Narrative kultureller Identität – Ostdeutsche Erinnerungsdiskurse nach 1989

Narrative kultureller Identität – Ostdeutsche Erinnerungsdiskurse nach 1989

Organisatoren
Elisa Goudin-Steinmann, Université Sorbonne Nouvelle - Paris 3; Carola Hähnel-Mesnard, Université Charles de Gaulle - Lille 3
Ort
Paris
Land
France
Vom - Bis
13.10.2011 - 15.10.2011
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Von
Bénédicte Terrisse, Université Paris-Sorbonne, Paris IV

Vom 13.-15. Oktober 2011 fand an der Pariser Universität Sorbonne Nouvelle-Paris 3 eine international besetzte Tagung statt, die sich aus narratologischer Perspektive mit der Analyse ostdeutscher Erinnerungsdiskurse und den Manifestationen einer spezifischen kulturellen Identität zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer beschäftigte. Die Tagung richtete sich in transdisziplinärer Perspektive an Historiker, Soziologen, Kultur- und Literaturwissenschaftler. Hauptziel war es, Forschungen zur Konstitution ostdeutscher Erinnerungsdiskurse mit Überlegungen zur Narrativität zu verbinden.

Den Eröffnungsvortrag der Tagung hielt DOROTHEE WIERLING (Hamburg), die anhand lebensgeschichtlicher Interviews aus drei verschiedenen Erfahrungskohorten (Aufbaugeneration, erste Nachkriegsgeneration und Wendegeneration) bestimmte generationsspezifische Erzählmuster über die DDR aufzeigte. Dabei lieferte Wierling auch einen theoretischen Rahmen für die Tagung, indem sie die Geschichtswissenschaft grundsätzlich mit der Erzähltheorie in Verbindung brachte und unterstrich, inwiefern vor allem die oral history mit Erzählungen als einem „Endprodukt jeder Erzählung über die Vergangenheit“ operiere. Generation wurde in diesem Zusammenhang als eine „Kategorie der Ordnung von Erzählungen“ verwendet.

Das Auftaktpanel am Donnerstag beleuchtete aus literarischer, soziologischer sowie ethnologischer Perspektive Erinnerungsräume und -bilder und machte so den interdisziplinären Anspruch der Tagung gleich zu Anfang deutlich. ANNA CHIARLONI (Turin) ging anhand von Christa Wolfs autobiographischem Roman „Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud“ einer Identitätssuche nach, die die persönlichen Erfahrungen, Erlebnisse und Erinnerungen an die DDR sowie an eigene Verstrickungen in den Kontext einer Rememorierung von Exilerfahrung und Holocaust stellt und damit gleichfalls auf die Konstruktion einer europäischen Identität verweist.

Mit ihrem Vortrag zu spezifischen Modalitäten der Erinnerungskonstruktion bei Nachwendekindern konnte HANNA HAAG (Hamburg) aus soziologischer Perspektive an die von Dorothee Wierling vorgetragenen Überlegungen zu den einzelnen DDR-Generationen anknüpfen. Es wurde deutlich, wie diese Generation, die keine eigenen Erinnerungen mehr an die DDR hat, über inter- und intragenerationale Diskurse im Familiengedächtnis Erinnerungen konstruiert, diese aber auch mit öffentlichen Diskursen über die DDR ins Verhältnis setzt und das Familiengedächtnis korrigiert oder relativiert.

LIZA CANDIDI (Turin) verdeutlichte aus ethnologischer Perspektive anhand der Analyse urbaner und musealer Erinnerungsräume die in Hinblick auf die DDR-Erinnerung bestehende Existenz paralleler Erzählungen und Erinnerungsvorgänge. In Anlehnung an Claude Levi-Strauss und Jan Assmann benutzt Candidi das Konzept der „kalten“ und „warmen“ Erinnerung, um die Diskrepanz zwischen öffentlichem und privatem Gedächtnis zu unterstreichen.

