ort
Hamburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
12.02.2004 - 14.02.2004
Url der Konferenzwebsite
Von
Marion Webers, Redaktion Zeitgeschichte-online, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Vom 12. bis zum 14. Februar 2004 veranstaltete das Historische Seminar der Universität Hamburg eine Tagung mit dem Titel „Im Netz des Positivismus? Vom Nutzen und Nachteil des Internets für die historische Erkenntnis“.1 Angelika Epple und Angelika Schaser führten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen verschiedener Disziplinen in den ehrwürdigen Räumen der ehemaligen Aby-Warburg-Bibliothek zusammen, um die Bedeutung der digitalen Revolution für die Verbreitung von Wissen zu diskutieren sowie Fragen der neuen Ordnung historischer Quellen und deren Deutung für die Geschichtsschreibung nachzugehen. Der Ort, dem Thema der Tagung angemessen, beherbergte einst das umfangreiche Material für einen von Warburg geplanten Bilderatlas, in dem er die Bezüge zwischen Antike und Renaissance vor Augen führen wollte. „Mnemosyne“ sollte diese Datenbank vor dem Zeitalter von Bits und Bytes heißen, wie die Göttin der Erinnerung. Warburgs Sammlung ist inzwischen digitalisiert und als eine der umfangreichsten Datenbanken unter dem Namen „Census“ im Netz verfügbar (http://www.census.de).

Nach der Begrüßung durch Holger Fischer, den Vizepräsidenten der Universität, und die beiden Veranstalterinnen eröffnete die Informatikerin Christiane Floyd (Hamburg) die Tagung mit dem Vortrag „Esse est percipi? – To be is to be accessed!“ Sie versuchte das Zitat des englischen Philosophen Berkeley („esse est percipi – to be is to be perceived“) in die Sprache des Informationszeitalters zu übersetzen und stellte fest, dass sich die Veränderungen durch die Informationstechnik auch in der Sprache niedergeschlagen haben. Das früher im Englischen nur als Nomen vorkommende Wort „access“ ist inzwischen als transitives Verb der Fachbegriff für das Zugreifen auf technisch gespeicherte Daten geworden. Diese sprachliche Wandlung sei auch in der Veränderung der Seinsweise von Texten, Bilder und anderen Materialien festzustellen – so eine Kernthese ihres Vortrags. Das neue Medium schaffe neue Bedingungen für die wissenschaftliche Arbeit, denn es erfordere einen technischen und ökonomischen Zugang zum Netz sowie Kompetenz im Umgang mit den Technologien.

Im ersten Vortrag der Sektion „Historisches Wissen und seine Bilder“, moderiert von Martina Kessel (Bielefeld), ging Peter Haber (Basel) unter anderem der Frage der Strukturierung von Wissen nach. Er berichtete über seine Erfahrungen mit dem Projekt „History Toolbox“ zur Erschließung von Online-Ressourcen zur Schweizer Geschichte, das er zusammen mit Studenten am Historischen Seminar in Basel durchgeführt hat (http://www.hist.net/htb). Mit dem Begriff „Cyberscience“ stellte Haber heraus, dass sich wissenschaftliches Arbeiten unter den Vorzeichen vernetzter und digitalisierter Medien nicht nur bei der Recherche, sondern auch beim Kommunizieren und Publizieren verändert hat. Er forderte deshalb, das Thema Medienkompetenz sehr viel stärker in die universitäre Ausbildung einzubeziehen.

Der reich bebilderte Vortrag des Literaturwissenschaftlers und Journalisten Jens Sennewald (Paris) ging Seefahrts-Metaphern nach – Begriffen wie „Explorer“, „Navigator“, „Datenflut“ und „Surfen“, die im virtuellen Netz benutzt werden, um Techniken und Funktionen zu beschreiben. Das „Bild des Ozeans“ ist laut Sennewald „symbolgeschichtlich verbunden mit Vorstellungen von Untergang ebenso wie mit solchen der Wiedergeburt“. So verändere sich das „Meer des Wissens“ zu einer „ambivalenten Figur zwischen Bildungsverfall und Verheißung auf Neuanfang“. Sennewald riet zu einer Reise durch das Wissensmeer, „die keine Häfen kennt, nur neue Abenteuer“.

Annette Vowinckel (Berlin) beschäftigte sich mit der Bildersuche im Netz. Zahlreiche Suchmaschinen bieten mit ihren speziellen Funktionen meist den ersten und einfachsten Zugriff auf gewünschte Informationen. Hofft man mit der Eingabe „David“ allerdings gleich die Skulptur von Michelangelo zu finden, so muss man sich erst einmal enttäuscht durch zahlreiche Seiten mit Schnappschüssen von Personen namens David klicken, bevor man auf das berühmte Renaissancekunstwerk stößt. Dies liegt nicht zwingend an der Suchstrategie, sondern an der spezifischen Struktur des WWW: Gefunden werden kann nur, was irgendwann einmal von jemandem eingegeben wurde – und vor allem, was von Suchmaschinen registriert oder auf spezialisierten Portalen zugänglich gemacht worden ist. Eine zweite Widrigkeit liegt in der schlechten Qualität der Bilder: Um schnelle Ladezeiten im Netz zu ermöglichen, sind die Abbildungen meist sehr klein und mit einer sehr geringen Auflösung eingescannt. Teilweise haben Bilder im Netz nichts mehr mit dem Original zu tun. Hier schafft jedoch die zunehmende Zahl von Online-Bildarchiven und Online-Museen Abhilfe. Wie bereits ihr Vorredner ermunterte Vowinckel zu einem Abtauchen in die Bilderfluten, jedoch nicht ohne den spezifischen quellenkritischen Blick zu verlieren.

