Beweggründe - Zur Interdependenz von physischer und psychischer Bewegung

Beweggründe - Zur Interdependenz von physischer und psychischer Bewegung

Organisatoren
Graduiertenzentrum der PHF der Universität Rostock
Ort
Rostock
Land
Deutschland
Vom - Bis
18.11.2011 - 20.11.2011
Url der Konferenzwebsite
Von
Juliane Ebert / Robert Liniek / Daniel Münzner / Maria Neumann / Jennifer Roger, Rostock

Was haben Bewegungskonzeptionen im Theater des Absurden Samuel Becketts mit dem zeitgenössischen Tanzstil der Kontaktimprovisation zu tun? Was verbindet die Inflation von Bewegungsbegriffen zwischen Früher Neuzeit und Moderne mit den Kriegserlebnissen deutscher Söldner des 19. Jahrhunderts? Auf der interdisziplinären Tagung „'Beweggründe' - Zur Interdependenz von physischer und psychischer Bewegung“, welche vom 18. bis 20. November am Graduiertenzentrum der Philosophischen Fakultät der Universität Rostock stattfand, wurden Bewegungsdiskurse, -konzepte und -studien aus unterschiedlichen Disziplinen vorgestellt und diskutiert. Im Mittelpunkt der Vorträge stand das Zusammenspiel von körperlichen und geistigen Bewegungen, wobei sich im Laufe der Tagung die metaphorische Dimension der Bewegung als zentrales Element dieser Wechselbeziehung herausstellte.

Die interdisziplinäre Ausrichtung der Tagung entspricht der neuen Profillinie „Wissen – Kultur – Transformation“ der Universität Rostock. Interdisziplinarität bedeute, sich auf andere Positionen „zu zubewegen“ erklärte STEPHANIE WODIANKA (Rostock) in ihrer Einführungsrede. Am Beispiel der Essays von Michel de Montaigne verdeutlichte sie, dass die Welt und das Leben nicht in Disziplinen gegliedert seien und Forschung immer einen umfassenden Ansatz verlange.

Die Beiträger aus den Bereichen Sport, Psychologie, Pädagogik und E-Learning stellten positive Effekte körperlicher Bewegung auf die Psyche im therapeutischen Sinne und auf kognitive Fähigkeiten heraus. So zeigte SOPHIE OPITZ (Rostock) mit ihrer Studie, dass durch Pilates - obgleich eine äußerst komplexe Bewegungsform - deutliche Verbesserungen der Selbstachtung und des Körperbewusstseins von stationär behandelten Depressionspatienten erzielt werden können. Sie plädierte für den Einsatz von Pilates als Ergänzung des in den therapeutischen Einrichtungen bisher vornehmlich eingesetzten Lauftrainings. MARIA NEUMANN (Rostock) und WIEBKE SCHWELGENGRÄBER (Rostock) stellten Möglichkeiten zur Verbesserung kognitiver Leistungen durch physische Bewegungen vor. Während Neumann den Nachweis eines Zusammenhangs zwischen rhythmischen Übungen und der verbalen Merkfähigkeit erbrachte, bilanzierte Wiebke Schwelgengräber den Stand der Aufgabenforschung und plädierte für den Einsatz gezielter Bewegungen zur Erreichung positiver Lerneffekte. Der Informatiker DENNIS MACIUSZEK (Rostock) erläuterte anhand des E-Learnings, wie sich reale physische Handlungen und Bewegungsabläufe durch den Einsatz von realistischen 3-D-Simulationen und Avataren viel besser erlernen lassen als durch die bisher üblichen 2-D-Graphiken. Einen innovativen Ansatz lieferte JÖRG LEMMER SCHMID (Marburg) mit seinen Untersuchungen zur Kontaktimprovisation, einer speziellen zeitgenössischen Tanzform. Er konnte Zusammenhänge zwischen der Ausübung der Kontaktimprovisation und einer Steigerung der subjektiven Lebensqualität nachweisen. Wie Schmid zeigen konnte, befinden sich die Tänzer nicht nur im Flow, sondern erleben zugleich auch Achtsamkeit und können dadurch das ausgeglichene und gesunde Lebensgefühl (Oneness) erreichen. Dass physische Bewegung, Sport und Körperkult aber auch negative Wirkungen haben und zu einer Form von Besessenheit führen können, machte DANIEL MÜNZNER (Rostock) am Beispiel der Homosexuellen in der Weimarer Republik und des in diesem Zusammenhang vermittelten hegemonialen Männerbildes deutlich.

