Handeln in Hungerkrisen. Neue Perspektiven auf Hunger als Folge klimatischer und sozialer „Vulnerabilität“

Handeln in Hungerkrisen. Neue Perspektiven auf Hunger als Folge klimatischer und sozialer „Vulnerabilität“

Organisatoren
DFG Graduiertenkolleg 1024 „Interdisziplinäre Umweltgeschichte“
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
27.10.2011 - 28.10.2011
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Von
Nicole Kronenberg, DFG Graduiertenkolleg 1024 „Interdisziplinäre Umweltgeschichte“, Georg-August-Universität Göttingen; Peter Reinkemeier, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen / Verbundprojekt „Alpine Naturgefahren im Klimawandel“

Im Rahmen der Erforschung von Mensch-Umwelt-Interaktionen, der sich das Graduiertenkolleg „Interdisziplinäre Umweltgeschichte“ an der Georg-August-Universität Göttingen widmet, spielt auch die Untersuchung von Hungerkrisen in Mitteleuropa und ihren Folgen als Projektbereich B des Graduiertenkollegs eine wichtige Rolle. In diesem Zusammenhang fand in Göttingen vom 27. bis 28. Oktober 2011 eine Tagung zum Thema „Handeln in Hungerkrisen. Neue Perspektiven auf Hunger als Folge klimatischer und sozialer ,Vulnerabilität‘“ statt. Die Tagung fokussierte auf den Begriff „Vulnerabilität“, der den unterschiedlichen Grad der Gefährdung von Gesellschaften, gesellschaftlichen Gruppen und Individuen durch dasselbe Katastrophenszenario verdeutlicht. Damit bewegt sich das Vulnerabilitätskonzept im Rahmen der Verflechtungsperspektive auf naturale und soziale Umwelt in der neueren Umweltgeschichte, die im Gegensatz zu früheren Ansätzen der Hungerforschung steht.1

In seiner Einleitung zur Tagung verwies DOMINIK COLLET (Göttingen) auf die lange vorherrschenden deterministischen Forschungsansätze zu vormodernen Hungerkrisen. Die Einengung auf natürliche oder politische Faktoren in der Erklärung von Hungerkrisen sei durch neuere Verflechtungsansätze wie das Vulnerabilitätskonzept aufgebrochen worden. In der Folge skizzierte Collet die forschungsgeschichtliche Entwicklung von anfänglich schadenszentrierten Ansätzen bis zu aktuellen multifaktoriellen Vulnerabilitätstheorien, die eine Verflechtung und gegenseitige Beeinflussung von Mensch und Umwelt als Grundlage von Katastrophenszenarien annehmen. Abschließend stellte Collet Vor- und Nachteile des Kernkonzepts vor.

GERD SPITTLER (Bayreuth) bot als Auftakt der Tagung in seinem Vortrag einen Einblick in seine Forschungsarbeit zur Hungerkrise der Tuareg von 1984/85 im Niger. Dabei legte er den Schwerpunkt auf das individuelle Handeln der Betroffenen in der Hungerkrise. Spittler ging von den unterschiedlichen Modellen, unter anderem dem Vulnerabilitäts- und Resilienzansatz, zum Verhalten von Betroffenen in einer Hungerkrise aus, die er als vorwiegend aus der Außenperspektive generiert charakterisierte. Spittler betonte die Modellblindheit gegenüber abseits der Katastrophe situierten soziokulturellen Praktiken, die für das Bewältigen der Krisensituation und die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung von Bedeutung sind, wie er am Beispiel der Tuareg zeigen konnte.

Anschließend zeichnete CHRISTIANE BERTH (St. Gallen) mit ihrem Vortrag zu Hungerkrisen in Nicaragua von 1972 bis 2000 das Bild einer von Hunger- und Naturkatastrophen besonders gekennzeichneten Region. In ihrer Perspektive auf das häufiger misslingende als gelingende Zusammenspiel von Regierung, internationalen Organisationen und der Selbsthilfe der Betroffenen beleuchtete Berth die praktizierten Strategien zur Hungerkrisenbekämpfung in Nicaragua. Neben den geodynamischen Herausforderungen der Region verwies sie auf die politischen Verhältnisse als vulnerabilitätsfördernde Faktoren.

