Mittler zwischen Herrschaft und Gemeinde. Die Rolle von Funktions- und Führungsgruppen in der mittelalterlichen Urbanisierung Zentraleuropas

Mittler zwischen Herrschaft und Gemeinde. Die Rolle von Funktions- und Führungsgruppen in der mittelalterlichen Urbanisierung Zentraleuropas

Organisatoren
Historisches Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel; Institut für Österreichische Geschichtsforschung; Verein für Geschichte der Stadt Wien
Ort
Kiel
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.11.2011 - 25.11.2011
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Von
Dennis Hormuth, Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Die hier vorzustellende Tagung nahm sich in einem akteursorientierten Ansatz dem Prozess der Urbanisierung dreier europäischer Regionen vom 12. bis ins 15. Jahrhundert an. Im Mittelpunkt standen mit herrschaftlichen Funktionsträgern, Hofpersonal, Ministerialität, Adel und innerstädtischen Führungsgruppen die Mittler zwischen den Stadtherren und den Stadtgemeinden. Sie wurden in Hinsicht auf ihre Rolle in der Kommunikation zwischen Herrschaft und Gemeinde, ihre Vernetzung untereinander und ihre Bedeutung für die Entwicklung städtischer und/oder herrschaftlicher Strukturen untersucht. Das Spektrum der untersuchten Städte war breit: Reichs-, Residenz- und Landstädte, Großstädte wie Wien und Städte, von denen man ob ihrer Kleinheit und unsicherer Überlieferungslage nicht weiß, ob sie nicht eher Dörfer waren. Letztere Unterscheidung verweist bereits auf das in der Forschung viel diskutierte Problem des Stadtbegriffs. Im Verlauf der Tagung wurde mehrheitlich eine pragmatische Lösung favorisiert, nach der die Siedlungen als Städte behandelt wurden, die von den Zeitgenossen als Städte wahrgenommen wurden.

Im Internationalen Begegnungszentrum der Kieler Universität sprach der Universitätspräsident GERHARD FOUQUET (Kiel) ein Grußwort. In seiner Eigenschaft als Wirtschafts- und Sozialhistoriker mahnte er, bei der Diskussion über die „urbane Gemengelage von Herrschaft und Gemeinde“ nicht zu einseitig die Freiheit der Städter zu thematisieren und dabei die Hörigkeit einiger Stadtbewohner und ihre Abhängigkeit vom Stadt- oder Landesherrn zu vernachlässigen. Anschließend führten GABRIEL ZEILINGER (Kiel) und SVEN RABELER (Kiel) kurz in das Tagungsthema ein.

In ihrem Abendvortrag wandte sich ELISABETH GRUBER (Wien) höfischem, städtischem und kirchlich-religiösem Raum im spätmittelalterlichen Wien zu und betonte ausdrücklich die Qualität dieser Räume als sozial durchlässig. In einer sozialen Netzwerkanalyse von 93 Wiener Ratsfamilien aus dem 14. Jahrhundert zeigte sie den Nutzen solcher Analysen als verlässliche Indikatoren für die Ausdifferenzierung einer städtischen Elite auf. Insbesondere das Stiftungsverhalten zeige eine deutliche Trennung zwischen den führenden Ratsfamilien und aufsteigenden neuen Ratsfamilien auf. Nicht zufällig fällt dieser Befund in eine Zeit, in der Herzog Rudolf IV. eine Politik der Stärkung wirtschaftlich potenter Kräfte zu Ungunsten der so genannten Wiener Erbbürger betrieb.

Unter der Moderation von GUSTAV PFEIFER (Bolzano) war die erste Sektion den Alpen- und Donauländern gewidmet. Am Beispiel kleinerer Patrimonialstädte in den österreichischen Ländern Ob und Unter der Enns zeigte HERWIG WEIGL (Wien) die enge Verflechtung dieser Städte mit ihrem Umland auf. So konnte er den beiderseitigen Prozess der Integration einer vom Stadtherrn eingesetzten und abhängigen Führungsschicht in die Stadt und der Integration der Stadt in die übrige Herrschaft des Stadtherrn aufzeigen. Städtische Eliten seien stets an den Adel des Umlandes anschlussfähig geblieben. Die besonders enge Verbindung zwischen diesem Stadttypus und ihrem Stadtherrn zeigte der Referent am Beispiel einer Stiftung auf, die nach dem Tod des bürgerlichen Stifters durch den Stadtherrn weitergeführt wurde.