Der erste Teil des zweiten Tags der Tagung wurde den soziologischen Analysen des Erinnerungsdiskurses über die DDR gewidmet. THOMAS AHBE (Leipzig) analysierte ostdeutsche Identitäten nach zwei Dekaden staatlicher Einheit unter einem soziologischen und diskursanalytischen Gesichtspunkt. Durch die Verknüpfung von quantitativen Analysen und qualitativen Befunden gelang es Thomas Ahbe ein überzeugendes Porträt ostdeutscher Identitäten zu entwerfen. Diese schwanken zwischen Bekennung zur gesamtdeutschen Identität und Gefühlen der Benachteiligung gegenüber den Westdeutschen. Die fehlende Widerspiegelung ostdeutscher Wahrnehmung in den durch westliche Maßstäbe dominierten Medien führe zur Ansiedlung der ostdeutschen Selbstwahrnehmungen zwischen Erkennen des Vereinigungsgewinns und fehlender Identifikation mit der Bundesrepublik. Anschließend unterschied er zwischen drei ostdeutschen Gedächtnisformen bzw. -arenen mit jeweils unterschiedlichen Öffentlichkeits- bzw. Marginalisierungsgraden. Die Metapher der ostdeutschen Erinnerung als Eisberg erwies sich dabei als besonders einleuchtend für den weiteren Tagungsverlauf. Daran anknüpfend kontrastierte SUSAN BAUMGARTL (Leipzig) die nachträgliche Konstruktion des 9. Oktober 1989 in Leipzig als Gedenktag und „Metaerzählung des Widerstands gegen die Diktatur“ im Jahre 2009 mit den Erinnerungen von Bürgern und Bürgerinnen der ehemaligen DDR, mit denen sie Interviews führte. Die Soziologin zeigte besonders deutlich die Vereinnahmung der ostdeutschen Erinnerungen an den Herbst 1989 im Dienste der Errichtung eines gesamtdeutschen Gründungsmythos auf.

Mit nachträglicher Identitätskonstruktion befasste sich ebenfalls ANNA-CHRISTIN RANSIEK (Göttingen). Ihr Vortrag stellte die wandelnde Wahrnehmung von erlebtem Rassismus einer Afro-Deutschen dar, die in der DDR sozialisiert wurde. Der methodologische Ansatz der Biographieforschung ermöglichte es ihr, die Unterschiede in der Deutung der Befragten von vergleichbaren Erlebnissen vor und nach der Wende als „Grenzen der Möglichkeit des Sagbaren in der DDR“, wo der Rassismus offiziell nicht existiert habe, bzw. als nachträgliche Rechfertigung des Ostens, der nach der Wende in den Medien als rechtsextremistisches Territorium pauschal stigmatisiert werde, zu interpretieren. Das Spannungsverhältnis zwischen der eigenen Identität als Afro-Deutscher und als Ostdeutscher tritt so explizit zu Tage.

Mit weiblicher Identität in der DDR setzte sich der Vortrag von RAMONA KATRIN BUCHHOLZ (Bremen) unter dem Titel „Die ‚Sprache des Verschweigens’ – Eine Erinnerungstheoretische Annäherung an die Erzählung vom ‚Gleichstellungsvorsprung’ ostdeutscher Frauen“ auseinander. Sie analysierte die Texte der Interviewliteratur von Frauen seit der Wende, in denen oft dazu tendiert wird, ostdeutsche Frauen als „Verliererin der Wiedervereinigung“ darzustellen, was aus historischer Sicht bestritten werde. R.K. Buchholz nahm sich vor, aufzuzeigen, wie sich diese lückenhafte Erinnerung konstruiert und auf einem Verschweigen beruht. MAXIMILIAN SCHOCHOW (Leipzig) warf seinerseits die Frage nach der identitätsstiftenden Funktion ostdeutscher Kinderbetreuung auf und rekonstruierte die Erzählungen um die DDR-Kinderkrippen, wie sie sich seit der „Töpfchen These“ des Kriminologen Christian Pfeiffer 1999 kristallisieren, der eine Verbindung zwischen der kollektiven Kinderbetreuung in der DDR und der Entwicklung des Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern nach der Wende herstellte. Mit dem Begriff der „Erinnerungsorte“ knüpfte Schochow an die Fragestellung des Aufsatzes von Sandrine Kott 1 an.

