Ereignis und System – Niklas Luhmann und die Geschichtsschreibung

Ereignis und System – Niklas Luhmann und die Geschichtsschreibung

Organisatoren
Deutsches Historisches Institut Paris
Ort
Paris
Land
France
Vom - Bis
02.05.2011 - 03.05.2011
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Von
Oliver Brokel, Goethe-Universität Frankfurt am Main

Das Deutsche Historische Institut Paris initiiert und fördert im Rahmen des deutsch-französischen Dialoges verstärkt die Begegnung von Geschichtswissenschaft und Theorie. Ziel einer zweitägigen Tagung im Mai 2011 war es, Konzepte der Systemtheorie auf ihre Fruchtbarkeit für die Geschichtsschreibung zu befragen. In zahlreichen Einzelstudien hat Luhmann, in Frankreich bisher wenig beachtet, die Grundlinien gesellschaftlicher Differenzierungsprozesse dargestellt und zeigt sich so für die Geschichtsschreibung als interessanter und kritischer Gesprächspartner. Die Tagung nahm sich zum Ziel das Gespräch mit Luhmann in beide Richtungen hin anzuregen, in Richtung der Geschichtswissenschaft, wie der unter französischen Philosophen, Sozialwissenschaftlern und Historikern. Die Leitung der Tagung lag bei Thomas Kisser (München).

GUDRUN GERSMANN, Direktorin des DHI Paris, sprach in ihrer Einführung vom Ereignis als gleichermaßen Bedingung moderner Geschichtsschreibung, wie Bedrohung der Vorstellung von Kontinuität in der Geschichte. Luhmann biete die Möglichkeit, das Ereignis einzuordnen, ohne Kontingenz und Diskontinuität zu verwischen. Nachdem das Nachdenken über den Sinn des Ereignisses und die Struktur der Geschichte gerade im französischen Denken tief ausgeprägt und dieses Denken von der deutschen Forschung aufmerksam verfolgt worden sei, scheine es nun angebracht, die Systemtheorie in diesen Kontext einzubringen. Dem bremsenden Mangel an Übersetzungen von Luhmann ins Französische möchte das DHI Paris mit Übersetzungen Luhmannscher Schlüsseltexte, die im Vorfeld dieser Tagung entstanden sind, entgegenarbeiten.

BARBARA STOLLBERG-RILINGER (Münster) fragte im Eröffnungsvortag nach den Ursachen für die Polarisierung der deutschen Historiker in Bezug auf Luhmann, sowie nach den Bedingungen einer eher fruchtbaren Auseinandersetzung. Ein Mangel an Verständnis auf Seiten der Kritiker zeige sich dort, wo Evolution als teleologisch-kausalanalytisches Modell rezipiert wird und dabei ignoriert wird, dass es sich bei der Luhmannschen Systemtheorie um ein Modell handle, das gerade nicht von der Einheit eines Prozesses, sondern von Differenz und historischer Kontingenz ausgehe. Umgekehrt stünden auch die Anhänger der Systemtheorie einer Verständigung im Weg, wenn hier die Zweck-Mittel-Relation zwischen abstraktem Konzept und Empirie zu Gunsten der Theorie umgedreht und diese um ihr selbst willen, gerade in ihrer Unzugänglichkeit, geschätzt würde. Eine Schwierigkeit für Historiker liege schließlich in der rigorosen Umstellung auf Kommunikation als Element und Grundoperation des Sozialen und die damit einhergehende Verabschiedung des Menschen und seines sinnhaften Erlebens und Handelns zugunsten von Systemoperationen, Kommunikationsereignissen und psychischen Systemen. Eine Öffnung nach außen scheint damit für eine systemtheoretisch arbeitende Wissenschaft nicht mehr möglich. Davon abgesehen ließen sich jedoch bereits Beispiele dafür finden, dass Luhmanns Systemtheorie für Historiker fruchtbar werden könne. Grundsätzlich wäre es möglich, ohne die vollkommene Beherrschung oder vollständige Übernahme dieser Großtheorie, wissenschaftlich von einer Anregung zu profitieren. Generell sollte aber im Umgang mit jeder anspruchsvollen Theorie eine Übersetzung in gehobene Alltagssprache die Richtschnur bleiben und die Theorie am Ende hinter ihrem Gegenstand zurücktreten. Unter diesen Bedingungen könne gerade das Kontraintuitive der Systemtheorie für den Historiker befruchtend sein, denn in der Perspektive einer Theorie, die die Bedingung von Strukturen sucht, die Kontingenz rekonstruiert und dazu Sinnhorizonte wie Selbstbeschreibungen explizit einschließt, würden vertraute, scheinbar fixe Wissensbestände fraglich.