WILHELM DEUER (Klagenfurt) untersuchte vergleichend vier Städte der Obersteiermark und Kärntens. Trotz ihrer räumlichen Nähe hatten sie verkehrsgeographisch und machtpolitisch unterschiedliche Ausgangslagen, wodurch sie divergierende Strukturen in Hinsicht auf die Stellung ihrer Eliten im Spannungsfeld zwischen Gemeinde und Stadtherrn entwickelten. Der Referent verknüpfte die politische Stellung der städtischen Funktionsträger mit der Nähe der Stadt zum Stadtherrn. Je weniger eine Stadt die Rolle einer Residenz einnahm, desto mehr sei eine Selbstbestimmung der Bürger zu erkennen.

Bei ihrer Vorstellung des ungarischen Städtenetzes wies JUDIT MAJOROSSY (Budapest) auf die Rolle außergewöhnlicher Situationen auf die Entwicklung städtischer Rechte hin. So haben Städte ihre Freiheiten als Gegenleistung für militärische Hilfe und politische Loyalität in Zeiten von Thronstreitigkeiten ausweiten können. Hauptsächlich aber thematisierte die Referentin die Integration Adeliger in die städtische Gemeinschaft, die zeitweise sogar die städtischen Richterstellen besetzen konnten. Adelige, die über Besitz in einer Stadt verfügten, hätten sich als „Ritterbürger“ aber auch an die städtischen Regeln halten müssen. In der Pressburger Corpus-Christi-Bruderschaft, in der vornehmlich Ratsfamilien und Geistliche der Stadt Mitgliedschaft hatten, seien Adelige hingegen nur in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts nachzuweisen.

Am Beispiel Merans beschrieb CHRISTIAN HAGEN (Kiel) ein gut funktionierendes Miteinander von städtischen Vertretern und landesherrlichen Burggrafen. Die alljährliche Bestätigung der Bürgermeister durch den Burggrafen, die städtische Rechnungslegung vor diesem und seine richterliche Funktion in der Stadt entwickelten sich dem Referenten zufolge allmählich zu einer eher symbolischen Wahrnehmung dieser Aufgaben hin. Als es 1478 nach einem innerstädtischen Konflikt zu einer Neuregelung des Bürgerrechts kam, wurde auch die persönliche Beteiligung des Burggrafen an der Rechtsprechung wieder eingefordert und reaktiviert. Mit dem Übergang der Herrschaft an die Habsburger 1363 änderte sich auch die Stellung des Burggrafen. Dieser erfüllte fortan auch die Aufgaben des Landeshauptmanns. Die hiermit verbundene häufige Abwesenheit des Burggrafen veranlasste die Meraner Bürger, welche dadurch ihre Interessen gefährdet sahen, 1525 zu einer Beschwerde.

Die zweite Sektion wandte sich unter Leitung von SIGRID HIRBODIAN (Tübingen) dem Ober- und Mittelrhein zu. LAURENCE BUCHHOLZER-RÉMY (Strasbourg) führte die Entwicklung des Schultheißenamtes im Elsass vom 12. bis zum 15. Jahrhundert vor. Anfangs klar als „Kreatur seines Herren“ zu bezeichnen, fraternisierten die Schultheißen zunehmend mit den Stadtbürgern, was die Referentin vor allem mit der Einführung des Landvogtenamtes in Verbindung setzte. Neben der Aushöhlung des Amtes von herrschaftlicher Seite sei es aber auch zu einer Aushöhlung von städtischer Seite gekommen. Die Einführung von Bürgermeisteramt und später der Unterschultheißen mit judikativer Funktion reduzierten den Schultheißen auf ein durch die Kommune besetztes Ehrenamt.

Einen ähnlich langen zeitlichen Bogen schlug GABRIEL ZEILINGER (Kiel) in seinem Vortrag zur Urbanisierung der Herrschaft Rappoltstein vom 13. bis zum 15. Jahrhundert, die er als einen sozial-kommunikativen Akt versteht. Er sprach vor allem über „Zentralisierung“ und „Urbanisierung“ aus dem Interesse der Herrschaft heraus und hinterfragte noch einmal den Begriff des Städtischen. Insbesondere die Betrachtung von Klein- und Kleinststädten als „urbaner Normalfall“ mache die Unterscheidung von Stadt und Land zu einem fließenden Übergang. Die Stellung der in seinem Vortrag behandelten Procuratoren, Schaffer und Vögte im politischen Spannungsfeld von Herrschaft und Stadtgemeinde sage mehr über die Frage nach dem Stadt-Sein einer Siedlung aus, als andere üblicherweise angelegte Kriterien wie zum Beispiel die Existenz einer Ummauerung.