Ein weiterer thematischer Komplex befasste sich mit „Menschen in Bewegung“ (Reisen, Wandern, Migration) und den bei ihnen ausgelösten Bewegungen im psychischen bzw. perzeptiven Sinne. KATRIN BRÖSIKE (Rostock) widmete sich den Berichten heimkehrender Soldaten aus dem Spanienkrieg (1808-1814). Durch die Reise und Fremdheitserfahrung gerieten die Heterostereotypen der Soldaten von Spanien und das Spanienbild im ehemaligen Deutschen Reich selbst in Bewegung. Die militärische Intervention veränderte nicht nur das Einsatzgebiet, sondern auch die Vorstellungswelt im Heimatland der Soldaten über das soziale Leben jenseits der eigenen Grenzen. Den Einfluss von Migration auf die gesellschaftliche Kollektivpsyche untersuchte auch INA CZUB (Rostock). Sie analysierte den bundesdeutschen Diskurs über Migration und Einwanderung von Gastarbeitern auf der Grundlage von Protokollen des Deutschen Bundestages. Bis in die 80er Jahre habe die Politik eine parteiübergreifende Verweigerungshaltung gegenüber einer Anerkennung der Einwanderer als gesellschaftliche Realität eingenommen. Die von der Wissenschaft entwickelten Konzepte von Integration und Assimilation seien ungenutzt geblieben. Stattdessen habe man mit widersprüchlichen Theorien Deutschland weiterhin als Nichteinwanderungsland zu deklarieren versucht. In den Beiträgen von SUSANNE RAPPE-WEBER (Burg Ludwigstein) und SUANNE LUBER (Eutin) spielten die Motive des Reisens und Wanderns eine zentrale Rolle. Während Rappe-Weber die Jugendbewegung des Wandervogels als Gegenbewegung zur Moderne deutete, mit deren Naturerfahrung die Töchter und Söhne des Bürgertums die städtische Welt hinter sich lassen wollten, bot Luber einen Überblick über den Wandel von Reiseerfahrungen und deren Reflexion in der Neuzeit, die sie anhand von Selbstzeugnissen illustrierte.

MATHIAS MEYER (Harvard) thematisierte die übertragene Bedeutung von „Bewegung“, indem er die Wandlungen des Begriffs in der politisch-sozialen Sprache Anfang des 19. Jahrhunderts nachzeichnete. Zunächst, so Meyer, kam es mit der französischen Revolution zu einer inflationären Verwendung von „Bewegung“ und verwandter Wörter. „Bewegung“ wurde als Aufruhr und Gegensatz zum konservativen Beharren gedeutet. In den 1830er-Jahren habe man dann die Konzepte von Bewegung und Beharren zu vereinen versucht, bevor in den 1840er-Jahren Bewegung immer stärker als Naturgesetzlichkeit gedeutet und damit die Forderung nach gesellschaftlichem Wandel verbunden worden sei. Schließlich wurde auch die metaphorische Dimension des Bewegungsbegriffs untersucht, der sich besonders die Referate von JULIANE EBERT (Rostock) und JENNIFER ROGER (Rostock) widmeten. Ebert belegte anhand der Stücke von Samuel Beckett, dass nicht die Sprache, sondern vielmehr die „Nicht-Bewegung“ den Schlüssel zum Verständnis des Theaters liefere. Roger zeigte bei ihrer Analyse französischer Erinnerungsfilme, dass Bewegung hier stereotypisierend eingesetzt werde. Der Beitrag von BIRGIT BRUNNER (Berlin) näherte sich dem Bewegungsbegriff in seiner habituellen Dimension. Sie stellte den aufrechten Gang als zentrales Motiv in vielen Wissenschaften heraus. Mit ihm sei fast immer auch die Interpretation einer geradlinigen und standhaften inneren Haltung verbunden, argumentierte die Theologin anhand zahlreicher Beispiele, insbesondere solcher aus religiösen und kulturellen Kontexten.