Die fünf folgenden Vorträge setzten sich mit dem literarischen Aspekt der Erinnerung an die DDR und deren narrativen Strategien auseinander. Unter dem Titel „Unwahrheiten, Lügen, Geheimnisse – Hybride Lebensnarrative in Romanen nach 1989“ beleuchtete REGINE KROH (Illinois) am Beispiel von Brigitte Burmeisters „Unter dem Namen Norma“ (1994) und Jens Sparschuhs „Der Zimmerspringbrunnen“ (1995) den Umgang mit Stereotypen und verschwiegenen sowie verfälschten Fakten als Stützen der Auseinandersetzung mit dem sich vereinigenden Deutschland. Daran anschließend beschäftigte sich KATJA SCHUBERT (Paris) mit dem Blickwechsel als narrativer Strategie in der Erzählung „Blickwechsel“ (1970) und in dem Roman „Stadt der Engel“ (2010) von Christa Wolf, wobei sie auf den vorherigen Vortrag von Anna Chiarloni Bezug nahm. Sie verglich das Nachdenken über die Lücken und blinden Flecke, wie es in der frühen Erzählung der Schriftstellerin in Hinsicht auf das Gedächtnis von Auschwitz stattfinde, mit der Wiederaufnahme desselben Motivs im zuletzt erschienenen Roman von Christa Wolf. Der Diskurs über die Shoah erschiene nun als Voraussetzung zur Konfrontation mit den vierzig Jahren Leben und Arbeiten im Sozialismus. Erst über die kritisch zu betrachtende Identifizierung mit den Überlebenden der Shoah sei die Thematisierung der eigenen Schuld und Verantwortung in „Stadt der Engel“ möglich gewesen, obwohl die Suche nach der „rettenden Sprache“ eine radikale Auseinandersetzung mit dem blinden Fleck des eigenen Doppelseins beschränke. In diesem Roman von Christa Wolf ersetze schließlich der Diskurs der Melancholie den Diskurs der Utopie. Der Vortrag von K. Schubert lieferte somit eine präzise Ergänzung zur Interpretation des blinden Flecks, dem sich beispielsweise Irving Wohlfahrt im April 2011 in der Zeitschrift „Europe“ ebenfalls widmete.2

JOHANNA VOLLMEYER (Berlin/ Madrid) untersuchte das Motiv der verfeindeten Brüder in Reinhards Jirgls „Abschied von den Feinden“ (1995) und den Aspekt der gespaltenen Nation im deutschen Erinnerungsdiskurs. Sie griff die Themen der Entfremdung, der Körper- und Textgewalt, sowie der abwesenden Vaterfigur im Roman auf, bevor sie ihren Vortrag mit Anmerkungen zum Kampf um die Deutungshoheit in der Erinnerung abschloss. Daran anknüpfend erörterte DANIEL ARGELÈS (Paris) das Spiegel- und Doppelgängermotiv als Indiz einer im wortwörtlichen Sinn zu verstehenden Krise der sich konstituierenden gesamtdeutschen Identität im Roman „Trug“ (2000) des Berliner Autors Klaus Schlesinger. Zehn Jahre nach der Wiedervereinigung erkunde der Romanautor durch diese narrative Konfiguration den Prozess einer Neudefinition der deutschen Identität an der Schwelle zwischen östlicher und westlicher Biographie. Der Rekurs auf die Fantastik diene dazu, die Unsicherheiten der identitären Neukonfiguration darzustellen. Ausgehend von Elke Gilsons Überlegungen zum Doppelgängermotiv als Motiv der Jahrtausendwende und dem Foucaultschen Begriff der Heterotopie analysierte D. Argelès die Übergangsrituale, Spiegel- und Schwellensituationen im Roman als Fluchtwege aus der Ost-West-Polarisierung.

In ihrem Vortrag über „Dialogizität bei Thomas Brussig als Darstellungsmittel konkurrierender Erinnerungsgemeinschaften der DDR“ problematisierte MAAIKE VAN LIEFDE (Gent) anhand der Dialogizitätstheorie von Bachtin und Pfisters Intertextualitätsbegriff das ideologische Spannungsverhältnis zwischen dem melancholischen und dem satirischen Gestus in Thomas Brussigs Roman „Wie es leuchtet“ (2004), das in der Präsenz von Volker Braun als Romanfigur zum Vorschein komme.

Der dritte Tag der Tagung begann mit einem Panel zu Identitätskonstruktionen im medialen Bereich, wobei sowohl die Presse als auch Kino, Kunst und Musik Beachtung fanden. DOMINIQUE HERBET (Lille) behandelte in ihrem Beitrag zur 1998 gegründeten Monatszeitschrift „Rotfuchs“, die sich selbst als „Tribüne für Kommunisten und Sozialisten in Deutschland“ bezeichnet, die politische Instrumentalisierung eines ostdeutschen Erinnerungsdiskurses, der zur Delegitimierung der Bundesrepublik Deutschland und zur Relegitimierung der DDR führt. Für den Bereich der bildenden Kunst konnte SIGRID HOFER (Marburg) anhand einer Gruppe von non-konformen Malern, die bereits zu DDR-Zeiten die Ästhetik des Informel praktizierten, aufzeigen, in welchem Maße diese in der DDR als widerständig empfundene Kunstrichtung von den Malern auch heute noch praktiziert wird, da sie ihre Identität und ihr künstlerisches Selbstverständnis auch über den Mauerfall hinaus geprägt hatte. Darüber hinaus beschrieb der Beitrag eine künstlerische Position, die in der DDR versuchte, sich durch einen Rückzug in die Privatsphäre der permanenten Politisierung von Haltungen zu entziehen. MATTEO GALLI (Ferrara) widmete sich in seinem Beitrag dem deutsch-deutschen „Kinostreit“, der anlässlich des zwanzigsten Jahrestages des Mauerfalls durch die polemischen Äußerungen von Volker Schlöndorff zur DEFA-Filmproduktion ausgelöst wurde. Dabei zeigte die Reaktion des Regisseurs Andreas Dresen, der auch die aktuelle Filmproduktion zum Thema DDR kommentierte, dass er als Ostdeutscher gegenüber westdeutschen Regisseuren die Deutungshoheit über diese Themen einklagte. Im letzten Beitrag dieses Panels beschäftigte sich THERESA BEYER (Bern) mit dem Werk von DDR-Liedermachern nach 1989. Am Beispiel von Autorenliedern von Barbara Thalheim, Hans-Eckardt Wenzel, Gerhard Schöne und dem Duo Sonnenschirm zeigte Beyer, wie die Liedermacher vor 1989 bzw. während der Wende entstandene Texte heutzutage in einzelnen Kategorien wie Text, Musik und Performance aktualisieren, bestimmte Narrative aufnehmen bzw. dem aktuellen Publikum anpassen. Dabei werden aktuelle Erinnerungsgemeinschaften über den Bezug auf DDR-Realitäten verortet, wobei die Lieder und Texte mit Ost-West-Stereotypen und –Identitäten spielen.

Gegenstand des letzten Panels der Tagung war die Literatur unter dem Aspekt der Identitätskonstruktion. Unter Einbeziehung von Leitfragen der Emotionsforschung fragte zunächst BERND BLASCHKE (Berlin) nach dem Stellenwert von Emotionen in der ostdeutschen Erinnerungs- und Identitätsliteratur von in den 1960er und 1970er Jahren geborenen Autoren wie Jana Hensel, Claudia Rusch, Jens Bisky und Maxim Leo. Dabei zeigte er auf, inwiefern die Texte dieser Autoren ihre besondere identitätsprägende Kraft durch emotionsbasierte Erinnerungsszenen gewinnen. Die erinnerten Gefühle lassen sich nicht wie vermutet auf Trauer und Ostalgie beschränken, sondern umfassen eine ganze Palette von Gefühlsdispositiven. HÉLÈNE YÈCHE (Poitiers) ging in ihrem Beitrag anhand der zwei unterschiedlichen Generationen angehörigen Autoren Christoph und Jakob Hein der Wechselwirkung von „Noch-DDR-Literatur“ und „Post-DDR-Literatur“ nach. Während Christoph Heins Erzähler in vielen seiner aktuellen Texte noch einmal in die DDR zurückkehrt, interessiert sich sein Sohn vielmehr für die späte DDR und die Veränderungen nach deren Untergang, wobei sowohl ein Spiel mit bestimmten Stereotypen, aber auch eine gewisse Tendenz zur Enthistorisierung in seinen Texten zu verzeichnen ist.

ASAKO MIYAZAKI (Tokio/Berlin) untersuchte anschließend die Bedeutung des Topos Sibirien in der Post-DDR-Literatur – bei zahlreichen literarischen Figuren unterschiedlicher Autoren rufe der Schauplatz Sibirien Erinnerungen an die DDR wach, wobei „Sibirien“ oft als Chiffre für das Nicht-Vergessen-Können der Erfahrung vom Osten steht. Zur Analyse von Lutz Seilers Erzählung „Turksib“ führte Miyazaki den Begriff der „halbbewussten Erinnerungserzählung“ ein, der auf die Unmöglichkeit des Erzählers verweist, die eigenen Erinnerungen zu bewältigen und die Erzählung zu beherrschen. Der abschließende Beitrag von PAWEL WALOWSKI (Zielona Góra) befasste sich mit narrativen Strategien bei der literarischen Gestaltung der „verkehrten Grenzüberschreitung“, dem Weg vom Westen in den Osten, in ausgewählten Texten der deutschen Gegenwartsliteratur. Interessant ist dabei, dass die Wahrnehmung der ostdeutschen Verhältnisse vor dem Hintergrund der bundesrepublikanischen Realität erfolgt, die den Figuren als Bezugspunkt gilt. Der meist unspektakuläre Aufbruch in den Osten wird in der Regel als ein Scheitern dargestellt, wobei die Literatur hier auch auf aktuelle Identitätskonstruktionen zu reagieren scheint und der Ostalgie eine Westalgie gegenüberstellt, die sich nach den alten Verhältnissen in der Bonner Republik zurücksehnt. In der abschließenden Diskussion standen dann interessanterweise auch nicht mehr DDR-Identitäten und Erinnerungsdiskurse im Mittelpunkt, sondern die Frage nach Spuren und Ausdrucksformen westdeutscher, bundesrepublikanischer Identitäten, deren nähere Untersuchung und Positionierung zu DDR-Identitätsdiskursen ebenfalls erstrebenswert wäre.

Zusammenfassend kann man sagen, dass die unterschiedlichen Beiträge dieser interdisziplinären Tagung, welche Erkenntnisse der Erinnerungsforschung und der Narratologie mit der DDR-Forschung verbanden, die Vielfalt ostdeutscher Erinnerungsdiskurse in den unterschiedlichen Bereichen aufgezeigt haben. Biografische Interviews, soziologische Analysen und literarische Texte zeigen, dass der Diskurs der Ostdeutschen über die eigene Identität anders funktioniert als der Diskurs der Westdeutschen. Dieser Diskurs prägt ohne Zweifel das Selbstbild der ostdeutschen Bevölkerung. Die Tagung hat in dieser Hinsicht deutlich gemacht, dass es generationenspezifische Erzählungen über die ehemalige DDR gibt, wobei auch näher untersucht wurde, wie sich diese Erzählungen zueinander verhalten. Die von D. Wierling erwähnten drei Generationen sowie die Nachwendegeneration verfügen jeweils über verschiedene „Erinnerungen“, die entweder aus der eigenen Erfahrung stammen oder erst nach der Wende von anderen vermittelt wurden. Fest steht, dass diese Gruppen auf besondere narrative Strategien zurückgreifen, um diese „Erinnerungen“ zu vergegenwärtigen. Und es lässt sich allgemein für alle Gruppen behaupten, dass dadurch eine kritische Distanz zum öffentlichen Diskurs über die Einheit, zur offiziellen Vergangenheitsdeutung entsteht. Denn die spezifische ostdeutsche Erinnerungskultur ist oft bemüht, den öffentlichen und als zu einseitig betrachteten Diskurs über die DDR infrage zu stellen.

Konferenzübersicht

Eröffnung der Tagung: Elisa Goudin-Steinmann (Paris 3), Carola Hähnel-Mesnard (Lille 3)

Eröffnungsvortrag
Dorothee Wierling (Forschungsstelle für Zeitgeschichte, Universität Hamburg): Drei Generationen erzählen eine Geschichte. Die DDR zwischen Erfahrungen und Erwartungen

Identität und Erinnerung

Anna Chiarloni (Universität Turin): Schreiben als existenzielles Projekt. Christa Wolfs Stadt der Engel

Hanna Haag (Universität Hamburg): Nachwendekinder zwischen Familiengedächtnis und öffentlichem DDR-Diskurs

Liza Candidi (Universität Turin) Parallele Erzählungen und Erinnerungsvorgänge. Auswahl- und Anordnungsmechanismen von Vergangenheitsbildern

Soziologische Analysen des Erinnerungsdiskurses über die DDR

Thomas Ahbe (Leipzig): Ostdeutsche Identitäten. Soziologische und diskursanalytische Befunde nach 20 Jahren staatlicher Einheit

Susan Baumgartl (Universität Leipzig): Die (Un-)Ordnung der Erinnerung : Geschichtspolitik und nicht-öffentliche Erinnerungen an den Herbst 1989 in Leipzig

Anna-Christin Ransiek (Universität Göttingen): Anders-Sein in der DDR – Narrative Bezüge nach der Transformation

Ramona Katrin Buchholz (Universität Bremen): Die « Sprache des Verschweigens » - Eine erinnerungstheoretische Annäherung an die Erzählung vom „Gleichstellungsvorsprung“ ostdeutscher Frauen

Maximilian Schochow (Universität Leipzig): Ostdeutsche Identitäten und Erzählungen über Erziehung

Narrative Strategien und Erinnerung an die DDR in der Literatur

Regine Kroh (University of Illinois): Unwahrheiten, Lügen, Geheimnisse – Hybride Lebensnarrative in Romanen nach 1989

Katja Schubert (Université Nanterre): « Are you sure this country does exist? » „Blickwechsel“ als narrative Strategie im Werk von Christa Wolf

Johanna Vollmeyer (Humboldt-Universität Berlin): Das Motiv der verfeindeten Brüder in Reinhard Jirgls Abschied von den Feinden und der Aspekt der gespalteten Nation im deutschen Erinnerungsdiskurs

Daniel Argelès (Ecole Polytechnique): Identität im Übergang. Der Roman Trug (2000) und Klaus Schlesingers narrative Strategien zehn Jahre nach der Vereinigung

Maaike Van Liefde (Universität Gent): Furor Melancholicus – Furor Satiricus. Dialogizität bei Thomas Brussig als Darstellungsmittel konkurrierender Erinnerungsgemeinschaften der DDR

(Re)Konstruktionen der DDR-Geschichte in den Medien, im Film und in den Künsten

Dominique Herbet (Université Lille 3): DDR-Erinnerungsdiskurs in der Monatszeitschrift Rotfuchs (Oktober-Dezember 2010)

Sigrid Hofer (Universität Marburg): Kontinuitäten in der ästhetischen Praxis und ihre Bedeutung für das Künstlerselbstverständnis nach 1989

Matteo Galli (Universität Ferrara): Ein falscher Kino-Osten ? oder von der Deutungshoheit

Theresa Beyer (Universität Bern): Erinnerung und Vergegenwärtigung nach 1989 im Werk von DDR-Liedermachern

Identitätskonstruktionen in der Literatur

Bernd Blaschke (Freie Universität Berlin): Erzählte Gefühle und Emotionen des Erinnerns. Generationsspezifische ostdeutsche Identitäten in Erinnerungsliteratur der in den 1960ern und 1970ern Geborenen

Hélène Yèche (Université de Poitiers): Zwischen Noch-DDR-Literatur und Ost-Moderne : Christoph und Jakob Hein im Vergleich

Asako Miyazaki (Universität Tokyo und Humboldt-Universität Berlin)): Über Sibirien zurück zur DDR. Erzählen über das Nicht-Vergessen-Können der Erfahrung vom „Osten“

Pawel Walowski (Universität Zielona Góra): « Weg von der BRD in den Osten » als verkehrte Grenzüberschreitung? Zum narratologischen Muster der Flucht in die DDR in der neuesten deutschen Literatur

Anmerkungen:
1 Sandrine Kott, Die Kinderkrippe, in Martin Sabrow (Hrsg.) Erinnerungsorte der DDR. München 2009, S. 281-290.
2 Irving Wohlfahrt, La travail de la tache aveugle, in Europe 89 (avril 2011) n° 984, S. 240-253.


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