NINA KÜHNLE (Kiel) wandte sich der württembergischen Ehrbarkeit zu, die sich durch ein überdurchschnittliches Vermögen, verwandtschaftliche Abgeschlossenheit in der Stadt und Konnubium mit der Ehrbarkeit nachbarlicher Städte sowie hohe Positionen in der Lokalverwaltung bestimmen lässt. Oftmals waren die Ämter in der Stadtverwaltung gekoppelt an die entsprechende Funktion in der Verwaltung des städtischen Umlandes. Die städtische Ehrbarkeit bildete schließlich die Landschaftsvertretung auf den herrschaftlichen Landtagen. Ihre mittlerweile exponierte Stellung aber habe sie auch an die Grenzen ihrer Mittlerfunktion zwischen Herrschaft und Gemeinde geführt. So habe die Ehrbarkeit sich durch ihre Abschließung von der Stadtbevölkerung entfernt, es seien Uneinigkeiten zwischen den Vertretern der einzelnen Städte entstanden und auch die Bindung an den Herzog sei bald deutlich lockerer geworden.

An den beiden Beispielstädten Bingen und Koblenz führte RAOUL HIPPCHEN (Mainz) Schultheißen und Schöffen als Funktionseliten vor, die sich über ihre Kompetenzen im Gerichtswesen zu städtischen Führungsgruppen entwickelten. Schon früh hätten diese ohne Beteiligung des Stadtherrn Angelegenheiten der Städte geregelt und die Entwicklung der Ratsverfassungen entscheidend mitbeeinflusst. Der Referent unterstrich das Problem der Doppelloyalität. So seien die Schultheißen und Schöffen zwar Gefolgsleute ihres Herren in der Stadt gewesen, aber auch das Sprachrohr der Gemeinde beim Stadtherrn. Nicht immer aber führte dies zu einem so dramatischen Ende, wie das Beispiel eines Bingener Schultheißen zeigt. Als die Stadt 1301 im Kurfürstenkrieg belagert wurde, versuchte dieser, im Interesse der Stadtbürger, die herrschaftliche Besatzung der Burg Klopp zur Kapitulation zu bewegen. Die Besatzung erschlug den Schultheiß daraufhin als einen Verräter an seinem Stadtherrn.

In der dritten und letzten Sektion wurde unter Moderation von OLIVER AUGE (Kiel) das Gebiet zwischen Thüringen und Holstein in den Blick genommen. MATHIAS KÄLBLE (Dresden) berichtete über die Urbanisierung Thüringens im 12. und 13. Jahrhundert. Der Referent unterschied eine stadtherrlich dominierte Phase von einer Phase größerer Eigenständigkeit der thüringischen Städte. Der Übergang zwischen diesen sei um 1250 geschehen, als es in der Folge des Interregnums auf Reichsebene und eines etwa zeitgleichen thüringischen Erbfolgestreits zu einer politischen Ausnahmesituation kam. Diese habe den städtischen Führungsgruppen kurzzeitig eine Erweiterung ihrer Handlungsspielräume geboten, die sie durch Parteinahmen geschickt auszunutzen verstanden und dadurch politische Zugeständnisse erhielten. Träger dieser Entwicklung seien neben den Kaufleuten mit den stadtsässigen Ministerialen eben diejenigen gewesen, die als Mittler im Fokus der Tagung standen.

Mit einer anderen politischen Ausnahmesituation, nämlich dem Wechsel eines Stadtherrn, befasste sich SVEN RABELER (Kiel) am Beispiel welfischer Städte vom 13. bis zum 15. Jahrhundert. Im Fokus stand die Gruppe der Ratsherren. Der Referent wies auf eine enge finanzielle Verflechtung der städtischen Eliten mit den alten und neuen Stadtherren hin und bemerkte, dass es bei den Herrschaftswechseln zu keinen personellen Umgestaltungen der Stadträte kam. Als etwa der welfische Herzog 1490 mit Helmstedt belehnt wurde, gelang es dem Rat, die Vertretung der Gemeinde gegenüber dem neuen Stadtherrn zu Ungunsten der berufsständischen Korporationen zu monopolisieren. Herrschaftswechsel hätten so nicht immer eine Ausweitung der Rechte der ganzen Gemeinde bedeutet, sondern oft lediglich die der urbanen Führungsgruppe, die den Rat besetzte.

