Literatur und Exil. Neue Perspektiven

Literatur und Exil. Neue Perspektiven

Organisatoren
Susanne Komfort-Hein, Walter A. Berendsohn Forschungsstelle für Exilliteratur, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main; Doerte Bischoff, Universität Hamburg
Ort
Frankfurt am Main
Land
Deutschland
Vom - Bis
04.10.2011 - 07.10.2011
Von
Anne-Marie Bernhard, Goethe-Universität Frankfurt am Main

Zu einer internationalen und interdisziplinären Tagung, die neue Perspektiven in der Exilforschung präsentierte und zur Diskussion stellte, luden im Oktober Doerte Bischoff (Hamburg) und Susanne Komfort-Hein (Frankfurt am Main) ein.

Ziel war es, der Exilforschung, so die Veranstalterinnen, „richtungsweisende neue Impulse zu geben“, da sich diese „zumal im germanistischen Kontext bislang weitgehend auf das Exil aus Nazideutschland 1933–45 beschränkt hat“. Im Zentrum der Tagung stand ein Blick auf die „zeitliche und räumliche Ausweitung von Exil-Phänomenen“ welche diese mit kulturwissenschaftlichen Reflexionen von Literatur und Exil und deren Bedingungen im 20. und 21. Jahrhundert in Beziehung setzt.

Den Auftakt machte ein öffentliches Abendprogramm im Jüdischen Museum Frankfurt. In ihrem programmatischen Eröffnungsvortrag „Die Kunst des Exils“ verwies ELISABETH BRONFEN (Zürich) auf die Korrespondenzen eines realen Exils mit der Metapher des Exils, die eine condition humaine der Moderne beschreibt. In ihren Lektüren von Anne Michaels „Fugitive Piece“ (1996) und Toni Morrisons „A Mercy“ (2008) stellte sie heraus, wie sich die Texte als Fluchtort vor einem aufgezwungenen historischen Exil inszenieren und demnach als ‚Schutzdichtung‘ im Sinne Freuds funktionieren, ohne jedoch das Trauma des realen Exils heilen zu können. Im Anschluss las DORON RABINOVICI (Wien) aus seinem Roman „Andernorts“ (2010) und zeigte, dass Kategorien wie Heimat und Identität in einer Nachgeschichte von Exil und Shoah im literarischen Raum vielfach problematisiert werden und an ihre Grenzen geraten. Vortrag und Lesung forderten gleich zu Beginn dazu heraus, über die je spezifischen ästhetischen, historischen, politischen und kulturellen Implikationen von Exil ins Gespräch zu kommen. Sie sprachen insofern programmatische Aspekte späterer Debatten an, als sie auf ein Nachleben des Exils in Texten der Gegenwart verwiesen.

An den darauf folgenden drei Tagen beschäftigten sich internationale Beiträger/innen verschiedener Disziplinen in fünf thematischen Sektionen mit Exil jeweils in Austauschbeziehung zu Konzepten und Begriffen der (Trans)-Migration, Hybridität, Gemeinschaft(en), Erinnerung und Übersetzung.

CLAUS-DIETER KROHN (Lüneburg), Herausgeber des Jahrbuchs für Exilforschung, lieferte einen Überblick über die Geschichte der Exilforschung in Deutschland, in deren vergangenen Phasen er verschiedene blinde Flecken aufzeigte (antifaschistische Grundforschung) und für deren Neuorientierung er an Ansätze wie die von Georg Simmel, R. E. Park oder Erich Auerbach erinnerte, die selbst aus der Zeit vor 1933 sowie der Exilepoche selbst stammen und die vielfach aktuelle Paradigmen wie das der Hybridtheorie bereits vorformulierten. Daran anschließend stellte SABINA BECKER (Freiburg i. Br.) ihren prominent in die Exilforschung eingeführten Begriff der Akkulturation vor und betonte damit eine Hinwendung auf Phänomene des Kulturkontakts, welche die klassische Exilforschung bisher vernachlässigte. Ob anstelle des Akkulturations-Konzepts nicht vielmehr Begriffe wie Transkulturalität, die stärker wechselseitige kulturelle Austauschprozesse akzentuieren, für die Exilforschung produktiv gemacht werden sollten, war anschließend Gegenstand der Debatte. In einer Gegenüberstellung der Jazz-Aufsätze Adornos und der Arbeit des von Berliner Exilanten, u.a. Alfred Lion, geführten us-amerikanischen Jazz-Labels Blue Note zeigte STEFAN BRAESE (Aachen) zum einen, dass Exilkonstellationen für den Jazz transkulturell produktiv wurden und zum anderen, wie der Jazz als Ausdruckskultur nicht nur europäische Kunstkategorien aussetzt, sondern als Präsenzkultur einen Aspekt der Exilerfahrung formuliert. Mit Blick auf das Ende des Exils stellte WOLFGANG BENZ (Berlin) die Frage nach der Relevanz des Migrations- oder Akkulturationsparadigmas für die Exilforschung. Im Zentrum standen hier Phasen und Genealogien der Akkulturation sowie eine Reflexion unterschiedlicher Bedingtheiten des Akkulturationserfolgs bzw. der positiven Aneignung exilischer Erfahrung.