FALK BRETSCHNEIDER (Paris) zog in seiner Erwiderung eine Parallele zu Foucault, sowohl im Hinblick auf vergleichbare Abwehrreaktionen der Wissenschaftsgemeinde, wie auch aufgrund einer vergleichbaren Abkehr vom Subjekt bei gleichzeitiger Aufwertung von Diskontinuität und Kontingenz. Jürgen Kaube gab zu bedenken, dass die Historiker mit der möglichen Aneignung der Systemtheorie, im Vergleich mit schneller adaptierenden Disziplinen wie der Germanistik, der Pädagogik oder der Theologie ohnehin spät kämen, sich damit allerdings auch das Risiko vermindere, zu rasch zu viel zu übernehmen. Auch habe die Geschichtswissenschaft insgesamt im Vergleich wenig Erfahrung mit Theorierezeption. Daran schloss Oliver Jahraus mit der Bemerkung an, Ziel der Aneignung von Theorien könne es auch nicht sein, alle Gegenstände anders zu beschreiben, sondern klügere Fragen zu stellen. Die Theorieaufnahme könne auch darüber nachhaltig in das Selbstverständnis der Wissensproduktion selbst eingreifen, als Infragestellen der Produktion von Ergebnissen, Wissensstrukturen oder Disziplingrenzen.

Ausgangspunkt des Beitrages von JEAN CLAM (Berlin/Paris) war die These, dass eine mögliche Schwierigkeit der Anwendung der Systemtheorie Luhmannscher Prägung auf das Thema Geschichte bzw. die Disziplin Geschichtswissenschaft darin liege, dass die Geschichte kein soziales System bildet. Geschichte als die Gesamtheit aller Fakten des Menschen sei von grundsätzlich anderer Art, als etwa moderne Funktionssysteme. Von dieser Feststellung ausgehend fragte Clam einerseits nach der Entstehung gesetzmäßiger Strukturen sozialer Ordnung, andererseits nach der klassischen Geschichtsschreibung, die im Nachhinein signifikante Fakten verbindet oder, als Reaktion auf eine solche Ereignisgeschichte, den Zugang der Archäologie wählt. Die Systemtheorie sei in der Lage, einen prätextuellen Fundus von Prozessen und Strukturen zu erschließen und damit das Medium zu beschreiben, auf dessen Basis sich Variationen zu komplexeren Zusammenhängen verbinden. Aus diesem Blickwinkel könne das Bild der Geschichte als der Gesamtheit sozialen Handelns, auch als eine ontologische Kategorie, überschritten werden.

JEAN FRANCOIS KERVEGAN (Paris) widersprach Clams These, Luhmann könne und wolle nur zu einer Theorie soziale Systeme, nicht aber zu einer Geschichtstheorie beitragen. Luhmann habe durchaus anschlussfähige begriffsgeschichtliche Untersuchungen vorgelegt. Seine dynamische Variante der Systemtheorie räume der Geschichte einen signifikanten Platz ein, trotzdem es sich nicht um ein ausgesprochenes Denken des Ereignisses handle. Hinsichtlich der Deontologisierung der Geschichte hält Kérvegan Clams Kritik einer, um Ereignisse als Fakten zentrierten Historiographie für unangebracht bzw. für nicht zeitgemäß.

OLIVER JAHRAUS (München) erklärte in seinem Beitrag den interdisziplinären, internationalen Diskurs zwischen Soziologie, Philosophie und Historiographie sowie besonders einen inter-theoretischen Diskurs zum Testfall für die Systemtheorie Luhmanns. Die systemtheoretische Historiographie sei gekennzeichnet durch den Ereignisbegriff wie ein Verständnis von Verzeitlichung in Form des Prozesses. Indem Luhmann historische ebenso wie systematische Konstellationen als Prozesse denke, trete regelmäßig ein Historizitätsverlust ein. Seine Differenztheorie denke vom System und dessen Funktionen her und verstelle sich so die historische Dimension, wie sich an der Ablehnung des Epochenbegriffes zeigen lasse. Die Folge dieser Ablehnung bestehe darin, dass Veränderung buchstäblich systematisch gedacht werden müsse, was wiederum eine Reduktion auf ein Dreiepochenmodell zur Folge hätte, oder „Historie ohne Historizität“. Luhmanns Misstrauen gegenüber einer apriorischen Geschichte und seine Konzentration auf Diskontinuität und das Ereignis bedeute dabei nicht den Rückfall aus der Universalgeschichte in vielperspektivische Geschichten. Die Fokussierung von Diskontinuität könne über den Begriff des Re-entry als Angelpunkt zwischen Systemtheorie und Historiographie, gelingen. Der Begriff des Ereignisses wird hier als das Eintreten der Geschichte in sich selbst bestimmt und dieser Wiedereintritt lege fest, was innerhalb der Geschichte als geschichtlich aufgefasst zu werden vermag. Historiographie wäre damit als Geschichte ereignishafter Re-entrys bestimmt. Darüber wäre beides gesichert, die Erschließung neuer, verschiedener Geschichten, wie andererseits die Erhaltung der Einheitsperspektive.