In seinem Abschlusskommentar bilanzierte HENNING NÖRENBERG (Rostock), dass Bewegung in den verschiedenen Disziplinen als Kommunikation, Selbstdarstellung oder Ausdruck des Selbstgefühls verstanden werde. Die verschiedenen Bewegungsbegriffe differierten demnach je nach Untersuchungsgegenstand auch innerhalb der Disziplinen und ließen sich einander ergänzend nutzen. Durch die Zusammenführung der Bewegungsdiskurse aus verschiedenen Disziplinen konnten Binnenstrukturen zwischen physischen und psychischen Bewegungskonzepten sichtbar und damit interdisziplinär verfügbar gemacht werden, so Nörenberg. Die Tagung habe zahlreiche Verbindungen zwischen den Konzepten zu Tage gefördert und so ein neues Wissensnetz geschaffen. Flow-Forschung könne nun auch in der Geschichtswissenschaft oder als „Nicht-Flow“ zur Erklärung des Stillstands im Theater des Absurden angewendet werden.

Komplettiert wurde die Tagung durch zwei Workshops von JÖRG LEMMER SCHMID und JENNIFER ROGER, die den TeilnehmerInnen die Möglichkeit zur Bewegungserfahrung boten.

Konferenzübersicht:

Einleitung: Stephanie Wodianka (Universität Rostock, Romanistik)

Sektion I: Körper und Seele

„Pilates als bewegungstherapeutische Methode bei Depressionen. Ein Interventionsvergleich mit einem Ausdauertraining“ Sophie Opitz (Universität Rostock, Sportwissenschaft)

„Rhythmus und Sprache“ Maria Neumann (Universität Rostock, Psychologie)

„Kontakt-Improvisation als Lebenskunst“ Lemmer Schmid (Universität Marburg, Motologie)

Sektion II: Bewegen –lernen

„Lernaufgaben und Bewegung“ Wiebke Schwelgengräber (Universität Rostock, Pädagogik)

„Transfer durch Transport? Virtuelle Welten als Mittler zwischen mentalen Modellen und motorischen Handlungen“ Dennis Maciuszek (Universität Rostock, Informatik)

Sektion III: Geschichte und Politik der Bewegung

„Von der Bewegung zur Bewegungspartei zur sozialen Bewegung. Kurze Geschichte des politischen Bewegungsbegriffs“ Matthias Meyer (Harvard University / Humboldt Universität Berlin, Literaturwissenschaft)

„Beweggrund Krieg“ Katrin Brösicke (Universität Rostock, Geschichte)

Sektion IV: Sektion Sport und Identität

„Sport als Mittel der Selbstkonstitution von Homosexuellen“ Daniel Münzner (Universität Rostock, Geschichte)

„Wandern - Gemeinschaftserfahrung und Bildungserlebnis im Wandervogel" Susanne Rappe-Weber (Archiv der deutschen Jugendbewegung, Burg Ludwigstein)

Sektion V: Sektion Menschen unterwegs

„Reisen als Bewegung im geographischen Raum und ihre Darstellung im historischen Reisebericht“ Susanne Luber (Forschungsstelle zur historischen Reisekultur, Eutin)

„Bewegung: Ein Stereotyp im französischen Erinnerungsfilm“ Jennifer Roger (Universität Rostock, Romanistik)

„Migration und die Konzepte Identität, Assimilation, Akkulturation sowie Integration im Spiegel der bundesdeutschen politisch-öffentlichen Debatte der 1960er bis 1980er Jahre“ Ina Czub (Universität Rostock, Geschichte)

Sektion VI: Stasis und Dynamik

„Der aufrechte Gang. Vielseitige Beweggründe einer menschlichen Haltung“ Birgit Brunner (Freie Universität Berlin, Theologie)

„Theater des Absurden – Theater des Stillstands?“ Juliane Ebert (Universität Rostock, Romanistik)

Abschlusskommentar: Henning Nörenberg (Universität Rostock, Philosophie)


Redaktion
Veröffentlicht am
Klassifikation
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts