'Nun danket alle Gott für diesen braven Mord' – Matthias Erzberger: Ein Demokrat in Zeiten des Hasses

'Nun danket alle Gott für diesen braven Mord' – Matthias Erzberger: Ein Demokrat in Zeiten des Hasses

Organisatoren
Stuttgarter Symposion, Haus der Geschichte Baden-Württemberg, Stuttgart
Ort
Stuttgart
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.11.2011 - 25.11.2011
Url der Konferenzwebsite
Von
Andreas Morgenstern, Haus der Geschichte Baden-Württemberg Stuttgart

Am 26. August 1921, vor 70 Jahren, ermordeten Mitglieder der rechtsextremistischen „Organisation Consul“ Matthias Erzberger. Der im oberschwäbischen Buttenhausen geborene Politiker der katholischen Zentrumspartei galt als vielleicht größte Hassfigur der Weimarer Republik für die antidemokratische Rechte. Weniger bekannten Aspekten seines Wirkens, jenseits von seiner Rolle als Unterzeichner des Waffenstillstandsvertrags für das Deutsche Reich am 11. November 1918 und seiner Steuer- und Finanzreform in der frühen Republik, widmete sich das diesjährige Stuttgarter Symposion. Traditionell richtet sich die Veranstaltung des Hauses der Geschichte Baden-Württemberg und der Landeshauptstadt Stuttgart an ein breites, geschichtsinteressiertes Publikum.

An die ständige Bedrohung des Lebens Erzbergers erinnerte gleich zu Beginn der frühere baden-württembergische Staatsminister CHRISTOPH PALMER (Stuttgart), dessen Initiative es zu verdanken ist, dass seit 2004 in Münsingen-Buttenhausen das Geburtshaus Erzbergers dem Gedenken an dessen politische Leistungen gewidmet ist. In seinem einführenden Referat stellte er Erzberger als einen fintenreichen Berufspolitiker vor, der in einer weitgehend separierten politisch-parlamentarischen Gesellschaft umtriebig Grenzen überwand. Als Publizist und Unternehmer, als Brückenbauer zur SPD, aber auch als Kriegspropagandist zeichneten Widersprüche sein Leben aus, die Erzberger als „zu vielschichtig für schnelle Heldenverehrung“ erscheinen lassen. Gleichzeitig betonte Palmer, dass die Erinnerung an Erzberger noch immer mit Höhen und Tiefen verbunden sei. Während einerseits das Bundesministerium der Finanzen seit 2008 einen Saal nach seinem früheren Minister benannte, suche man bis in die Gegenwart in der Hauptstadt vergeblich eine nach ihm benannte Straße, und auch das Gymnasium in Erzbergers Heimat konnte sich bisher nicht zu einer Umbenennung durchringen.

Die Beurteilung Erzbergers als „Prototyp eines Berufspolitikers“ vertiefte im Anschluss ANDREAS BIEFANG (Berlin) in seiner Analyse der Parlamentsentwicklung im Kaiserreich. Der Zentrumspolitiker habe, damals nicht typisch, gleich nach seinem Wahlsieg 1903 seinen Lebens- und Arbeitsmittelpunkt nach Berlin verlagert. Bereits nach kurzem hatte sich Erzberger als Exponent des linken Zentrumsflügels etabliert, der sich auch durchaus selbstbewusst ins Licht zu rücken wusste. Zwar war er ein prominenter Vertreter der „Generation Erzberger“, letztlich sei er aber eher als „neuer Normalfall“ parlamentarischer Professionalisierung anzusehen.

FRANK BÖSCH (Potsdam) blickte auf den ersten spektakulären Auftritt des noch jungen, 31-jährigen Erzberger, der sich 1906 in der Debatte um die Kolonialpolitik des Reichs so engagierte, dass die britische Times ihn als besten Redner des Reichstags hervorhob. In den Mittelpunkt seines Vortrags stellte Bösch dabei die Diskussion um die Vorwürfe des Württembergers, dass Ausbeutung und Missmanagement durch deutsche Verwaltung und Unternehmen vor Ort herrschten. Prägend gestaltete sich dabei einerseits, dass sich das Zentrum bei der Kolonialpolitik in erster Linie aufgrund ihrer Erwartung einer Verbreitung des christlichen Glaubens enttäuscht sah, andererseits, dass Erzbergers Vorwürfe nicht die Rigorosität der Linken erreichten.

Dennoch habe sich rasch eine Art „Duellstruktur mit einem Ankläger“ herauskristallisiert, obwohl er erst dann an die Öffentlichkeit ging, als interne Vorstöße bei der Reichsleitung kein Gehör fanden. Erzberger habe von seiner anschaulichen, strukturierten Argumentation profitiert, die wiederholt neue Erkenntnisse ankündigte und so den Spannungsbogen zu halten wusste. Seine gesammelten Äußerungen fasste er in einem Buch zusammen. Gegner sprachen hingegen von einer „neuen üblen Sitte“ der Ausnutzung der Presse. Die Reichsleitung geriet unter Druck, herrschende Verträge mussten gekündigt werden, auch weil der Streit mithilfe des aufkommenden Sensationsjournalismus ausgetragen wurde. Für Bösch zeigt die Entlassung des Landwirtschaftsministers Victor von Podbielski, trotz dessen Protektion durch Kaiser Wilhelm II., die gewachsene Macht des Reichstags. Obwohl die folgende kolonialpolitische Reformära Erzberger hier wieder in den Hintergrund treten ließ, hatte er sich in einem aufgewerteten Reichstag zu einer Schlüsselfigur entwickelt, sich aber auch den dauerhaften Hass der Rechten zugezogen.

Hier schloss sich Erzbergers Position zum Genozid an den Armeniern durch das Osmanische Reich an. HANS-LUKAS KIESER (Zürich) beschrieb einen durchaus als außergewöhnlich zu bezeichnenden Wandel. Habe er bis 1914 kaum Interesse für die Region gezeigt, entwickelte er sich zu einem wichtigen, wenn auch kaum gehörten Mahner. Nach einigem Zögern sah er die Konsequenzen einer osmanischen Politik, für die eine ethnische Säuberung das Minimalziel des Kriegs bedeutete. Die deutsche Seite übte aus Angst vor einem Verlust des Verbündeten eine Zurückhaltung aus, die Erzberger im Nachhinein „die Schamröte ins Gesicht trieb“. So verwunderte es auch nicht, wenn der Referent eine Parallele zwischen Erzbergers Engagement für ein verfolgtes Volk und seiner wachsenden Befürwortung des Demokratieprinzips zog. In der Sache scheint Erzberger aber weitgehend erfolglos geblieben zu sein: Das Desinteresse der Reichsleitung verhinderte jedes aktive Eingreifen.

Umso reger gestalteten sich seine Kontakte zum Vatikan. Hier wurde von HUBERT WOLF (Münster) unter Verwendung der geheimen vatikanischen Archive eindrücklich das Bild des umtriebigen Politikers und Katholiken gezeichnet. Nachdem er nicht zuletzt durch finanzielle Hilfen einen engen Kontakt aufgebaut hatte, nutzte er diesen gegenüber der Nuntiatur in München, aber auch direkt gegenüber Rom, für einen bedeutenden Informationsaustausch. Erzberger habe eine „ungeheure Bedeutung für den Vatikan“ besessen und sei vielleicht dessen wichtigste Quelle zur deutschen Innen- und Außenpolitik gewesen.

Inwieweit er dabei die Kontakte im Auftrag der Reichsregierung pflegte, sei bisher nicht zu beantworten. Sicher sei hingegen, dass Erzbergers Ruf unter dem Spionagevorwurf litt. Zu den ungeklärten Fragen gehöre schließlich auch, ob seine geradezu fantastisch klingenden Pläne einer Sicherung des seit dem Ende des Kirchenstaats 1870 fragilen Status des Vatikans, der sich mit dem drohenden italienischen Kriegseintritt gegen Deutschland noch verschärfte, mehr als nur reine Utopie gewesen seien. Letztlich kam es aber erst später zu einer Verselbstständigung des Vatikans und auch seine „ureigenste Idee“ eines Umzugs des Heiligen Stuhls in das neutrale Liechtenstein fand keine Umsetzung.