MARCUS COELEN (München) antwortete mit dem Verweis auf den Topos radikaler Andersheit. Die Unmöglichkeit des Ausgreifens auf das Ereignis und die Unmöglichkeit des Verstehens des Verstehens deute auf das Dritte zwischen Geschichte und System hin, auf Unvereinbarkeit und Unmöglichkeit des Übergangs. Elena Esposito eröffnete die Diskussion mit der Frage, ob Geschichtsbegriffe und das zirkulär-autologische Thema kompatibel seien. Wenn alles in Soziologie überführbar wäre, würde die Historiographie unnötig sein. Wir bräuchten jedoch offenkundig immer noch Geschichte, was sich also jetzt stellt, wären Fragen nach dem Verhältnis von Soziologie und Historiographie. André Kieserling bezweifelte, dass mit dem von Luhmann formulierten Mindestanspruch von drei Phasen oder Epochen die Reichweite seines Ansatzes schon festgelegt wäre. Warum sollte es nicht auch eine Geschichte ohne Phasen oder Epochen geben?

Der Beitrag von LUKAS SOSOE (Luxembourg) beschäftigte sich mit dem Potenzial der Luhmannschen Systemtheorie zur Beschreibung gesellschaftlichen Wandels auf dem Weg der spezifischen Verknüpfungen von Semantik und Sozialstruktur. Die soziale Evolution sieht zwischen Semantik und Sozialstruktur keine direkten Bedingungsverhältnisse vor, und geht stattdessen von einem zirkulären Verhältnis aus. Insgesamt entspräche dabei die gesellschaftliche Einheitsfunktion der vorhandenen immanenten Differenzierungsfähigkeit. Kann man annehmen, dass signifikante Veränderungen hinsichtlich Komplexitätszunahme und Differenzierung sich in den wechselseitig abhängigen Größen Sachdimension, Zeitdimension, Sozialdimension beobachten ließen, so fragte Sosoe. Und unter welchen strukturellen Bedingungen könnten wir von einer autonomen Entwicklung von Ideen in einem sozialen System sprechen, die die Bezeichnung Ideengeschichte oder Ideenevolution verdiente?

In seinem Koreferat bekräftigte FLAVIEN LEBOUTER (Freiburg) den Zugang, Gesellschaftsstruktur und Semantik als zirkulär verfasst und auf eine Weise verbunden zu denken, dass sich die Semantik in der Gesellschaftsstruktur spiegle, welche sich ihrerseits wieder in der Semantik niederschlage. Vor dem Hintergrund dieses dynamischen, kontingenten, diskontinuierlichen Prozesses stelle sich die Frage des Zutreffens einer Semantik gegenüber der entsprechenden Gesellschaftsstruktur.

