Geschwisterbeziehungen in historisch-demographischer und mikrohistorischer Sicht

Geschwisterbeziehungen in historisch-demographischer und mikrohistorischer Sicht

Organisatoren
Arbeitskreis Historische Demographie
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
31.10.2003 - 01.11.2003
Url der Konferenzwebsite
Von
Georg Fertig, Trier/Münster

Seit 1994 trifft sich der Arbeitskreis Historische Demographie zu einer jährlichen Herbsttagung. Die Themen dieser Tagungen seit 1999 (Kleinräumige Wanderungen, Heiraten, nun: Geschwisterbeziehungen) zeigen deutlich, dass Historische Demographie in Deutschland zur Zeit nur partiell als Teilfach der Geschichte mit eigenen Quellen und Methoden operiert - die in dieser Traditionslinie stehende Forschung ist auf einen kleinen harten Kern zurückgegangen, der sich zudem eher im Rahmen der internationalen Familiengeschichte als in der Nähe der Bevölkerungswissenschaft verortet. Historische Demographie funktioniert mittlerweile vor allem als Berührungsfläche zwischen drei Gruppen: (1) außerhalb der Historikerzunft stehenden Demographen und Biologen, (2) einigen innerhalb der Zunft stehenden, aber dennoch mit modernen quantitativen Verfahren arbeitenden Sozial- oder Wirtschaftshistorikern, (3) Allgemeinhistorikern und Kulturwissenschaftlern, denen zwar demographische Methoden fremd sind, die sich aber für bestimmte Gegenstände der Historischen Demographie interessieren. Das kleingewordene Teilfach hat immer noch eine Schlüsselstellung im interdisziplinären Dialog inne.
Das Thema der Herbsttagung 2003, "Geschwisterbeziehungen in historisch-demographischer und mikrohistorischer Sicht", hat mehr Allgemeinhistoriker als quantitativ arbeitende Historiker angezogen. In der Außenstelle Berlin der GESIS referierten:

- Werner Egli (Ethnologie, Zürich): Geschwisterbeziehungen, Erbrechte und Migrationsformen in Bergbauerngesellschaften (Nepal, 20.-21. Jh.)
- Ann-Cathrin Harders (Alte Geschichte, Freiburg): Bruder-Schwester-Beziehungen in der römischen Republik und im frühen Prinzipat (3. Jh. v. Chr. - 1. Jh. n. Chr.)
- Gabriela Signori (Mittelalterliche Geschichte, Münster): Bruder und Schwester: Metapher und Wirklichkeit in der spätmittelalterlichen Denk- und Lebenswelt (15. Jh.)
- Susanne Knackmuß (Frühneuzeitliche Geschichte, Berlin): "Meine Schwestern sind im Kloster …" - Geschwisterbeziehungen des Nürnberger Patriziergeschlechtes Pirckheimer zwischen Klausur und Welt, Humanismus und Reformation (15.-16. Jh.)
- Volker Lünnemann (Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Münster): Geschwisterbeziehungen und familiale Transfers in zwei westfälischen Gemeinden (19. Jh.)
- Georg Fertig (Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Münster): Kreuzkusinen, Konkurrenz und Kooperation: Was können Familienrekonstitutionsstudien uns über die Sabean-These sagen (17.-19. Jh.)?
- Nadja Stulz-Herrnstadt (Paris): Geschwisterbeziehungen und soziale Mobilität im 18.und 19.Jahrhundert. Bürgerfamilien in städtischen Ballungsräumen.Das Beispiel Berlin.
- Eberhard Demm (Neuere Deutsche Geschichte, Lyon): Zur Problematik von Brüderbeziehungen, am Beispiel von Max und Alfred Weber sowie Heinrich und Thomas Mann (19./20. Jh).
- Claudia Buhles (Augsburg): Victor Klemperer im Kreise seiner Geschwister: Rebell und Hoffnungsträger (20. Jh.)

Die Relevanz des Themas für die Historische Demographie ist inhaltlich-theoretisch und methodisch-wissenschaftsorganisatorisch begründet. Der theoretische Aspekt betrifft die Mikro-Seite des Demographischen Übergangs: Demographische Modelle haben oft angenommen, dass die Kinder- und damit die Geschwisterzahl eine zu minimierende Größe sei, dass Geschwister einander stören und um dieselben Ressourcen konkurrieren. Es scheint in dieser Sicht in der Logik familiärer Beziehungen zu liegen, dass eine Verringerung der Geschwisterzahl zu einer Verbesserung der Lebensqualität führt. Wie die mediävistische Forschung zur Primogenitur gezeigt hat, können dynastische Strategien in dieselbe Richtung führen, müssen es aber nicht (es geht nicht nur darum, das knappe Erbe zusammenzuhalten, sondern auch darum, ein Aussterben des Stammes zu verhindern und Erbtöchter aus anderen Linien zu gewinnen).1 Konkurrenz unter Geschwistern wird im Zusammenhang mit bäuerlichen Erbformen auch in der migrations- und agrargeschichtlichen Forschung betont. Das unter Historikern beliebte Konzept eines "Image of Limited Good" postuliert für bäuerliche Gesellschaften eine kognitive Orientierung an Nullsummenspielen, aus der Eifersucht und Mißgunst unter Geschwistern logisch folgen.2 Auch in biologischer Perspektive ist Ressourcenkonkurrenz in der Geschwistergruppe auf den ersten Blick einleuchtend, während kooperatives oder altruistisches Verhalten erklärungsbedürftig sind.3

Eine andere theoretisch begründete Perspektive auf Geschwisterbeziehungen wird in der Verwandtschaftsethnologie eingenommen. Auch Ethnologen ist klar, dass Verwandte oft nicht nur geliebt, sondern auch verabscheut werden. Dennoch liegt aus verwandtschaftsethnologischer Perspektive in der Geschwisterbeziehung (genauer: in der Inzestvermeidung und damit der Existenz von Schwägern) der erste Ansatzpunkt weiterreichender Beziehungen, die auf Dauer gestellte Kooperation zumindest ermöglichten. Das klassische Modell zur Analyse dieser Beziehungsform stammt von Lévi-Strauss, dessen Allianztheorie den direkten und indirekten Tausch von Frauen unter Abstammungslinien untersucht, wenn auch gerade nicht für komplexe, über Eigentum verfügende Gesellschaften wie die europäische der Neuzeit. Über Geschwister vermittelte Heiratsverwandte erscheinen also als Verbündete ("Warum heiratet ihr nicht eure Schwestern?" - "Weil wir dann keine Schwäger hätten").4 Während es in der aktuellen Ethnologie, etwa von Egli, eher distanziert gesehen wird, ist das Modell von Lévi-Strauss in der neueren historisch-anthropologischen Forschung5 - seinen ursprünglichen Intentionen entgegen - auf europäische Gesellschaften übertragen worden, z.B. auf Süddeutschland, Süditalien und Frankreich. Sabean sieht besonders die Zeit von 1740 bis 1840 als Phase besonders intimer, z.T. als Inzest wahrgenommener Geschwisterbeziehungen, und er erklärt dies als Folge einer Umstrukturierung des Allianzsystems, für die das vermehrte Auftreten von Cousin/Cousinenheiraten und damit die wiederholte Allianz zwischen Abstammungslinien kennzeichnend sind. Es ist freilich eine empirische Frage, ob man in diesen Regionen jeweils sinnvoll von in Tauschbeziehungen eingebundenen Abstammungslinien sprechen kann und wieweit hier die Heirat als Fortgehen der Frau und als Ende ihrer Zugehörigkeit zu ihrer Geschwistergruppe zu interpretieren ist.

Neben der theoretischen Alternative "limited good" vs. Allianztheorie sprechen auch methodische Gründe dafür, dass Historische Demographen Geschwisterbeziehungen diskutieren. Historische Demographie ist eng verbunden mit der Methode der Familienrekonstitution. Nicht alle, aber doch ein großer Teil der interessanteren historisch-demographischen Arbeiten beruhen auf der Zusammenstellung von Geburts-, Heirats- und Sterbedaten von Personen zu Familien. Dieses nominative Verfahren macht ein Spezifikum der Historischen gegenüber der Gegenwarts-Demographie aus. Zudem bietet es Anschlußmöglichkeiten gegenüber all denjenigen, die prosopographische, nominative Methoden mit allgemeinhistorischem Interesse einsetzen, aber auch gegenüber Biologen, Verwandtschaftsethnologen und Netzwerkanalytikern, die mit ähnlichem Material arbeiten. Geschwisterbeziehungen werden durch Familienrekonstitutionsstudien ähnlich fassbar wie die im Kontext der Fertilität untersuchten Eltern-Kind-Beziehungen oder wie das Heiratsverhalten.

Aus ihrer zentralen Methode ergeben sich Konsequenzen für die Stellung der Historischen Demographie im Gefüge der wissenschaftlichen Disziplinen. Sie ist nicht nur ein abgelegenes Grenzgebiet zwischen Geschichte und Bevölkerungswissenschaft, sondern sie kann teilhaben an Interdisziplinarität im doppelten Sinne. Wie Jürgen Mittelstraß argumentiert, funktioniert Interdisziplinarität nämlich auf zwei Ebenen: Sie ist eine "Reparaturveranstaltung" für zu stark fragmentierte Disziplinen, und sie versucht - als "Transdisziplinarität" -, Probleme disziplinübergreifend zu lösen und so die ursprüngliche Einheit der Wissenschaft wiederherzustellen.6 Wenn es eigene Zeitschriften und Institute für "Geschichtswissenschaften" im Plural gibt und wenn selbst Wirtschafts- und Sozialgeschichte nicht mehr ganz sicher sind, ob sie eine Einheit bilden, so liefert die Historische Demographie Themen, die - wie das der Geschwisterbeziehungen - fundamental genug sind, dass Neuzeithistoriker darüber mit KollegInnen reden, die auf so exotischen Gebieten wie der Alten oder Mittleren Geschichte forschen. Diese ‚kleine' Interdisziplinarität ist also auf die Rekonstruktion der eigenen Disziplin gerichtet. Gegenstände der Historischen Demographie eignen sich hierfür gut, weil sie nicht durch kulturellen oder institutionellen Wandel verschwinden; Geschwister hat es - anders als z.B. Parlamente - immer gegeben.

Nun ist gerade die Geschichtswissenschaft auch in hohem Maße auf die ‚große' Interdisziplinarität angewiesen. Die Historie zeichnet sich geradezu dadurch aus, dass sie ihre Theorien oft aus anderen Disziplinen bezieht - "Limited Good" und Allianztheorie sind von Ethnologen entwickelt worden. Dasselbe gilt für die Methoden der Geschichtswissenschaft. Sie steht traditionell (wie andere Sozialwissenschaften) an der Grenze zwischen qualitativ-hermeneutischen und quantitativ-szientistischen Verfahren und damit unter zwei konkurrierenden Disziplinaritäten.

Obwohl Geschichte zur Aufklärungszeit als "eine fortlaufende Statistik"7 galt, bewegen die meisten Historiker sich zur Zeit eher auf der qualitativen Seite dieser Grenze. Von allen Sozialwissenschaften ist dagegen gerade die Demographie am stärksten formal-quantitativ ausgerichtet: eine Wissenschaft, die systematische Beziehungen zwischen der Makro-Ebene ganzer Bevölkerungen und der Mikro-Ebene individuellen Verhaltens mathematisch modelliert und in Bezug auf diese Modelle empirisch-statistisch untersucht. Es geht ihr nicht um symbolische Kommunikation und strategisches Handeln, sondern um Präsenz - sie schaut nicht an, wer was sagt oder tut, sondern wer da ist, kommt und geht. Da es ihr um das Eintreten und Verbleiben in sowie das Austreten aus Populationen geht, geraten ihr besonders solche Bereiche in den Blick, die mit marktökonomischen Theorien nicht gut erfasst werden können, nämlich Geburt, Generation und Tod, die aber für die Ökonomie als Ganze determinierend sind und einen großen aktuellen Problemdruck entfalten. Man kann ohne Demographie keine seriöse Geschichte von Wirtschaft und Entwicklung schreiben; für die meisten Historiker nach der kulturalistischen Wende ist Demographie aber etwas extrem Fremdes.

Die Brücke zur quantitativen Demographie ist auf der Berliner Tagung kaum beschritten worden. Das liegt nicht am Thema. Ob das Vorhandensein von Geschwistern Abwanderung, Heirat oder Tod wahrscheinlicher macht, läßt sich z.B. mit modernen Verfahren der Event History Analysis untersuchen, und entsprechende Studien erscheinen regelmäßig in englisch- und französischsprachigen Publikationen.8 Die Neigung, sich methodisch an die internationale ökonomisch-demographische Forschung à la Wrigley/Schofield anzulehnen, war allerdings in der deutschen Historischen Demographie (die sich eine Zeitlang "als Sozialgeschichte" verstand) noch nie sehr ausgeprägt.9 In Lyon fand dagegen fast zeitgleich mit der Berliner Tagung ein von Michel Oris und anderen organisiertes Colloquium "Frères-Sœurs-Jumeaux: Passé et présent des fratries" statt, das kultursoziologische und historische Ansätze mit modernen demographischen Studien (etwa von George Alter und Oris) verband. Es ist wichtig, dass die deutsche Forschung hier kommunikationsfähig bleibt (oder wird).

Vordergründig betrachtet, können von den neun Referaten der Berliner Tagung drei (Buhles, Demm, Knackmuß) als biografische Studien, drei (Egli, Harders, Signori) als allgemeinhistorische bzw. ethnologische Studien auf dem Niveau lokaler oder (wenn wir Rom so einstufen können) urbaner Gesellschaften und drei (Fertig, Lünnemann, Stulz-Herrnstadt) als im weitesten Sinne Familienrekonstitutions-Studien qualifiziert werden. Inhaltlich gruppieren sich die Beiträge jedoch ganz anders. Bei Egli, Harders und Fertig ging es im Grunde um Beziehungen zwischen verschwägerten Gruppen, v.a. um die Rolle der in eine andere Verwandtschaftsgruppe verheirateten Schwester. Demm und (eingeschränkt) Stulz-Herrnstadt erzählten Geschichten, in denen es Geschwistern miteinander zu eng war. Signori und Lünnemann schauten Familienkonstellationen von Wiederheirat bzw. Erbe daraufhin an, wieweit vordergründig zu vermutende Konkurrenz sich in der Rechtspraxis niederschlug. Knackmuß und Buhles schilderten, wie es prominenten Autoren unter den Fittichen ihrer Brüder und Schwestern erging.