Der von STEFAN INDERWIES (Kiel) vorbereitete Vortrag über den Prozess der Herausbildung urbaner Führungsgruppen in Holstein konnte krankheitsbedingt nicht gehalten werden. Seine Ergebnisse sollen aber in den Tagungsband aufgenommen werden, dessen Erscheinen für Ende 2012 geplant ist.

Höhepunkt der abschließenden und von Sven Rabeler geleiteten Exkursion nach Lübeck war die Besichtigung der archäologischen Ausgrabung im Lübecker Gründungsviertel. Hier konnte ein ganzes als „Kloakensiedlung“ bezeichnetes Hinterhofsystem inklusive zweier Straßenzüge aus dem 12./13. Jahrhundert bestaunt und sich so ein Bild von urbaner Lebensgestaltung im Mittelalter gemacht werden.

Der akteursorientierte Ansatz der Tagung erwies sich durchweg als gewinnbringend und nachahmenswert. Die Referenten haben sich durchweg und systematisch an die zu Grunde gelegten Fragestellungen gehalten und eine gute zeitliche Disziplin bewiesen. Es sind an dieser Stelle noch zwei weiterführende Bemerkungen zu machen. ANDREAS BIHRER (Freiburg) wies in seiner hervorragenden Tagungszusammenfassung auch auf die Notwendigkeit hin, zu einer Definition und Typologisierung von Mittlern zu kommen. Die Tagung war auf dem Weg dorthin ein wichtiger Schritt. Wiederholt wurde die Frage besprochen, ob man für den behandelten Zeitraum das Wort „Städtepolitik“ vermeiden, und stattdessen besser von „Urbanisierung“ sprechen sollte, denn ansonsten würde eine ausgebildete Planung und Durchführung der Stadtentwicklung von herrschaftlicher Seite vorausgesetzt, deren Nachweis problematisch sei. Zudem würden so Prozesse in kleineren und Kleinststädten in die Betrachtung einfließen, deren Städtischkeit nicht geklärt werden kann. Unabhängig von der Beantwortung dieser Frage scheint in ihrer Diskussion Potential für tiefe Einblicke und wichtige Erkenntnisse zu liegen.

Konferenzübersicht:

Grußwort des Präsidenten der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Gerhard Fouquet

Sven Rabeler, Gabriel Zeilinger: Einführung in das Thema der Tagung

Abendvortrag von Elisabeth Gruber: Wer regiert hier wen? Handlungsspielräume in der spätmittelalterlichen Residenzstadt Wien

Sektion I: Alpen- und Donauländer, Moderation: Gustav Pfeifer

Herwig Weigl: Große Herren und kleine Städte im spätmittelalterlichen Österreich

Wilhelm Deuer: Ritter – Kanoniker – Patrizier. Typen spätmittelalterlicher Eliten in Städten der Obersteiermark und Kärntens

Judit Majorossy: Town and Nobility in Medieval Western Hungary

Christian Hagen: Burggraf versus Bürger? Das Verhältnis zwischen landesfürstlichen Vertretern und städtischen Führungsgruppen am Beispiel der Stadt Meran

Sektion II: Um Ober- und Mittelrhein, Moderation: Sigrid Hirbodian

Laurence Buchholzer-Rémy: Von der Herrschaft zur Gemeinde? Der Schultheiß, eine zweideutige Figur (Elsass, 12.–15. Jahrhundert)

Gabriel Zeilinger: Procurator, Schaffner, Vogt in der Urbanisierung der Herrschaft Rappoltstein (13.–15. Jahrhundert)

Nina Kühnle: Richter, Vögte, Landschaftsvertreter – Die „Ehrbarkeit“ im spätmittelalter¬lichen Württemberg

Raoul Hippchen: Scultetus, scabini et universitas civium – Die Rolle der Schultheißen und Schöffen am Mittelrhein im 13. bis 15. Jahrhundert

Sektion III: Von Thüringen bis Holstein, Moderation: Oliver Auge

Mathias Kälble: Städtische Eliten zwischen fürstlicher Herrschaft, Adel und Reich als Träger kommunaler Entwicklung in Thüringen

Sven Rabeler: Neue Fürsten und alte herren? Herrschaftswechsel aus der Perspektive städtischer Führungsgruppen am Beispiel welfischer Orte (13.–15. Jahrhundert)

Stefan Inderwies: Per sigillum nostre civitatis. Die Herausbildung einer Führungsgruppe in schauenburgischen Städten Holsteins

Andreas Bihrer: Zusammenfassung