Was wäre, unter dem Eindruck einer zeitlich ausgelegten Systemtheorie, eine Würdigung des Ereignisses als einer historischen variablen Form? Diese Frage beantwortete RUDOLF SCHLÖGL (Konstanz) in seinem Beitrag. Der Ereignisbegriff der Systemtheorie hebe zuerst auf die Flüchtigkeit der Kommunikation ab. Das Soziale und mit ihm Zeit entsteht in der Stabilisierung, der Ausbildung von Erwartbarkeit im Aufeinandertreffen von Sinnhorizonten. Mit zunehmender Verschiedenheit der gesellschaftlichen Differenzierungsmuster schließlich geht eine wachsende Abstraktion der Zeit einher. In dem Maße, in dem Systemtheorie Gesellschaft grundsätzlich zeitlich denkt, bewegt sie sich weg vom Ereignisbegriff des Historikers, dahin, Zeitformen als Ergebnis sozialer Differenzierung aufzufassen. Inwiefern findet in diesem Bild der Ereignisbegriff des Historikers Platz? Schlögl skizzierte das Ereignis als einen Kommunikationszusammenhang, der sich aus der Gegenwart des Systems heraushebt, um für sich seine Gegenwart und Vergangenheit zu unterscheiden. Das Ereignis wäre damit einerseits abhängig von Systemen und den darin sozial verfügbaren Zeitformen, andererseits wäre es gegenüber diesen in einer reflektierenden Position. Von hier aus betrachtet Schlögl die überschaubaren Formen des Ereignisses und der Zeithorizonte der frühen Neuzeit, und setzt dazu Beispiele der Folgen der Vervielfältigung der Kommunikation, der Ausdifferenzierung von Zeitebenen und Selbstbezüglichkeit im Zuge der gesellschaftlichen Modernisierung in Kontrast. Ereignisse, so das Resümee, träten nicht als Fremdkörper auf, sondern in spezifischen Kommunikations- und Zeitformen, die wiederum von ihnen geprägt würden. Diese Zusammenhänge illustrierte Schlögl zuletzt an den reflexiven Ereignissen Reformation, Dreißigjähriger Krieg und Französische Revolution.

MICHAEL WERNER (Paris) begann seine Erwiderung mit der Frage Unzugänglichkeit des systemtheoretischen Vokabulars und fragt weiter nach zwei Aspekten des Ereignisbegriffes. Im Französischen sei mit Ereignis das bemerkenswerte Geschehen gemeint, die Systemtheorie beziehe sich dagegen auf das Ereignis im Sinne nur je aktueller Operationen. Schlögl, so Werner, bringe mit seinem Bezug auf Großereignisse beides zusammen. Inwiefern passt die Bestimmung des Ereignisses als momenthaftes, zur weiteren Beschreibung als „emergierender Kommunikationszusammenhang“, der sich aus dem System gegen das System etabliere, wie passt der sinnhafte Ereigniszusammenhang des Historikers zur Ereignisstruktur der Systemtheorie? Auf die von Werner aufgeworfene Frage nach der allgemeineren Verständlichkeit des Historikers im öffentlichen Raum antwortete Schlögl mit einer Unterscheidung; gesellschaftliche Erinnerungskultur ziehe den Anspruch auf Übersetzbarkeit nach sich, doch als Wissenschaftler sei eine gewisse Hartnäckigkeit vertretbar, schließlich sei es die Aufgabe der Wissenschaft, die Welt nicht einfach, sondern komplizierter zu machen.

Der Vortrag ELENA ESPOSITOS (Modena) bezog sich auf die systemtheoretische Aneignung der Evolutionstheorie. Trotzdem die systemtheoretische Soziologie wesentlich historisch denke, ergebe sich allein dadurch eine Spannung zur Geschichtswissenschaft, dass diese Kausalerklärungen einfordere und hervorbringe, jene dagegen auf ein zirkuläres Objekt ausgerichtet sei. Mit der Ausrichtung auf eine Gesellschaft, zu der Selbstbeschreibungen und Reaktionen auf Selbstbeschreibungen gehören, sei die Systemtheorie grundsätzlich anders orientiert. Die strukturelle Unübersichtlichkeit einer sich selbst beobachtenden Gesellschaft für die Beobachtung lasse Kausalerklärungen obsolet werden, mache den Rückgriff auf die Evolutionstheorie dagegen umso fruchtbarer. Hier könnten zirkuläre Prozesse abgebildet werden, in denen ungeregelte soziale Veränderungen zu Anknüpfungspunkten neuer, wiederum zufälliger Veränderungen werden. Für die Historiographie sieht Esposito dort Anknüpfungsmöglichkeiten, wo gesellschaftliche Selbstbeschreibungen thematisiert werden sollen, sie sieht andererseits dort Grenzen der Aneignung, wo die Zirkularität die zeitliche Ordnung vollends unterläuft. Die systemtheoretische Aneignung der Evolutionstheorie erläutert Esposito an Hand des Themas der Bewertung von Neuheit, die mit ausgesprochener Abwehr beginnt, um zuletzt in eine Entwicklung zu münden, die sich selbst beschleunigt und die weitere Produktion von Neuem anregt. Die Perspektive der Evolutionstheorie könne darin mehr erkennen, als eine bloße Veränderung innerhalb einer gegebenen Gesellschaft, sie erlaube nicht nur die Beschreibung von Veränderung einer gegebenen Ordnung, sondern die Beschreibung einer Ordnung der Veränderung selbst. Phänomene gewinnen gerade als zeitliche Kontur und Zeit kann umgekehrt als ein Effekt dieser Ereignisse erscheinen; damit ist eine Stabilität gedacht, die außerhalb der Kommunikationsoperationen nirgendwo mehr vorgehalten würde. Kann die historische Forschung, so fragte Esposito abschließend, den evolutionstheoretischen Ansatz Gewinn bringend einsetzen, einen Ansatz, der ganz auf zeitübergreifende Identitäten verzichtet, ja die sogar die Zeit als variabel begreift und offen zirkulär argumentiert?