Exil als räumlicher Prozess wurde in der Sektion „Räume und Grenzen“ in den Blick genommen. CORNELIA BLASBERG (Münster) fragte nach dem Europabegriff exilierter Wissenschaftler und Künstler, die, im erklärten Bemühen, das europäische Erbe zu bewahren, dieses erst konstruieren. Europa, so die These, entstehe jeweils dort, wo es zur Bedeutungsstiftung aus der Distanz eingesetzt werde. BERNHARD GREINER (Tübingen) stellte seine Kafka-Lektüre ebenfalls in den Kontext räumlicher Dimensionen von Exil und erläuterte, wie Schrift topologisch eine Exilbewegungsrichtung nachvollziehe, Gewissheiten irritiere und damit Ankunft in den Textraum hinein verschiebe. ALFRUN KLIEMS (Leipzig) befasste sich mit exilierten Künstler/innen aus Ostmitteleuropa, deren Poetiken ästhetische Umsetzungen von transterritorialen, translokalen und translingualen Momenten zeigen. Auch MICHAEL HOFMANN (Paderborn) erörterte transkulturelle Erfahrungen des Exils und beschrieb am Beispiel von Exiltexten Erich Arendts, Paul Zechs und Anna Seghers, wie diese je unterschiedlich das Scheitern des europäischen Denkens reflektieren und in welchem Maße sie jeweils Begegnungen mit außereuropäischen Kulturen, die das Exil erzwingt bzw. ermöglicht, gestalten.

OTTMAR ETTE (Potsdam), dessen Projekt „ZwischenWeltenSchreiben: Literaturen ohne festen Wohnsitz“ das Tagungskonzept inspirierte, beendete den ersten Tagungstag mit einem Abendvortrag zu „Migration und Konvivenz“, der ein großes Panorama kulturgeschichtlicher Exilkonstellationen entwarf und literarisches Schreiben als ein ‚Entronnensein‘ bzw. als ecriture beschrieb, in die der Schrei über den Verlust des Uneinholbaren eingetragen bleibt. Der zweite Tag war von einer Debatte um verschiedene exilische Konditionen sowie den Status jüdischer Exilerfahrungen bestimmt. VIVIAN LISKA (Antwerpen) verwies darauf, dass die Denkfigur jüdischer Wurzellosigkeit seit 1945 Konjunktur hat und befragte philosophische und literarische Texte daraufhin, ob und inwiefern in der Übertragung jüdischer Exilerfahrung und Diasporaexistenz auf andere Bereiche deren Singularität ausgelöscht oder in einer ‚paradoxen Exemplarität‘ bewahrt würde. RUTH MAYER (Hannover) befasste sich aus amerikanistischer Perspektive mit Gedichten, die chinesische Auswanderer/innen in der Quarantänestation Angel Island in die Wände ritzten. Ihre Lektüre veranschaulichte, wie diese Texte bürokratische Verfahren der Internierung, Arretierung und Segregation in frühen Reflexen diasporischer Selbstverortung aufnahmen. Mit Blick auf Heimat und Exil in der Prosa Herta Müllers beschrieb BETTINA BANNASCH (Augsburg), wie dort das Verhältnis zu den Dingen zum Fluchtpunkt poetischer und poetologischer Erkundungen wird, die sich von einem auch sprachlich nicht restituierbaren Verlust von Heimat herschreiben. Am Beispiel biographischer Interviews mit ‚Jeckes‘, den deutschen Einwanderern nach Israel, beschäftigte sich PATRICK FARGES (Paris) mit der konflikthaften Herstellung einer narrativen männlichen Identität zwischen den Kulturen. ANDREA REITER (Southampton) ging am Beispiel österreichischer post-Shoah Romane der Frage nach, ob Exil vererbt werden kann: Offenbar bestehe ein Bedürfnis, jüdische Identität zu definieren, was in einigen Texten zu einer Fetischisierung des exilierten Juden führe. BARBARA THUMS (Tübingen) las Ilse Aichingers späte Texte als eine Poetik des Exils, die sie als ästhetisches Verfahren der radikalen Moderne/Postmoderne identifizierte. Über den Selbstentwurf eines autobiographischen „Ich“ hinaus begebe dieses sich in einen Dialog mit Reise- und Exilorten. LILIANE WEISSBERG (Philadelphia) lotete mit Blick auf Freuds eigenes Exil und seine Texte zur Psychoanalyse die Grenzen des Exilbegriffs aus. Heimat, so Weissberg, werde dort als eigentlich Fremdes deutbar und es öffne sich eine Diskrepanz zwischen biografischer Exilerfahrung und den sich in Texten manifestierenden Schockzuständen. Wo die Grenzen der Exil-Metapher liegen, verhandelte auch GIANLUCA SOLLA (Verona), der Flavius Josephus als prekäre Figur des Exils charakterisierte, dessen Status zwischen den Sprachen, Kulturen und Loyalitäten auf einen Riss in der Selbst-Beschreibung bezogen ist und mit der Exilierung auf den gewaltsamen Moment (je)der Sprache als einer Fremdsprache verweist.