Im dritten Vortrag der Tagung kehrte SABINE DORLÖCHTER-SULSER (Berlin) wieder zur Untersuchungsregion Niger zurück. In ihrer Betrachtung der Hungerkrisen von 1968-1975 und 1984/85 fokussierte sie auf die nigerianische Region Dosso durch die Gegenüberstellung des vorherrschenden Livelihoodsystems und der sich verändernden klimatischen und sozioökonomischen Bedingungen. Sie identifizierte die einzelnen klimatischen, ökonomischen, politischen und sozialen Faktoren, die die Vulnerabilität während der Hungerkrisen erhöhten oder auch zur Resilienz beitrugen. Die Untersuchung der Abfolge der Hungerkrisen illustrierte ebenfalls einen Lernprozess der Akteure in Dosso, die sie die zweite Hungerkrise der 1980er-Jahre effektiver bewältigen ließ.

HEIKE WIETERS (Frankfurt an der Oder) verschob in ihrem Vortrag zur Debatte um das „Welternährungsproblem“ in der BRD nach dem 2. Weltkrieg die Perspektive der Tagung vom Handeln der Betroffenen in Hungerkrisen zum Wissen über Hunger. Sie zeichnete die Diskursgeschichte des Schlagworts „Welternährungsproblem“ von den 1950er- bis 1970er-Jahren nach. Der Hungernde wurde in diesem Diskurs als passiv gedacht. Unter anderem sei durch die Kritik an imperialistischen Herrschaftsstrukturen von Seiten der außerparlamentarischen Linken jedoch zunehmend die Handlungsfähigkeit von Betroffenen in der Hungerkrise betont und Armut sowie soziale und politische Problemlagen als Ursachen von Hunger begriffen worden. Durch diesen Perspektivenwandel auf Hunger sei dann auch das Schlagwort „Welternährungsproblem“ in den 1970er-Jahren aus dem Diskurs verschwunden.

ROBERT KINDLER (Berlin) lenkte in seinem anschließenden Vortrag zur Hungersnot von 1931-1934 in Kasachstan die Aufmerksamkeit auf das Phänomen, dass Hungerkrisen nicht nur soziale Ursachen haben, sondern auch weitreichende soziale Folgewirkungen zeitigen können. Er ging hier von der These aus, dass die alten Clanstrukturen der kasachischen Gesellschaft durch die Hungerkrise unter Anpassungsdruck gerieten und nur die neue Sozialstruktur des Kolchose-Systems das Überleben sichern konnte. So habe vor allem die erzwungene Kollektivierung der Landwirtschaft in Kolchosen zur Hungerkatastrophe und zum Zusammenbruch der sozialen Ordnung geführt. Für die Hungernden sei es nun überlebenswichtig gewesen, in die Versorgungsnetzwerke der Kolchosen integriert zu werden, die als neues soziales Netzwerk die alten Clanordnungen ersetzten. Die Hungerkatastrophe von 1931-1934 in Kasachstan sei damit, so Kindlers These, ein ,erfolgreiches‘ Projekt der Sowjetisierung gewesen.

STEVEN ENGLER (Essen) stellte ein Vulnerabilitätsmodell vor, das versucht, den Ansatz für die Analyse zu systematisieren. Sein Modell bezog die Vorphase einer Katastrophe mit ein und spaltete die Stressoren, die zur Katastrophe beitragen, in naturale und soziokulturelle Faktoren auf. In einem System von Aktion, Reaktion, Rebound und Ressourcenabhängigkeiten überschreite die Gesellschaft entweder eine Lernschwelle und entwickle Adaptions- sowie Copingstrategien oder sie überschreite diese Schwelle nicht und trete erneut in einen Vulnerabilitätszyklus ein.