Den zweiten Veranstaltungstag eröffnete CHRISTOPHER DOWE (Stuttgart), der Erzbergers Position zu Judentum und Antisemitismus darstellte. Erzberger habe dabei die Minderheitenerfahrung geprägt: geboren als Katholik in einem der „Judendörfer“ Württembergs, in dem eine zahlenstarke jüdische Gemeinschaft neben einer starken protestantischen Mehrheit stand. Religiöse Toleranz ließ ihn Glauben als „innerstes Heiligtum“ betrachten, weshalb er vor dem Reichstag 1913 für Gleichberechtigung eintrat. Dennoch sah Dowe eine Spannung innerhalb der Position Erzbergers, der zwar als national denkender Politiker im Judentum eine Glaubensgemeinschaft auf einer Stufe mit den beiden christlichen Konfessionen sah, andererseits durchaus epochentypische antijüdische Stereotype bediente. Dass der Antisemitismus zu einem „Cultural Code der Weimarer Republik“ werden sollte, habe Erzberger nicht erkannt. So sei er ohne Rücksicht auf sein eigenes Ansehen energisch gegen dessen Radikalisierung auf der Rechten aufgetreten. Dabei wurde er selbst immer stärker eine Zielscheibe antisemitischer Hetze, habe zugleich aber die zahlenmäßig starke Repräsentanz der Juden in der USPD sehr kritisch kommentiert.

Mit dem Umfeld eines „sensationellen Gerichtsprozesses“ beschäftigte sich anschließend NORMAN DOMEIER (Stuttgart). Der Prozess Erzberger-Helfferich habe seine Ursprünge bereits in der Reichsfinanzreform des Ersteren gehabt. Ihr Zugriff auf die Vermögen der Wohlhabenderen habe die „Personifizierung des Novemberverbrechers“ (so das zeittypische Urteil) noch verhasster gemacht. Die beiden Antipoden verband ein rascher Aufstieg. Im Unterschied zu Erzbergers Karriere im Parlament hatte sich Karl Helfferich aber in der kaiserlichen Exekutive etablieren können.

Nun war Erzberger Minister – der Duellcharakter zwischen dem Vertreter des neuen und dem des alten Regimes war praktisch vorgegeben und versinnbildlichte die politische Kultur der Zeit. Als weitere zentrale Konfliktlinie sah Domeier die Diskussion um die Verquickung zwischen Politik und Wirtschaft sowie den Streit um den legitimen Politikertypus. Die gegen Erzberger erhobenen inhaltlichen Korruptionsvorwürfe in der Kriegsproduktion ließen diesen in die Defensive geraten. Seine Umtriebigkeit hatte ihm viele Feinde eingebracht, das unzulässig moralisch unterfütterte Urteil gegen ihn bedeutete stellvertretend eine Niederlage für die junge Republik. Seine Ehre konnte der so persönlich diskreditierte Parlamentarier vor seiner Ermordung nicht wieder herstellen, der Weg zur neuen Demokratie gestaltete sich damit noch steiniger.

JOACHIM TAUBER (Lüneburg) wendete sich einem Feld jenseits der Reichsgrenzen zu. Seit 1915 besetzten deutsche Truppen Litauen und richteten faktisch ein Militärregime ein, das auf eine Überstülpung deutscher Kultur bei maximaler Ausnutzung der vorhandenen Ressourcen abzielte. Für die arg bedrängte Taryba, Litauens Staatsrat, bot sich Erzberger dank seiner Distanz zur OHL, seinem kolonialpolitischen Engagement und seinem Interesse für den Katholizismus als Ansprechpartner an. Treffen zwischen den beiden Seiten, flankiert von Rücksprachen Erzbergers mit der Reichsregierung, folgten. Und ähnlich den Ideen zum Vatikan entwickelte der Württemberger einen fantastisch klingenden Plan. Indem er das katholische Süddeutschland gegenüber dem protestantischen Preußen hervorhob, protegierte er Herzog Wilhelm Karl von Urach als litauischen König. Mit seiner tatsächlichen Inthronisation 1918 erhofften sich die Balten einen Souveränitätsgewinn, während Erzberger einen vermeintlich großen außenpolitischen Erfolg zu verbuchen dachte. Als er jedoch nach Compiègne zur Unterzeichnung des Waffenstillstands reiste, widerrief die Taryba die Monarchie. Auf seine Weise habe auch Erzberger versucht, Litauen im deutschen Einflussbereich zu halten, die Kriegsniederlage bereitete dem Ansinnen aber ein Ende.