ZHUANG WEI (Hangszhou/Frankfurt am Main) eröffnete den folgenden Tag mit einem Blick auf ein Projekt, welches Medialisierungsformen der Figur des japanischen Militärbeamten Ghoya für das Nachleben des jüdischen Exils in Shanghai untersucht.

Die letzte Sektion erweiterte schließlich bisherige Diskussionen um Aspekte der Übersetzung. MONA KÖRTE (Berlin) legte den Akzent auf „Mehrsprachigkeit“ als eine „doppelte Seinserfahrung“ und arbeitet für Arthur Goldschmidt heraus, wie Exil auch jeden Zugriff auf die Verwendung der Sprache mitstrukturiert. ROBERT KRAUSE (Freiburg i.Br.) betonte daran anschließend anlässlich seiner Ausführungen zu Arbeiten Vilém Flussers die Produktivität von Übersetzungstheorien für eine kulturwissenschaftliche Exilforschung und eröffnete damit bereits eine Schlussdiskussion, in welcher Beobachtungen aus Einzellektüren mit Überlegungen zu systematischen Aspekten und methodischen Orientierungen in Beziehung gesetzt wurden

Zu den grundlegenden Ergebnissen und Impulsen der Tagung gehörte, dass einerseits eine Öffnung gegenüber kulturwissenschaftlichen Paradigmen gefordert und vorgeführt wurde, die Exil und andere Entortungserfahrungen wie Migration im Bezug zueinander und vor einem gemeinsamen theoretischen Horizont (Akkulturation, Transkulturalität, Transnationalität, Hybridität u.a.) diskutierbar machen. Damit werden in der herkömmlichen Exilforschung lange vernachlässigte Aspekte des oft andauernden, von kulturellen Vermischungen, Übertragungen und Austauschbeziehungen geprägten Exils in den Fokus wissenschaftlicher Aufmerksamkeit gerückt. Andererseits wurde gewarnt, Begriffe aus anderen Disziplinen und Diskussionszusammenhängen allzu umstandslos für die Exilforschung zu übernehmen, da immer wieder eine hohe Sensibilität für den Begriff Exil in Unterscheidung zu Migration und anderen Entortungserfahrungen artikuliert und eingefordert werden muss, um dem Gewaltsamen des Exils Rechnung zu tragen. In der Beschreibung von Schreib- und Lebensweisen in einer Nachgeschichte des Exils im 20. und 21. Jahrhundert wurde für theoretische Konzepte und Systematiken eine Öffnung betont, die sich jenseits streng nationaler Paradigmen und nationalphilologischen Verengungen bewegt. Ohne in ein wissenschaftliches Trendsetting zu verfallen, ließen sich zwischen Exilliteraturforschung und Psychoanalyse, Traumaforschung, deutsch-jüdischen Studien, Übersetzungstheorie, Erinnerungs- und Gedächtnistheorien und Postcolonial Studies produktive Gespräche entwickeln, die es gilt weiterzudenken.