WERNER EGLIs ethnologischer Zugriff ist gekennzeichnet durch ein Interesse an Makro-Modellen (nach Lévi-Strauss spielt die Ethnologie eine ähnliche Rolle wie die Astronomie unter den Naturwissenschaften; es geht ihr um "Grobmechanik"), und durch die Möglichkeit, die untersuchten Menschen auch direkt zu befragen. Er untersucht in seinem Beitrag die Geschwisterbeziehungen in zwei nepalesischen Dörfern, einem tibeto-burmanischen und einem indo-nepalesischen, beide geprägt durch bergbäuerliche Subsistenzwirtschaft und patrilineare Clanorganisation mit Obereigentum des Clans am Land. Die relevanten Unterschiede betreffen den Transfer von Eigentum und politischer Autorität sowie den klassischen Unterschied zwischen Mitgift und Brautpreis. Bei den indonepalesischen Chetri kann ein verheirateter Sohn die gleichmäßige Aufteilung des Erbes verlangen; meist geschieht das aber erst, wenn alle Söhne verheiratet sind. Töchter erhalten (relativ kleine) Mitgiften. Die Beziehungen zwischen den Brüdern sind durch Phasen von Desinteresse und (wenn die Erbteilung naherückt) Konkurrenz geprägt; solange noch alle im selben Haushalt arbeiten, werden Arbeitsleistungen peinlich genau aufgerechnet. Schwestern werden von den Brüdern wenig respektiert und halten nach der Heirat keinen Kontakt; nach der Erbteilung arbeiten Brüder kaum noch zusammen. Einen ganz anderen Kontext für die Entwicklung von Geschwisterbeziehungen stellt das Erb- und Eigentumssystem der tibeto-burmanischen Sunuwar dar. Zwar gibt es auch hier patrilineare Clans, aber der Großteil des Untereigentums am Land wird an den jüngsten Sohn vererbt, der auch die alten Eltern pflegt. Mittlere Brüder gehen oft fort, meist zu den Gurkha-Truppen. Die politische Stimme der Familie im Dorf fällt an den ältesten Bruder. Töchter verlassen den Clan gegen einen Brautpreis. Macht und Eigentum sind also voneinander abgekoppelt, und es gibt differenzierte Rollen für die Kinder. Diese werden bereits im Kindesalter verteilt; es entwickelt sich insbesondere zwischen Brüdern und Schwestern eine sehr freundliche und kooperative Beziehung, die mit dem Fortgehen der Schwester nicht endet (ein gutes Verhältnis zu den politisch oder als Eigentümer starken Brüdern ist für die Stellung in der neuen Familie hilfreich). Geschwisterbeziehungen erscheinen also nicht primär allgemeinmenschlich-psychologisch determiniert, sondern sozial, wobei nicht nur die Existenz von exogamen Abstammungslinien entscheidend ist, sondern auch das jeweilige Erb- und Eigentumssystem.

Patrilineare Abstammungsgruppen charakterisierten auch die antike römische Gesellschaft, und der heutige wissenschaftliche Begriffsapparat in der Verwandtschaftsforschung ist stark durch unsere römische Tradition geprägt. ANN-CATHRIN HARDERS untersuchte in ihrem Vortrag die Achse Bruder - Schwester - Schwager, also das "Verwandtschaftsatom" (Lévi-Strauss). In römischrechtlicher Perspektive sind Agnaten und Cognaten getrennte Gruppen, und bei der Heirat wechselt die Zugehörigkeit der Frau. Da Schwäger als Brautgeber fungieren, stellt die Heirat eine Allianz dar. Andererseits standen Brüder und Schwestern auch nach der Heirat in einem sehr engen Verhältnis; man kann sogar davon sprechen, dass der Bruder sich in der Kaiserzeit zur wichtigsten männlichen Bezugsperson entwickelte. Die Doppelrolle der Frau unterläuft also die rechtshistorische bzw. verwandtschaftsethnologische Konstruktion. (Falsche) Etymologien wie die des Verrius Flaccus zu "amita" (Tante) betonen die Geschwisterliebe: die Vatersschwester heiße "amita", weil sie vom Vater geliebt werde. Am Beispiel des Verhaltens des älteren Scipio Africanus gegenüber Keltibererinnen in Spanien wurde herausgearbeitet, dass das Brüderlichkeits-Ethos auch außerhalb der Familie einen hohen moralischen Wert darstellte. Ein weiteres Beispiel: Sempronia, Schwester der Gracchen und Frau des jüngeren Scipio, wurde bei dessen plötzlichem Tod als Mörderin verdächtigt - dass sie eher ihre Brüder rächen als sich auf die Seite des Mannes stellen würde, erschien plausibel. Ein weiteres bekanntes Geschwisterpaar waren Clodius und Clodia; sie wurden von Cicero einer inzestuösen Beziehung verdächtigt. Harders' Argumentation zielte also ähnlich wie die von Egli auf das Fortbestehen der Bruder-Schwester-Beziehung in einem Kontext, der formal durch die Existenz von frauentauschenden und sich auf diesem Weg alliierenden Patrilinien gekennzeichnet ist. In der Diskussion wurde die Überlegung aufgeworfen, wieweit die ethnologischen Allianzmodelle auf Rom passen - zwar entspricht die Deutung von Heirat als Allianz im römischen Kontext der gängigen und auch älteren Forschung; andererseits bezieht sich die Allianztheorie von Lévi-Strauss auf Gesellschaften ohne Eigentum, in denen Frauen als wichtiges knappes Gut und nicht als Akteurinnen mit eigenen Ansprüchen auf Ressourcen betrachtet werden.

Von Rom nach Basel: Ausgehend vom Fall eines Kaufmannes, der seine älteste Schwester enterbte und aus dem rituellen "Gedächtnis" tilgte, analysierte GABRIELA SIGNORI die Institution der Morgengabskinder. Es geht dabei um Kinder aus erster Ehe, die von bereits einmal verheirateten Frauen (sehr selten von Männern), die mit einem "Knaben" (bzw. einer "Jungfrau") die Ehe eingingen, diesem zur Morgengabe gemacht werden, mit der Rechtsfolge, dass der neue Vater und das neue Kind einander beerben. Das Institut ist in der Forschung bislang wenig sichtbar geworden, weil in schriftlich überlieferte Eheverträge fehlen (wie das Eheversprechen war der Ehevertrag mündlich), aber auch, weil es in der älteren deutschrechtlich orientierten Rechtsgeschichte als Variante der als römisch geltenden Adoption wenig beliebt war. Während das Institut meist mit der Einkindschaft gleichgesetzt wird (danach läge also seine Pointe darin, dass Geschwister aus verschiedenen Ehen gleich Erbrechte haben), interpretiert Signori es als Äquivalent zur pekuniären Morgengabe. Wer eine bislang unverheiratete Person in zweiter Ehe heiratete, schuldete dieser die Morgengabe. Hatte die Witwe kein Geld, konnte sie ihrem jungen Mann auch ein Kind aus erster Ehe schenken. Das Morgengabskind hatte nämlich auch einen Erbanspruch auf das Vermögen seines verstorbenen Vaters, und dieser Anspruch ging, falls das Kind starb, auf den neuen Vater über. Morgengabskinder waren eine Variante unter anderen, die Auflösung der ehelichen Gütergemeinschaft (Abschichtung) im Todesfalle aufzuhalten. Zugleich nutzten sie den meist kleinen Morgengabskindern, die Erbansprüche zu beiden Vätern bekamen und als "Gabe" auch emotional eine weit engere Beziehung zum neuen Vater eingingen, als dies Stiefkindern typischerweise möglich war. Dass Geschwister nach dem Tod der Eltern nur noch wenig miteinander zu tun hatten, sah Signori für Basel als normal an, auch wenn der geschilderte Fall einer damnatio memoriae durch den (Morgengabs-)Bruder eine Ausnahme war. Die Morgengabskinder waren - wie Signori abschließend betonte - ein individuellen Situationen angepasstes Rechtsinstitut. Individualismus wurde in der älteren Forschung mit Moderne und Römischem Recht assoziiert; hier haben wir es aber mit dem Fall zu tun, dass heterogene, alte, "unmoderne" Rechtsformen gerade individuellen Bedürfnissen gerecht werden. Im mittelalterlichen Basel konnten Individuen die Beziehungen und Verpflichtungen, in denen sie standen, kreativ gestalten - sie konnten Kinder verschenken, und sie konnten Schwestern tilgen.

Der Beitrag von SUSANNE KNACKMUß befasste sich mit dem Nürnberger Humanisten Willibald Pirckheimer und seinen in Klöstern lebenden Schwestern. In der Korrespondenz der Geschwister schlägt sich das lebhafte Interesse der Schwestern, vor allem der Äbtissin Caritas, an der weltlichen Position der Familie nieder; zum Teil in der klösterlichen Form des "Kapitelns" oder Abkanzelns. Knackmuß setzte sich von der verbreiteten Interpretation der Frauenklöster als Versorgungsanstalt für überzählige Töchter ab. Vielmehr betonte sie die Einheit der Geschwistergruppe auch über die Klostermauern hinweg (selbst in der Klausur); die Nonnen waren sowohl an der weltlichen Familienehre interessiert als auch am Ausbau der familiären Position im Kloster. Wenn im weltlichen Teil der Familie keine Töchter gezeugt wurden, erschien ihnen das als Defizit, da sie weiblichen Nachwuchs für die Klöster brauchten. Die familiäre, männliche Abstammungslinie zu erhalten, war also allenfalls ein Ziel unter mehreren. Im Zuge der Reformation drohte die Rollenverteilung zwischen den Geschwistern (Willibald in der Stadt, die Schwestern als Äbtissinnen oder Nonnen auf mehrere Klöster verteilt) zusammenzubrechen. Trotz seiner Nähe zur reformatorischen Theologie setzte sich der Humanist Willibald Pirckheimer nachdrücklich für die Fortexistenz der Frauenklöster ein - er hätte andernfalls die Schwestern aufnehmen müssen, und die durch Besorgnis und Mahnung gekennzeichnete Kommunikation in der Gruppe hätte sich vom schriftlichen auf das mündliche Medium verlagert.