Der Nachmittag stand unter dem Thema „Konstruktionen des Netzes“ und wurde von Angelika Schaser geleitet. Die Soziologin Christiane Funcken (Berlin) begann mit einem Vortrag zur Inszenierung der Geschlechter im WWW. Als erstes Medium biete das Internet die Möglichkeit, anonym und körperlos zu kommunizieren und völlig neue Formen der Geschlechterdarstellung auszuprobieren. Funcken hat dafür unter anderem das Verhalten von Chatbesuchern analysiert. Sie stellte fest, dass die Kommunikation ohne Geschlechterzuordnung offensichtlich nicht möglich ist und dass die fehlende körperliche Präsenz durch sogenannte Emoticons ersetzt wird. „Das Spiel der Geschlechter“, so Funcken, „bleibt im sozial anerkannten Kontext eingebettet und bleibt Garant für die soziale Ordnung.“

Angelika Epple sah in der Online-Historiographie einen Gegenentwurf zur linearen historistischen Geschichtsschreibung des auktorialen Erzählens. Die neuen Möglichkeiten zur individuellen und assoziativen Informationssuche bergen jedoch die Gefahr, sich im unendlichen Netz zu verlieren. Studenten und Studentinnen ihres Seminars stellten ein Internetprojekt zur Tätigkeit von Mercedes Benz in Südafrika vor. Bei ihren Vorrecherchen waren sie immer wieder auf Seiten gestoßen, die entweder von der Industrie oder von Hobbyhistorikern erstellt worden sind, aber als wissenschaftliche Geschichtsschreibung wahrgenommen werden. Christoph Conrad (Genf) wies auf die zunehmende Kommerzialisierung der Wissensbeschaffung hin. Die meist sehr teuren Zugänge zu den unverzichtbaren Datenbanken könnten sich immer weniger Institutionen leisten. Mit einer empirischen Erhebung über Zitationsindices zeigte Conrad die Möglichkeiten für die Histographiegeschichte auf und wollte den Blick dafür schärfen, dass Zugriffshäufigkeit nicht unbedingt ein Maß für die Vollständigkeit von Quellen ist.

Durch das Thema des zweiten Tages, „Utopien des Netzes“, führte Gudrun Gersmann (Aachen). Christoph Schäfer (Hamburg) stellte eine DVD zu Pompeji vor, die mit Studenten produziert worden ist, und zeigte die für ihn faszinierenden Chancen auf, Alte Geschichte bzw. die Geisteswissenschaften insgesamt einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Stephanie Marra (Dortmund) konstatierte, dass die Zahl der Geschichtsangebote, die wissenschaftlich fundierte Informationen ins Netz stellen, in den letzten Jahren stark gestiegen sei. Daneben wies sie aber auf die bedenkliche Tendenz hin, dass sich kommerzielle Anbieter oder Hobbyhistoriker prominente Domains gekauft haben, um dort populäre oder zum Teil auch radikale Geschichtsauffassungen zu veröffentlichen. Rüdiger Hohls (Berlin) referierte über internetgestützte Informationsdienste für die Fachkommunikation und brachte Beispiele aus seiner Arbeit für „H-Soz-u-Kult“ und „Clio-online“. Für Hohls sind das Buch und die gedruckte Zeitschrift nach wie vor die zentralen Medien der wissenschaftlichen Kommunikation in den Geisteswissenschaften. Die Nachfrage nach Informationen via Netz sei groß, doch fehle es an einer zahlungswilligen Klientel zur Pflege und Weiterentwicklung. Beiträge aus dem Auditorium wiesen darauf hin, dass sich bestimmte Informationen wie Quellenpublikationen oder Rezensionen im Netz gut darstellen lassen, dass aber Schwierigkeiten bestehen, komplexe Zusammenhänge in eine netztaugliche Leseform zu bringen.

Die unterschiedlichen und sehr interessanten Vorträge dieser Tagung haben den Nutzen des Netzes und die Verführung zum Positivismus bestätigt. Es gibt jedoch noch viele offene Fragen und Probleme, wobei einiges auch bereits aus der wissenschaftlichen Arbeit vor der Internetzeit hinlänglich bekannt ist, so etwa die Schwierigkeiten mit Klassifizierung und Strukturierung.2 In der Abschlussdiskussion wurde die Notwendigkeit betont, Vernetzung, Teamarbeit und Interdisziplinarität zu verstärken. Entscheidend sind auch Veränderungen in der Lehre. Medienkompetenzen müssen geschult werden, um das sogenannte „Google-Syndrom“ zu reduzieren (die irrige Annahme, dass alles, was in der Geschichtswissenschaft benötigt wird, bei Google stehe). Ein wichtiger Aspekt ist zudem die Entwicklung neuer Finanzierungsmodelle, um Erschließung, Aufbereitung und Pflege der Inhalte zu sichern. Es gibt also noch sehr viel Diskussionsstoff für weitere Veranstaltungen. Zum Abschluss: ein herzliches Dankeschön an die Studentinnen und Studenten des Historischen Seminars der Universität Hamburg, die als hilfreiche Geister für die Technik und die Verpflegung der Tagungsteilnehmer in den Pausen sorgten.

Anmerkungen:
1 Vgl. das Programm: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=2411.
2 Vgl. Burke, Peter, Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft, Berlin 2001 (rezensiert von Cord Arendes: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-3-049).

Kontakt

Kontakt:
Dr. Angelika Epple
Universität Hamburg
Historisches Seminar
Von-Melle-Park 6
20146 Hamburg
Tel.: 040/42838-2584
E-Mail: angelika.epple@uni-hamburg.de


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