Dass sich Dokumente und Zeugnisse des Exils nicht abschließend systematisieren und musealisieren lassen, sondern immer wieder neu zu befragen sind, macht auch die Attraktivität der Exilforschung für die vielen teilnehmenden Nachwuchswissenschaftler/innen aus. Die in Kooperation durchgeführte Tagung ist eng verknüpft mit einem größeren Forschungsprojekt der Veranstalterinnen zu „Exil und Hybridität. Poetiken jenseits des nationalen Paradigmas“.

Konferenzübersicht:

Öffentliche Abendveranstaltung im Jüdischen Museum, Frankfurt/M.

Eröffnungsvortrag
Elisabeth Bronfen (Zürich): Die Kunst des Exils

Lesung
Doron Rabinovici (Wien): Andernorts

Begrüßung / Einführung: Doerte BISCHOFF (Hamburg)/Susanne KOMFORT-HEIN (Frankfurt)

I. Exil – (Trans)Migration – Hybridität
Moderation: Doerte Bischoff (Hamburg)

Claus-Dieter Krohn (Lüneburg): Die Herausforderungen der Exilliteraturforschung durch die Akkulturations- und Hybridtheorie

Sabina Becker (Freiburg i.Br.): Transnational, interkulturell und interdisziplinär. Das Akkulturationsparadigma der Exilforschung. Bilanz und Ausblick

Stephan Braese (Aachen): „It don’t mean a thing“ – Der Aufprall des deutschen Exils auf den US-amerikanischen Jazz

Wolfgang Benz (Berlin): Wann endet das Exil? Migration und Akkulturation - Überlegungen in vergleichender Perspektive

II. Räume und Grenzen
Moderation: Claudia Röser (Hamburg)

Cornelia Blasberg (Münster): „Europa“. Zur Codierung eines Kulturraums in wissenschaftlichen und literarischen Schriften des Exils

Bernhard Greiner (Tübingen): San Francisco im Osten und Ramses im Westen: Deterritorialisierung exilischer Existenz in Kafkas „Verschollenem“

Alfrun Kliems (Leipzig): Transterritorial – Translingual – Translokal. Ostmitteleuropäische Schriftsteller zwischen national verstandenem Exil und transkulturellen Poetiken

Moderation: Jesko Bender (Frankfurt)

Michael Hofmann (Paderborn): Zwischen Eurozentrismus und Hybridität: "Südamerika" bei Anna Seghers, Erich Arendt und Paul Zech

Abendvortrag: Ottmar Ette (Potsdam): Migration und Konvivenz

III. Gemeinschaft(en) und/im Exil
Moderation: Juliane Prade (Frankfurt)

Vivian Liska (Antwerpen): Exil und Exemplarität. Jüdische Wurzellosigkeit als Denkfigur

Ruth Mayer (Hannover): “Island is not far". Zur Konstruktion von Insularität, Ausschluss und Exil auf Angel Island, 1910-1940

Bettina Bannasch (Augsburg): Herrenloses Heimweh. Heimat und Exil in der Prosa Herta Müllers

Patrick Farges (Paris): Exilerfahrung und Refiguration von Männlichkeitskonzepten: eine neue Perspektive auf das „Israel-Korpus“

IV. Erinnerung und Exil
Moderation: Susanne Komfort-Hein (Frankfurt)

Andrea Reiter (Southampton): Tradierung und Neukonzeption des Exils im Selbstverständnis und in der Literatur der Post-Shoah Generation in Österreich

Barbara Thums (Tübingen): Zumutungen, Ent-Ortungen, Grenzen: Ilse Aichingers Poetik des Exils

Liliane Weissberg (Philadelphia): Freuds Exil

Gianluca Solla (Verona): Es bleibt die Fremdsprache: Josephus in Rom

Moderation: Sebastian Schirrmeister (Hamburg)

Zhuang Wei (Hangzhou/Frankfurt/M.): Erinnerungskulturen des jüdischen Exils in Shanghai

V. Übersetzung und Exil

Mona KÖRTE (Berlin): Mehrsprachigkeit als ‚verdoppelte Seinserfahrung’. Sprachenwechsel als poetische Autonomieerfahrung im Exil am Beispiel Georges Arthur Goldschmidts

Robert KRAUSE (Freiburg i.Br.): Kulturelles Übersetzen als Medium der Akkulturation

Doerte BISCHOFF (Hamburg) und Susanne KOMFORT-HEIN (Frankfurt): Ergebnisse und Ausblick

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