Um Rückschlüsse auf die Privilegierten und Marginalisierten während einer Fruchtsperre im Jahr 1756 zu ziehen, illustrierte THORE LASSEN (Göttingen) an Beispielen die Aushandlungsprozesse zu Hungerkrisen im Sinne der „participative capacity“ (Voss 2008). Hier sollte von der Funktion des Vulnerabilitätskonzepts, Gesellschaftsgruppen in besonderer Verletzbarkeit auszuweisen, abgegangen werden, und stattdessen auf die Vormachtstellung von Gruppen fokussiert werden, die auf der Grundlage von Kapitalansammlung die Preis- und Angebotspolitik bestimmen sowie durch Verwendungsverbote Ressourcen lenken können. Die Diskursanalyse und die bourdieusche Kapitalanalyse stellen hierbei ein Instrument zur Verfügung.

SASCHA WEBER (Mainz) berichtete von der Nahrungsmittelnot von 1771/72 in dem weit zersplitterten und wirtschaftlich sehr unterschiedlich ausgestatteten Mainzer Kurfürstentum. Als Vulnerabilität befördernde Faktoren benannte er die zahlreichen Zollgrenzen, die Verschuldung nach dem Siebenjährigen Krieg sowie politische Herausforderungen durch konservative Kräfte. Dagegen Resilienz befördernde Faktoren seien politische und marktpolitische Reformen im Sinne der Aufklärung gewesen. Die Maßnahmen der Kurmainzer Regierung gegen Hungerkrisen betrachtete Weber vor dem Hintergrund des Maßnahmenkatalogs zur Teuerungsbekämpfung in der FNZ nach Huhn (1987).

DANIEL KRÄMER (Bern) stellte in seinem Vortrag eine Mangelernährungskarte, fußend auf dem Vulnerabilitätskonzept, für die Schweiz in den Jahren 1817/18 sowie das von den Regierungen entworfene „Anti-Nahrungsmangel-System“ (Michel Foucault) auf der Grundlage des tradierten Teuerungskanons vor. Die Verletzlichkeit der Schweiz sei aufgrund der feinen Kammerung und den damit verbundenen verschiedenen Wirtschafts- und Agrarsystemen, die von den landwirtschaftlichen Einbußen aufgrund des Tamboraausbruchs 1815 unterschiedlich betroffen waren, hoch gewesen. Die Krise sei durch die territoriale Zersplitterung und die damit einhergehenden verschiedenen Fruchtsperren, die Zerstörung der Infrastruktur sowie durch das Zusammenbrechen grenzübergreifender wirtschaftlicher Aktivitäten weiter angeheizt worden.

In einer Betrachtung des Fürstentums Osnabrück klärte ANSGAR SCHANBACHER (Göttingen) die Frage, inwieweit das Königreich Hannover von der Nahrungsmittelkrise 1845-1850 betroffen war. Im Fokus des Beitrags standen die sogenannten Heuerlinge oder Häuslinge, die sich bereits in einer durch Gemeinheitsteilungen während der Agrarreform und weitere wirtschaftliche und soziale Verhältnisse verursachten prekären Lage befanden, als die bisher unbekannte Kartoffelfäule auftrat, gegen die erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts ein wirksames Fungizid gefunden wurde. Ein besonderes Augenmerk widmete der Beitrag der Nahrungsmittelkette, in der die Kartoffeln für die Heuerlinge ein Grundnahrungsmittel darstellten, während die oberen Schichten indirekt durch den Einbruch der Schweinezucht betroffen waren.

MICHAEL HECHT (Münster) untersuchte in seinem die Tagung beschließenden Beitrag die Hungerkrise und Nahrungsproteste von 1846/47 in Preußen. Sein methodischer Ansatz war ein Dreischritt zwischen einer klassischen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, einem historisch-anthropologischen Ansatz zur Deutung der Situation durch die Handelnden sowie einer politisch-ökonomischen Analyse der staatlichen Maßnahmen zur Krisenbewältigung. Dabei verglich er seinen eigenen bisherigen Forschungsansatz mit dem Vulnerabilitätskonzept, indem er Gemeinsamkeiten und Unterschiede hervorhob.