VOLKER LÜNNEMANN analysierte die Übergabe von Bauernhöfen in der Familie im 19. Jahrhundert. Der untersuchte Ort (Borgeln bei Soest) gilt als "Anerben"-Gebiet (obwohl die Rechtssprache hier, anders als in Ostwestfalen, die Kategorie des "Anerben" nicht kennt); gängige Interpretationen würden also eine relativ rigide Rollenverteilung zwischen den Alleinerben und den "weichenden", ihre Lebenschancen dem Wohl des Hofes opfernden Geschwistern suggerieren. Die Arbeit beruht auf den mikrohistorischen Datenbanken der Münsteraner "Forschungsgruppe ländliches Westfalen". Lünnemann analysierte zunächst, ob der Besitztransfer flexibel und familären Situationen angepasst gehandhabt wurde. Vom "Anerben"-Schema abweichende Übertragungen fanden sich abhängig von der Elternkonstellation und Hofgröße durchaus. So bekamen in 13 % der 167 Fälle jüngere Söhne den Hof, obwohl es lebende ältere Söhne gab, die den Hof nicht übernehmen sollten oder wollten. In 18 % der Fälle ging der Hof gar an eine Tochter, obwohl es Söhne gab. Letzteres Muster trat besonders häufig auf, wenn nur noch der Vater lebte (ein Befund, der mit einem starken Interesse von Männern an der Besetzung der weiblichen Rolle im Haushalt und Betrieb übereinstimmt). Auch die Hofgröße war relevant: Vom Anerbenschema abweichende Erbregelungen fanden sich besonders bei kleineren Anwesen. Dies deutet darauf hin, dass die Übernahme des Hofes nicht immer gleich attraktiv war, und dass die vorgesehene Rolle nicht immer ausgefüllt wurde. Im zweiten Teil des Vortrags ging es um die Zahlungen und Rechte, mit denen die nicht den Hof übernehmenden Geschwister abgefunden wurden. Die Zahlungen allein machten mehr als die Hälfte des übertragenen Vermögens aus. Zudem gingen die Hofübernehmer die Verpflichtung ein, ihre Geschwister in Zeiten der Arbeitslosigkeit und Krankheit aufzunehmen und zu unterstützen; unverheiratete Brüder konnten waschen und flicken lassen; noch nicht erwerbsfähige Geschwister (oder nichteheliche Kinder von Geschwistern) bekamen Ansprüche auf Unterhalt. Der Hofnachfolger wurde also zu einer zentralen sozialen Absicherungsinstanz für seine Geschwister. In der Diskussion wurde kontrovers erörtert, inwieweit ländliche Gemeinden in Nord- und Süddeutschland durch genaues Abrechnen zwischen den Erben oder Reziprozität und Großzügigkeit gekennzeichnet waren.

Mein eigener Beitrag (GEORG FERTIG) hatte eine methodologische Pointe. David Sabean hat die ketzerische These aufgebracht, dass die Gesellschaften des neuzeitlichen Europa nicht etwa im Zug der Modernisierung immer weniger durch Verwandtschaft strukturiert worden seien, sondern dass Verwandtschaft gerade im 19. Jahrhundert - als sie für die entstehenden Gesellschaftswissenschaften mehr und mehr unsichtbar, privat, irrelevant wurde - eine immer zentralere Rolle für die Verteilung von Ämtern und wirtschaftlichen Ressourcen spielte. Klassenbildung funktionierte demzufolge über die zunehmende Kooperation von horizontalen Gruppen: Geschwistern, Cousins/Cousinen ersten und zweiten Grades. Ein wichtiger Indikator für diese Kooperation sind Eheschließungen unter Blutsverwandten, von Sabean in Anlehnung an Gérard Delilles Lévi-Strauss-Adaptation als Allianz zwischen Linien interpretiert. Sabean zufolge wurden Ehen dieser Art in Europa um 1800 "bei allen besitzenden Schichten üblich"10. Delille sieht für die Zeit vor 1800 die Vermeidung von Blutsverwandtenehen als kennzeichnend, weshalb Familien systematisch Allianzen auf anderen Wegen (z.B. Ehen mit Verwandten von Stief-Verwandten) schlossen. Verwandtschaftsgruppen haben nach Delille/Sabean also eine Tendenz zum Wiederanknüpfen sehr entfernter Verwandtschaftsbeziehungen ("bouclage" / "Umzingelung"), und diese Tendenz bewirkte mit der Lockerung kanonischer Heiratsverbote im 18. Jahrhundert auch ein zunehmendes Verfilzen im Bereich der engeren Verwandtschaft. Erst mit dem Aufkommen der Eugenik verschwanden diese Verwandtenehen wieder.

Sabeans Argument hat zwei Aspekte. Einerseits geht es um die Kooperation von Verwandten (z.B. Gruppen von Geschwistern, unter denen auch Ehen bestehen) auf verschiedenen Handlungsfeldern, also um ein gegenwartsbezogenes Argument. Andererseits geht es - im Anschluss an Delille - um die allianztheoretische Interpretation von Verwandtenehen, wobei Reziprozitätsbeziehungen zwischen generationenübergreifenden "Linien" und "Zweigen" behauptet werden. Ich halte das erstgenannte Element von Sabeans Arbeit für sehr attraktiv, das zweite aber für empirisch überprüfungsbedürftig. Im Vortrag ging es um die Frage, wie eine solche empirische Prüfung auszusehen hat. Demographie hilft dabei: erstens weil es um eine systematische Auswertung von Familienrekonstitutionsdaten geht (es braucht Verfahren, die automatisch den Verwandtschaftspfad zwischen beliebigen Personen in beliebiger Zahl ermitteln), und zweitens weil es nötig ist, die realisierten Beziehungen mit der "population at risk" möglicher Beziehungen zu vergleichen. Im Vortrag wurden drei Hypothesen diskutiert: (1) Verwandtenehen als strukturalistisch interpretierbare Austauschstrategie - dann müssten spezifische Verwandte (Cousins 1./2. Grades) jenseits der Geschwistergruppe in überzufälligem Maß gewählt werden; (2) ein selbstverstärkender Einfluss von Verwandtschaft als nicht (im Lévi-Strauss'schen Sinne) strukturiertes soziales Interaktionsfeld - je mehr Verwandtschaftsbeziehungen, desto höher die Heiratswahrscheinlichkeit, aber kein Austausch zwischen "Frauengebern" und "Frauennehmern"; (3) demographischer Zufall, d.h. die gewählten Beziehungen entsprechen dem bei einem verwandtschafts-blinden Verhalten zu erwartenden Wert. In einem ersten empirischen Analyseschritt wurden die Verwandtschaftsnetze von Brautleuten in Löhne (protoindustriell) und Oberkirchen (wald- und weidewirtschaftlich), zwei weiteren Untersuchungsorten der Forschungsgruppe Ländliches Westfalen, für 3 Kohorten im 18. und 19. Jahrhundert daraufhin betrachtet, ob unter den Landbesitzern Verwandtenheiraten bestimmter Kategorien überzufällig häufig vorkamen. Im katholischen Oberkirchen bestätigte sich das erwartete Bild eines Vordringens der Blutsverwandtenehen, aber nicht im pietistisch-lutheranischen Löhne. Umgekehrt nahmen in Löhne Ehen mit der Schwester der (verstorbenen) Ehefrau zu, in Oberkirchen nicht, und nur in Löhne gab es eine deutliche und konstante Tendenz, dass Geschwistergruppen sich wechselseitig heirateten. In Löhne spielten also Beziehungen eine Rolle, die auf alltäglicher Kooperation unter Lebenden beruhten, nicht auf Linien- oder Gruppenzugehörigkeit. In beiden Orten hing die Anzahl der zwischen zwei Personen bestehenden entfernten Verwandtschaftspfade, also die Intensität, mit der sie miteinander im selben Stammbaumdickicht steckten, mit der Wahrscheinlichkeit zusammen, dass gerade sie einander heirateten. Eine Betrachtung auf der Ebene von mehreren Einzelfällen - die hier nicht referiert werden sollen - zeigt, dass weder in Oberkirchen noch in Löhne ein systematisches Hin und Her von Frauen zwischen Patrilinien oder Höfen erkennbar ist. Die Rede von "Austausch", "Reziprozität" und "Allianz" ist unter diesen Bedingungen metaphorisch und wenig angemessen. Vielmehr könnte es um drei getrennte Dinge gehen. Erstens wurden in katholischen Gebieten kanonische Heiratsverbote im 19. Jahrhundert lockerer gehandhabt als zuvor; also kamen Ehen unter entfernten Blutsverwandten dort zunehmend vor, ohne dass sie deshalb strategisch angestrebt werden müssten. Zweitens scheint Zugehörigkeit zum Feld der weiteren Verwandtschaft, oder andersherum: die Frage, ob man mit jemandem irgendwie entfernt mehrfach oder aber garnicht verwandt ist, Begegnungen und Informationsflüsse zu verstärken. Drittens können sich Paare über Geschwister finden. Geschwister stehen miteinander in einem Kontext von Unterhalts- und Erbschaftsbeziehungen (was wirtschaftsanthropologisch nicht als Reziprozität, sondern als Redistribution gesehen werden sollte). Darin steckt Potential für heftige Konflikte, aber auch für Großzügigkeit und Kooperation. Wenn die historisch-anthropologische Forschung mit der Herausforderung durch Sabeans "Hardcore-Sozialgeschichte" zurechtkommen will, sollte sie quantitative, demographisch inspirierte Verfahren der Analyse von Verwandtschaftsnetzen stärker aufgreifen.

NADJA STULZ-HERRNSTADTs Vortrag zielte auf die Gruppen- und Schichtenspezifik sowie die Sozialpsychologie der Geschwisterbeziehung im Berliner Bürgertum des 19. Jahrhunderts und darauf, sie in übergeordnete Prozesse der Individualisierung und Verbürgerlichung einzuordnen. Sie zog dafür einerseits zeitgenössische Nachschlagewerke (v.a. Adelung) heran, andererseits Familienrekonstitutionen zu bürgerlichen Familien, ohne allerdings formale demographische Berechnungen anzustellen. Es ergab sich zunächst die Impression, dass in bürgerlichen Familien hohe Fruchtbarkeit, hohe Säuglingssterblichkeit und frühe Heiraten vorwogen (was in einem gewissen Gegensatz zu den Berechnungen von Rolf Gehrmann zur Demographie in norddeutschen Städten, speziell Berlin, steht - dieser stellte nämlich für das frühe 19. Jahrhundert einen markanten Rückgang der Säuglingssterblichkeit und Anzeichen von Geburtenbeschränkung fest). Stulz-Herrnstadt schilderte darauf aufbauend ein Bild großer psychischer Belastung für Familien und Kinder: Die Ankunft eines neuen Geschwisterkindes bedeutete immer die Gefahr des Mutterverlustes. Die demographischen Rahmenbedingungen konnten daher sowohl solidarisierende als auch desolidarisierende Effekte haben. Solidarisierung war auch normativ sanktioniert: nach dem Allgemeinen Landrecht war mit dem Erbrecht die (u.a. geschwisterliche) Unterstützungspflicht verbunden; wer Unterhalt leistete, erbte. Im zweiten Teil des Vortrags wurde gezeigt, wie Geschwisterbeziehungen im Kontext von beruflicher und sozialer Mobilität genutzt wurden. Geschwister wanderten in dieselben Städte, bezogen einander - gemessen an Patenschaften für die Kinder - in den Verkehrskreis ein; weitere Beispiele betreffen etwa intrafamiliale Geschwisterpatenschaften, Doppel- und Kreuzcousinen-Hochzeiten. Bürgerliche Familien strebten nach der Erweiterung ihrer sozialen Netzwerke; hierfür kam der Geschwisterbeziehung eine zentrale Relaisfunktion zu.

EBERHARD DEMM schilderte mit den Brüderpaaren Mann (Heinrich und Thomas) sowie Weber (Max und Alfred) zwei jeweils spannungsgeladene Konkurrenzbeziehungen. Der ältere hatte jeweils einen großen Entwicklungsvorsprung, und beide Brüderpaare waren Demm zufolge als schwere Neurotiker einzuschätzen. Zur familiären trat die berufliche Rivalität. Demm beschrieb beide Paar-Biographien als lebenslangen Wettlauf auf sexuellem, wissenschaftlichem, politischem und privatem Gebiet.

CLAUDIA BUHLES untersuchte die Geschwisterbeziehungen des deutschen Romanisten Victor Klemperer auf der Basis seiner Autobiographie und seiner Tagebücher. Die Arbeit beruht also ausschließlich auf Egodokumenten, die freilich eine ausgeprägte innere Diskrepanz zwischen Klemperers (kritischem) Selbstbild und den von ihm wahrgenommenen Fremdbildern aufweisen. Die älteren Brüder erscheinen als Ersatzväter, die in Lebensweise ("Halt dich gerade!"), Berufs- und Partnerwahl intervenierten und hierzu, da sie Victor bis zum Erreichen der Professur mit einem monatlichen Wechsel finanziell unterstützten, auch lange Zeit moralisch in der Lage waren. Das familiäre Handlungsfeld wurde also von Unterhaltsbeziehungen und damit verbundenen Erziehungskompetenzen strukturiert. Daraus resultierte eine ausgesprochene Ambivalenz Victor Klemperers seinen Brüdern gegenüber ("Ich schäme mich ihrer, ich bin ihnen zu Dank verpflichtet u. bin ihnen fremd, ich habe in aller Feindschaft geschwisterliche Gefühle für sie"). Zum Teil lag das am unterschiedlichen Umgang der Geschwister mit ihrer jüdischen Herkunft (Georg Klemperer hatte sich radikal distanziert), aber vor allem an den finanziellen, Victor Klemperers Autonomie infragestellenden Redistributionsbeziehungen: Noch als Ordinarius bekam Klemperer ("Ich bin der arme, etwas verrückte Bruder") bei einem Besuch 150 Mark aufgedrängt.

Die nächste Herbsttagung der Arbeitsgemeinschaft Historische Demographie wird am 5. und 6. November 2004 zum Thema "Familie, Zusammenleben, Konflikt: Familienkonstellationen und Lebenschancen in transdisziplinärer Perspektive" am Hauptsitz der GESIS in Köln stattfinden.

Anmerkungen:

1 Karl-Heinz SPIEß, Familie und Verwandtschaft im deutschen Hochadel des Spätmittelalters (13. bis Anfang des 16. Jahrhunderts) (=Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 111, Stuttgart 1993).
2 George M. FOSTER: "Peasant Society and the Image of Limited Good", in: American Anthropologist 67 (1965), S. 293-315.
3 Eckart VOLAND, "Reproductive Decisions Viewed from an Evolutionarily Informed Historical Demography", in: DUNBAR, Robin I. M. (Hg.): Human Reproduction Decisions - Biological and Social Perspectives (Houndmills/London/New York 1995), S. 137-159.
4 Claude LÉVI-STRAUSS, Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft (Frankfurt 1981).
5 Françoise HERITIER: L'exercise de la parenté (Paris 1981), Gérard DELILLE: "Échanges matrimoniaux entre lignées alternées et système européen de l'alliance: üne première approche", in: JAMARD, Jean-Luc/TERRAY, Emmanuel/XANTHAKOU, Margarita: En substances. Textes pour Françoise Héritier (Paris 2000), S. 219-252; David W. SABEAN, Kinship in Neckarhausen, 1700-1870 (Cambridge 1998).
6 Jürgen MITTELSTRAß, "Interdisziplinarität oder Transdisziplinarität?", in: Lutz HIEBER (Hg.): Utopie Wissenschaft: Ein Symposium an der Universität Hannover über die Chancen des Wissenschaftsbetriebs der Zukunft (21./22. November 1991) (München und Wien 1993), S. 17-32.
7 August Ludwig SCHLÖZER, Allgemeines Statsrecht und Statsverfassungslere, Bd. 2: Theorie der Statistik (Göttingen 1804), S. 86.
8 Vgl. z.B. Jan van Bavel, "Family Control, Bridal Pregnancy, and Illegitimacy: An Event History Analysis in Leuven, Belgium, 1846-1856", Social Science History 25 (2001), 449-479.
9 Die beste Einführung in diese Richtung der Demographie stammt von Thomas SOKOLL und Rolf GEHRMANN: "Historische Demographie und quantitative Methoden", in: Michael MAURER (Hg.): Aufriß der historischen Wissenschaften, Bd. 7: Neue Themen und Methoden der Geschichtswissenschaft (Stuttgart: Reclam, 2003), S. 152-229.
10 David SABEAN, "Inzestdiskurse vom Barock bis zur Romantik", in: L'homme (Wien) 13:1 (2002), S. 7-28, Zitat S. 21.


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