MONIQUE DAVID-MENARD (Paris) stellte in ihrem Koreferat die Frage nach den Bedingungen der Anwendbarkeit der Evolutionstheorie auf soziale und historische Phänomenbereiche. Sie weist darauf hin, dass in der Biologie Variation nicht mit Systematizität kompatibel sei und fragt schließlich, ob Identität in der Luhmannschen Systemtheorie nicht als Ganzes gedacht würde, ob also Luhmann nicht Variation doch innerhalb eines Systems im Sinne einer gegebenen Einheit denke.

ANKE BITTER (Marburg) gab ein Beispiel, wie die Kommunikationstheorie Luhmanns sich zu historiographischen Untersuchungen verhalten kann. Das geschah am Beispiel der jungen Disziplin der Designgeschichte. Von weitreichenden Veränderungen im Bereich der Warenwelt im Laufe des 19. Jahrhunderts ausgehend, wurden Ansätze diskutiert, diese Entwicklung auf Veränderungen auf der Ebene des Warencharakter, des Konsums oder von Marktprozessen zurückzuführen. Diese, so die Folgerung, griffen zu kurz, stattdessen wäre die Frage nach der spezifischen sozialen Funktion des modernen Gebrauchsgegenstandes zu stellen. In Abgrenzung von Projekten einer semiotischen Erschließung des Phänomens Design, als Gegenstände mit kommunikativer Funktion, müsste der Gebrauch der Dinge selbst als Kommunikation verstanden werden. In Abgrenzung zur Kunst als einem Fall einer solchen objektbezogenen Kommunikation, sei es im Design jedoch nicht die rekursive Formensuche, mit der auf das Kommunikationsangebot reagiert wird, sondern eben der Gebrauch. Der Gebrauchsgegenstand wird dabei nicht als Ding verstanden, der auch zum Gebrauch taugt, sondern als etwas, dessen zum Gebrauch Gemacht-Sein für die Bezugnahme überhaupt entscheidend ist. Darin wäre auch seine spezifische soziale Funktion zu suchen, die sich über den Unterschied von Form und Funktion weiterbestimmen lasse. Die Funktion ihrerseits sei nun gerade nicht der Wahrnehmung zugänglich, sondern eben mit Blick auf den Gebrauch, und damit, als Funktion, auf die Form verwiesen. Hier knüpft die Bestimmung des Gebrauchsgegenstandes im Rahmen eines dreistelligen Kommunikationsprozess mit folgenden Selektionen an: Form (Mitteilung), Funktion (Information) und das Beobachten einer Form als für eine Funktion gemacht (Verstehen). In diesem Sinne könne vom Umgang mit dem Gebrauchsgegenstand als einem Sozialmedium gesprochen werden.

ANNE SAUVAGNARGUES (Paris) fragte, ob nicht der Begriff „Design“ als Kunstform und Technik doch eine Einbindung in die Geschichte der Geschichte der Kunst verlange. Das verstärkte Interesse am Design stellte sie in den Kontext der Fragen der Ethnologie nach Kult- und Gebrauchsobjekten. In der Diskussion fragte Elena Esposito nach dem Kriterium für Kommunikation, letztlich sei dies eine empirische Frage, die sich daran entscheide, ob etwas als Kommunikation verstanden wird oder nicht. Wenn der ästhetische Aspekt im Zentrum stehe, könne Design eventuell doch als Unterart der Kunst, möglicherweise sogar als Reflexion der Kunst in der Kunst (Rücknahme der Autorenfunktion, zurücktretende Ästhetisierung) beschrieben werden.