Im Mittelpunkt der Abschlussdiskussion standen jeweils Vorzüge und Nachteile des Vulnerabilitätskonzepts. Einerseits wurde kritisch angemerkt, dass auch die gängigen Vulnerabilitätsmodelle als deterministisches Analyseinstrument verstanden werden und so das individuelle Handeln der Betroffenen sowie die Kontingenz in der Krisensituation ausblenden. Außerdem fänden kulturelle Faktoren im Vulnerabilitätskonzept bisher noch zu wenig Berücksichtigung.

Andererseits könne das Konzept zu einer wichtigen Neuausrichtung der historischen Hungerforschung beitragen, indem es der Tendenz zu monokausalen Erklärungsmodellen entgegenwirkt und einen Rahmen für Vergleiche in der Analyse von Hungerkrisen bereitstellt. Außerdem biete das Vulnerabilitätskonzept auch eine Möglichkeit Hungerkatastrophen stärker zu historisieren, indem sie als langfristige Prozesse im Aufbau von Vulnerabilität bis zum Katastrophenzeitpunkt hin begriffen werden könnten.

Für die Zukunft bleibt anzuregen, auch Resilienz als Gegenstück von Vulnerabilität stärker zu berücksichtigen. So könnte die Rolle kultureller Faktoren und des individuellen Handelns der Betroffenen in der Hungerkrise besser berücksichtigt werden. Der Workshop illustrierte außerdem die Notwendigkeit einer gemeinsamen Begriffsbestimmung von Vulnerabilität im Rahmen einer an diesem Konzept ausgerichteten interdisziplinären Hungerforschung.

Insgesamt stellte der Workshop einen äußerst fruchtbaren Austausch von historisch und aktualitätsbezogen arbeitenden Forschern entlang des gemeinsamen Konzepts Vulnerabilität dar. Einerseits wurde dadurch die Nützlichkeit des Vulnerabilitätskonzepts als interdisziplinäres Brückenkonzept in der Praxis bestätigt und andererseits sein anregender Impuls für eine zukünftige vertiefte kulturwissenschaftliche Ausrichtung der Hungerforschung illustriert.

Konferenzübersicht:

Dominik Collet (Göttingen): Einführung in das Tagungsthema

Gerd Spittler (Bayreuth): Handeln in einer Hungerkrise – das Beispiel der Tuareg

Cristine Berth (St. Gallen): Hungerkrisen in Nicaragua zwischen 1972 und 2000 – eine historische Fallstudie

Sabine Dorlöchter-Sulser (Berlin): Historischer Rückblick auf die Hungersnöte der 1960er- und 1970er-Jahre im Niger. Klimatische und anthropogene Faktoren als Ursache für erhöhte Verwundbarkeit

Heike Wieters (Frankfurt an der Oder): Vom eigenen Hunger zum Hunger der Anderen. Die Debatten um das Welternährungsproblem in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg

Robert Kindler (Berlin): Sowjetisierung durch Hunger – Die kasachischen Nomaden und die Hungersnot von 1931 - 1934

Steven Engler (Essen): Entwicklung eines “Famine Analysing Models” (FAM) für vergangene Hungersnöte

Thore Lassen (Göttingen): Landesherrliche Maßnahmen gegen Teurungen im frühen 18. Jahrhundert

Sascha Weber (Mainz): Kurmainz und die Hungerkrise 1771/72. Ursachen, Umgang, Folgen

Daniel Krämer (Bern): Das „Jahr ohne Sommer 1816“ und die soziale Verletzlichkeit der Schweiz

Ansgar Schanbacher (Göttingen): Kartoffelkrankheit und Nahrungskrise im Königreich Hannover 1845-1850

Michael Hecht (Münster): Handeln in der Hungerkrise 1846/47: Nahrungsproteste und „Krisenmanagement“ in Preußen

Anmerkung:
1 Hier ist auf die klassischen Modelle der FAD-Theorie (Food Availability Decline) und FED-Theorie (Food Entitlement Decline) zu verweisen.


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