Mit den Folgen dieser Niederlage auf die politische Kultur der neuen Republik beschäftigte sich abschließend BORIS BARTH (Konstanz). Unter Betonung des Plurals (Dolchstoßlegenden) stellte er vor, warum ausgerechnet in Deutschland diese Verschwörungstheorie so einen Anklang gefunden habe. Besonders interessant erscheint dabei seine These, die antidemokratische Rechte habe bereits 1917 das drohende Ende des Kaiserreichs vorausgesehen, weshalb letztlich die eigentlich oppositionelle Mitte und Linke zur letzten Verteidigerin des überkommenen Kaiserreichs wurde, die sich so auch die Verantwortung für den Waffenstillstand zuschieben ließ, und auch freiwillig übernahm. Eine sich immer weiter segregierende Gesellschaft erreichte zwischen 1920 und 1923 den „kommunikativen worst case“, das heißt das Ende jeder Auseinandersetzung über die Plausibilität der Dolchstoßlegenden. In dieser Situation kristallisierte sich Erzberger insbesondere für die DNVP als zentrale Hassfigur heraus, die nach einem alle Strömungen vereinenden Faktor suchte. So gewann dieses Feindbild eine solche Wirkkraft, dass das Münchner Polizeipräsidium sogar die Untersuchung des Mords an diesem angeblichen „Novemberverbrecher“ hemmte. Eine breitere gesellschaftliche Diskussion rief erst der spätere Mord an Walter Rathenau hervor.

Das Stuttgarter Symposion bot 2011 so ein vielschichtiges Spektrum des politischen Wirkens Matthias Erzbergers, das über sein Leben hinaus auch einen guten Einblick in seine Zeit ermöglichte. Zwischen 1906 (Kolonialdebatte) und 1921 (Helfferich-Prozess und Ermordung) lagen lediglich 15 Jahre, die aber das Gesicht des Deutschen Reichs grundlegend veränderten. Hierbei spielte Erzberger als die wichtigste Figur des parteipolitischen Katholizismus, als moderner umtriebiger Strippenzieher und als Brückenbauer zu anderen demokratischen Milieus eine zentrale Rolle. So schloss Boris Barth seinen Vortrag mit der Bemerkung, zu Erzbergers entscheidenden Position im Übergangsprozess zur deutschen Demokratie sei längst noch nicht alles gesagt. Viele Forschungsfelder wurden im Symposion aber mit interessanten Befunden beleuchtet. Ein Anstoß für die notwendige weitere Beschäftigung mit dieser zentralen politischen Figur der frühen Republik ist gegeben.

Konferenzübersicht:

Begrüßung
Susanne Eisenmann, Bürgermeisterin für Kultur, Bildung und Sport
Thomas Schnabel, Leiter des Hauses der Geschichte Baden-Württemberg

Christoph E. Palmer, Minister a.D.: Erinnern ohne zu heroisieren. Matthias Erzberger – ein Wegbereiter deutscher Demokratie

Andreas Biefang, Kommission zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Berlin: Berufsparlamentarier im Kaiserreich? Matthias Erzberger und die Lebensform M.d.R.

Frank Bösch, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam: Der Ankläger. Erzberger und die Kolonialpolitik im frühen 20. Jahrhundert

Hans-Lukas Kieser, Universität Zürich: Matthias Erzberger und die osmanischen Armenier im Ersten Weltkrieg

Hubert Wolf, Westfälische Wilhelms-Universität Münster: Matthias Erzberger, Nuntius Eugenio Pacelli und der Vatikan. Oder: Warum der Kirchenstaat nicht nach Liechtenstein verlegt wurde

Geschichte mal anders: Erzberger in 3-D. Historische Klangcollage aus Texten, Tönen und Theater
H-Team, Museumsjugendclub des Hauses der Geschichte Baden-Württemberg, verstärkt um junge Stuttgarter Musiker

Christopher Dowe, Haus der Geschichte Baden-Württemberg, Stuttgart: Matthias Erzberger und der Antisemitismus

Norman Domeier, Universität Stuttgart: Die Verquickung politischer und wirtschaftlicher Interessen in der Weimarer Republik: Der Sensationsprozess Erzberger-Helfferich

Joachim Tauber, Nordost-Institut, Lüneburg: Der Kampf um die Unabhängigkeit 1917-1919: Matthias Erzberger und die deutsche Politik aus litauischer Perspektive

Boris Barth, Universität Konstanz: Erzberger und die Dolchstoßlegende


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