ANDRÉ KIESERLING (Bielefeld) begann mit einer wissenssoziologischen Perspektive auf die Wissenssoziologie selbst, sein Thema war die Geschichte des Repräsentationsdenkens. Der Beitrag setzte dort an, wo die, mit dem Verweis auf die privilegierte Rolle im Hinblick auf die Repräsentation des Ganzen begründete Privilegierung einer Gruppe oder Schicht ihre, in der Antike bzw. der Vormoderne lange fraglose gebliebene Plausibilität verliert. An diesem, von Louis M. Dumont beschriebenen Phänomen ließen sich eine Reihe von Ablösungsformen dieses Denkens beschreiben, an deren Ende Luhmanns Gesellschaftstheorie in einer Doppelrolle steht, als letzte Figur einer Reihe und als Standpunkt, von dem aus diese Reihe erst beobachtbar würde. Während in der Vormoderne eine Asymmetrie zwischen gesellschaftlichen Teilen als Ausdruck einer Ungleichheit im Verhältnis zum Ganzen also bloße Erscheinung ist, wird auch diese Idee der Repräsentation im Übergang zur Moderne fragwürdig. Angesichts dieser Legitimationskrise erwiesen sich die verschiedenen modernen Versuche der Bestimmung einer gültigen Repräsentation der Gesamtgesellschaft in einem ihrer Teile als interessant. Kieserling zeigte an Hand einer Reihe solcher Positionen (u.a. Marx, Mannheim, Bourdieu), wie die repräsentativen Gruppen sich vom Bild der Schichtung entfernen und dem des Luhmannschen Funktionssystems annähern. Luhmanns Anverwandlung des Repräsentationsthemas ließe sich demnach so zusammenfassen: Jedes Funktionssystem repräsentiert die Gesellschaft, es tut dies aber (nur genau) gemäß der eigenen Funktion. Die Repräsentationsvorstellung würde so einerseits weitergetragen, andererseits aber multi-perspektivisch unterlaufen. Mit diesem Vorschlag Luhmanns verliert die Schichtungsproblematik einen Teil ihrer Brisanz, die eben daher gerührt habe, dass es sich um Fragen der Repräsentation mit Hinblick auf die Einheit der Gesellschaft handelte.

Elena Esposito warf die Frage ein, was es bedeute, wenn Funktionssysteme alle das Ganze repräsentierten. Könne man unter diesen Voraussetzungen noch von Repräsentation bzw. einem Ganzen sprechen oder kollabiere mit dieser Perversion des Singular nicht das Konzept Repräsentation? Schlögl schloss daran die Frage nach dem sozialen Zusammenhang, der Kohärenz in der modernen Gesellschaft an, danach, was in dieser Gesellschaft als Garant für Gesellschaft fungiere.

ESTELLE FERRARESE (Strasbourg) beleuchtete das Thema der Gleichheit aus der Perspektive von Luhmanns Untersuchungen zu Semantik und Sozialstruktur, d.h. im Medium der Selbstbeschreibung der Gesellschaft. Luhmann behandle Gleichheit als evolutionäres Ordnungsschema im Verhältnis zu allgemeinen funktionalen Differenzierungsformen. Die moderne Gesellschaft kenne auf der Ebene ihrer Funktionssysteme den Modus der Unter- oder Ungleichheitsordnung nicht, sondern verfahre dort inkludierend. Gleichheit trete nicht als Wert oder Faktum auf, sondern als Gleichgültigkeitsprinzip, sofern vorhandenen Ungleichheiten ohne funktionsspezifischen Bezug ausgeschlossen würden. Die funktionale Differenzierung kennt dabei zwei konkurrierende Integrationsformen, negativ integrativ: der Ausschluss aus einem Funktionssystem zieht den Ausschluss auch aus allen anderen Funktionssystemen nach sich, sowie positiv integrativ: ein Einschluss führt zur Inklusion in alle anderen Teilsysteme. Exklusion tritt dabei als Restphänomen auf. Der Unterscheidung von Inklusion und Exklusion auf struktureller Ebene entspräche auf der Ebene der Semantik die Rede von Freiheit und Gleichheit.

In der Diskussion plädierte André Kieserling für eine Trennung zwischen der Untersuchung der Gebiete Inklusion und Exklusion bzw. Gleichheit und Ungleichheit. Der Sinn von Gleichheitsformeln sei Luhmann zufolge nicht eine tatsächliche Nivellierung, sondern die Erwartung einer funktionalen Begründung von Ungleichheit. Insofern führe mehr Gleichheit nicht zu weniger Ungleichheit, sondern im Gegenteil zu einer Steigerung funktional spezifischer Ungleichheit. Wolfgang Kaiser fragte allgemein, ob nicht die realen Sachverhalte der Vormoderne komplizierter seien, als die Differenzierungstheorie das für primär stratifikatorisch geordnete Gesellschaften nahelegt, und ob nicht der funktionale Differenzierungstyp schon mit Gewinn auf die Vormoderne anzuwenden sei. Kieserling antwortete mit der Vermutung, dass hier womöglich die Anziehungskraft eines zeitgemäßen Vokabulars oder einer zeitgemäßen Themenwahl diesen Gedanken eingibt. Schlögl sprach in diesem Zusammenhang von einer Möglichkeiten der Systemtheorie für die Geschichtswissenschaft dort, wo nicht die Erwartung auf die rasche Erklärung der Befunde gehegt, sondern die Systemtheorie dazu genutzt wird, mittels Überlegungen zu funktionalen und hierarchischen Typen gesellschaftlicher Differenzierung nicht nur empirische Befunde zu erschließen, sondern dafür Erklärungen zu liefern.

HUGUES RABAULT (Metz) begann seinen Beitrag mit der Feststellung, Juristen könnten arbeiten, ohne die Frage zu beantworten oder überhaupt die Frage zu verstehen, was das Recht sei. Die Luhmannsche Systemtheorie dagegen stelle und beantworte diese Frage, weswegen der Vortrag sich mit der sozialen Funktion des Rechts im Allgemeinen und der Rolle der Zeit in diesem Kontext im Speziellen beschäftige. Die Systemtheorie mache am Recht eine eigene Semantik sowie spezifische Programme aus. Der Kodifizierungsrationalismus etwa, als das zentrale Präsens, das entscheidet, was in Zukunft eintreten wird, sei für das Recht zentral. Das Recht könne nun in zweierlei Weise beobachtet werden, einmal als stabilisierender Mechanismus, als eine Behandlungsweise doppelter Kontingenz, als Reduktion von Welt-Komplexität, zum anderen schaffe das Recht eine gemeinsame Welt der Zielsetzungen und Verhaltenserwartungen. Dabei verfolge es viel eher das Ziel, Konflikte zu regulieren, denn Konsens herzustellen. Im Naturrecht projiziere sich eine Rechtsnorm in die Zukunft und mache Erwartungen handhabbar; das Strafrecht bedeute die Wahrung der Legalität durch eine Beziehung von Vergehen und Repression. Das Recht erlaubt eine stärkere soziale Temporalisierung. Ähnlich wie die Schrift Gedächtnis stabilisiert, so stabilisiere Recht Verhalten in instabilen Relationen. Während der Rechtsstaat in diesem Sinn in Richtung einer Stabilisierung wirke, bleibe Politik wesentlich kontingent und auf reine Machterhaltung beschränkt.

RAINER MARIA KIESOW (Paris) sprach in seiner Erwiderung von der Rechtsprechung, als einem ständigen Spiel von Wiederholung, Variation, Erwartung und Enttäuschung. Nicht Gesetze oder Programme entschieden die verfahrensmäßige Abwicklung dieser Betriebsamkeit, sondern Entscheidungen und Gerichte. Jedes einzelne Urteil stelle das Recht in die Zeit und mache die Rechtsproduktion zu einem nicht feststellbaren Ort. Statt eine Einheitsvorstellung zur Verfügung zu stellen sei das Recht in den Entscheidungen reine Aktualität. In der Diskussion hielt Elena Esposito fest, dass aus der Sicht der Systemtheorie im Recht einzig Erwartungen gebunden werden könnten und darüber hinaus gehende Zeitbindungen oder Zukunftsbindung, etwa die Möglichkeit, zukünftige Handlungen vorherzusagen, nicht angenommen werden könnten. Alles könnte anders sein, aber fast nichts könne sich ändern.

Zu Beginn der abschließenden Diskussion formulierte JÜRGEN KAUBE (Frankfurt am Main) ein mögliches Verwundern darüber, dass es so etwas wie eine allgemeine Geschichtswissenschaft überhaupt gibt. Es gäbe disziplinspezifische Geschichte, Rechtsgeschichte, Religionsgeschichte etc., wieso gibt es darüber hinaus eine General-Historik, die ohne Präfix, nach Zeiten und Epochen strukturiert? Bei Luhmann selbst, der in gewisser Weise auf den Übergang einer primär stratifikatorisch zu einer primär funktional differenzierten Gesellschaft fixiert sei, kämen diese Epochen nicht vor und Zeitsprünge sind die Regel. Dieses Fehlen wäre für die Aneignung durch die Geschichtswissenschaft tatsächlich ein Problem. Ein anderes Problem mag in der Spannung zwischen Philosophie bzw. begriffsstarker Abstraktion und empirischer Forschung liegen. Daneben ließen sich jedoch Beispiele für eine Gewinn bringende Anregung des Historikers durch die Soziologie angeben, etwa wenn der Historiker Wissen über Organisationen aus der Soziologie zu gewinnen vermag oder für die Interaktionsgeschichte eine elaborierte Technik, Dokumente spezifischer Interaktionen zu lesen, gewönne. André Kieserling wies darauf hin, dass die Soziologie in einer ähnlichen Lage ist, wie die Geschichtswissenschaft, nämlich ohne Präfix, noch einmal quer zu den speziellen Sachkategorien erfolgreich zu existieren. Rudolf Schlögl sah eine brauchbare Verbindung von Soziologie und Historiographie in der gesellschaftlichen und historischen Verortung mikrosoziologischer Betrachtungen. Hier biete die Systemtheorie eine Anregung mit Aufforderungscharakter. Er stellte die Frage aber auch umgekehrt: Ist das, die Arbeit des Historikers, für die Soziologie interessant? – und vermutet hier umgekehrte Umsetzungsprobleme und eine Irritation der Soziologie. Unkenntnis, so Schlögl, müsse auch auf Seiten der Soziologie zur Kenntnis genommen werden. Während Kieserling, was die Übernahme oder das Anleihen-Nehmen von der Systemtheorie angeht, den Vorschlag machte, vielleicht nicht alles, was die Systemtheorie auszumachen scheint, einzukaufen, ging Kaube einen Schritt weiter und stellt einer extensiven Luhmann-Rezeption die Möglichkeit entgegen, einzelne einfache soziologische Mittel und Methoden in das geschichtswissenschaftliche Repertoire aufzunehmen und damit die bloße Illustration einer Großtheorie zu vermeiden.

Konferenzübersicht:

Gudrun Gersmann, Direktorin des Deutschen Historischen Instituts Paris: Begrüßung und Einführung / Introduction

Barbara Stollberg-Rilinger, Münster: Die Historiker und die Zumutung der Systemtheorie. /L’historien face aux exigences de la théorie des systèmes.

Koreferat/Répondant: Falk Bretschneider, Paris

Jean Clam Berlin/Paris: Sur quel fond l’histoire prend-elle forme? / Auf welchem Grund nimmt die Geschichte Form an?

Koreferat/Répondant: Jean François Kérvegan, Paris

Oliver Jahraus, München: Geschichte der Systeme – Systeme der Geschichten / L’histoire des systèmes – Le systèmes des histoires

Koreferat/ Répondant: Marcus Coelen, München

Lukas Sosoe, Luxembourg: Ereignis und System. Luhmanns Studien zu Gesellschaftsstruktur und Semantik / Événement et système. Structure sociale et sémantique historique chez Niklas Luhmann.

Koreferat/ Répondant: Flavien LeBouter, Freiburg

Rudolf Schlögl, Konstanz: Ereignisse in der frühneuzeitlichen Vergesellschaftung unter Anwesenden / L’événement et la présence. La socialisation au début de l’âge de moderne.

Koreferat/ Répondant: Michael Werner, Paris

Elena Esposito, Modena: Neuheit und Evolution / Nouveauté et évolution.

Koreferat/ Répondant: Monique David-Ménard, Paris

Anke Bitter, Marburg: Eigen-Sinn der Dinge? Zur Geschichte des Gebrauchsgegen-standes / L’obstination des choses. Réflexions sur l’histoire des objets d’usage courant.

Koreferat/ Répondant: Anne Sauvagnargues, Paris

André Kieserling, Bielefeld: Hierarchien als Repräsentationsasymmetrien bei Niklas Luhmann und Louis Dumont / Les hiérarchies comme asymétries de la représentation. La société traditionelle selon Niklas Luhmann et Louis Dumont.

Koreferat/ Répondant: Wolfgang Kaiser, Paris

Estelle Ferrarese, Strasbourg: La `Begriffsgeschichte´ de Niklas Luhmann. Réflexions sur la notion d’égalité. / Niklas Luhmanns Begriffsgeschichte. Reflexionen über den Begriff der Gleichheit.

Koreferat/ Répondant: Wolfgang Kaiser, Paris

Hugues Rabault, Metz: Droit et dans la théorie juridique de Niklas Luhmann / Recht und Zeit in Niklas Luhmanns Rechtstheorie

Koreferat/ Répondant: Rainer Maria Kiesow, Paris

Abschlussdiskussion unter der Leitung von Jürgen Kaube, Frankfurt a. M. / Conclusion sous la direction de Jürgen Kaube, Francfort sur le Main.


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