Macht und Ohnmacht der Archive. Archivarische Praxis, Archivtheorie und Kulturwissenschaft heute

Macht und Ohnmacht der Archive. Archivarische Praxis, Archivtheorie und Kulturwissenschaft heute

Organisatoren
Landesarchiv Schleswig-Holstein; Universitätsarchiv, Universität der Künste Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
27.10.2011 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Antje Kalcher, Universitätsarchiv, Universität der Künste Berlin

Der Terminus „Archiv“ hat in den letzten Jahren einen Aufstieg erlebt: vom Synonym für das „Geheime“ und „Verstaubte“, auch „Rückständige“ zu einem multifunktional einsetzbaren Schlagwort, das jeder im Munde führen und für seine Zwecke verformen kann. In den Strömungen innerhalb der postmodernen Kulturwissenschaften wird „Archiv“ im Rückbezug auf Jacques Derrida und Michel Foucault als Oberbegriff für unterschiedlichste Informations- und Wissensspeicher benutzt. In den Medienwissenschaften taucht die Bezeichnung an vielen Stellen auf. Auch auf dem Informationssektor ist sie flächendeckend präsent, nahezu jede Website besitzt ihr eigenes Archiv. Im Gegensatz zum eigentlichen Ziel und Zweck von Archiven, nämlich der dauerhaften und geordneten Aufbewahrung archivwürdiger Unterlagen, wird dort häufig lediglich abgelegt, was nicht mehr gebraucht wird. Viele Institutionen, die in erster Linie sammelnd oder dokumentierend tätig sind, bezeichnen sich als Archive, obwohl kein archivarischer Ansatz in ihrer Tätigkeit erkennbar ist.1 Auch in der breiten Öffentlichkeit besteht vielfach Unklarheit über die Funktion von Archiven und die Tätigkeit von Archivaren. Dennoch wird ihnen unterstellt, im Besitz von „Macht“ zu sein, was die Aufbewahrung oder die Vernichtung von Quellen angeht und damit die Möglichkeit der Einflussnahme auf die Geschichtsschreibung. Gleichzeitig wird eine große Staatsnähe bzw. die Tendenz zu einer gewissen Dienstbarkeit den mächtigen Archivträgern gegenüber vermutet.

Das von Rainer Hering, Leiter des Landesarchivs Schleswig-Holstein, und Dietmar Schenk, Leiter des Universitätsarchivs der Universität der Künste Berlin, konzipierte Symposium, dessen Gastgeber die Vertretung des Landes Schleswig-Holstein beim Bund war, hatte sich die längst fällige und bisher nur ansatzweise erfolgte Auseinandersetzung der Archivwissenschaft mit der Veränderung des Archivbegriffs zum Ziel gesetzt. Anhand konkreter und ausgesprochen vielfältiger Beispiele aus verschiedenen Bereichen der Archivarbeit näherte sich die Tagung dem Kern des Themas. Die Erfahrungen mit der „Macht“ oder „Ohnmacht“, eine tragfähige und breitgefächerten Ansprüchen gerecht werdende Überlieferung zu bilden und zu bewahren, stand hinter oder über den Ausführungen. Wie findet Überlieferungsbildung statt oder wie kann sie stattfinden? Wo sind die „Lücken im Archiv“? Wie viel Objektivität oder schlicht „Wahrheit“ steckt im Ergebnis der Archivarbeit?

MARTIN RENNERT, Präsident der Universität der Künste Berlin, wies in seinem Grußwort auf die Besonderheit hin, dass die Tagung von einem „klassischen“ Staatsarchiv und dem Archiv einer künstlerischen Hochschule ausging. Darin spiegelt sich die veränderte Interessenlage, auch in den kunstbezogenen Wissenschaften.

„Geschichte schreiben nicht die Sieger, sondern die Archivare“2: Diese provokante These hatte Rainer Hering einem am Vortag in der Süddeutschen Zeitung erschienenen Artikel zum Archiv des Auswärtigen Amtes entnommen. In den Kontext der kulturkritischen Diskussion um „Archiv“ und „Macht“ gestellt, stimmte es die Zuhörer auf die der Konferenz zugrunde liegende Thematik ein.

DIETMAR SCHENK (Berlin) untersuchte in seinem Beitrag den Konflikt zwischen dem auf Misstrauen beruhenden Motiv der „Archivmacht“ und dem Anspruch der Archive, der geschichtlichen Wahrheit verpflichtet zu sein. Auf die kulturwissenschaftliche Debatte der 1990er-Jahre, die das Archiv thematisierte, gab es – ganz im Gegensatz zur internationalen Archivwissenschaft – aus deutschen Fachkreisen keine ernsthafte Reaktion. An ihrer Stelle schalteten sich Kultur- und Medienwissenschaftler wie Wolfgang Ernst in die Diskussion ein. Ihre Impulse trugen zu einer Modifikation des Archivbegriffs bei. Das Sprachbild „Archiv“ wurde immer schwerer fassbar. Die Archivare dagegen versäumten es, Stellung zu beziehen.

Die kulturwissenschaftliche Kritik der „Archivmacht“ verlangt jedoch nach einer Auseinandersetzung. Selektives Vorgehen bei der Bewertung, also der Auswahl archivwürdiger Unterlagen, Zweckgebundenheit der Überlieferungsbildung und somit die „Konstruktion“ von Wahrheit wurden und werden unterstellt. Um diesem Verdacht zu begegnen, muss das archivarische Handeln begründet und dadurch nachvollziehbar gemacht werden.

Der ehemalige Leiter der personenkundlichen Abteilung des Staatsarchivs Hamburg JÜRGEN SIELEMANN schilderte sehr anschaulich den Umgang der Archivarskollegen mit ihrer eigenen Geschichte in der Nachkriegszeit unter anderem anhand des Beispiels der Überlieferung der Hamburger Jüdischen Gemeinde. Noch bis in die 1970er-Jahre war die Rolle der während der Zeit des Nationalsozialismus für die Erstellung des „Nachweises der arischen Abstammlung“ zuständigen Abteilung nicht nur als die eines „ohnmächtigen Erfüllungsgehilfen“ dargestellt worden, sondern es wurde auch behauptet, man habe in einem quasi heroischen Akt, das Schriftgut der Jüdischen Gemeinde vor dem Abtransport nach Berlin ins Reichssicherheitshauptamt bewahrt. Auf diese Weise habe man versucht, Unheil von der jüdischen Bevölkerung der Stadt abzuhalten. Der damalige Leiter der Abteilung wurde nach Kriegsende weiterbeschäftigt. Erst in den 1980er-Jahren kamen Zweifel an dieser Darstellung der Begebenheiten auf. Wie Sielemann durch akribische Recherche in auf den ersten Blick kaum einschlägigen Sachakten nachweisen konnte, wurden die Akten jedoch aus einem ganz anderen Grund ins Staatsarchiv verbracht: ihr Vorhandensein gab den Archivaren die zur Erstellung des Nachweises der „arischen“ Abstammung notwendigen Originalquellen in die Hand, wo zuvor nur Zweitschriften vorhanden gewesen waren. Auch die Unterstützung, die die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft bei der Bearbeitung ihrer Anträge auf Wiedergutmachung oder Entschädigung von Seiten des Staatsarchivs erfuhren, war nach Aktenlage, zumindest in den ersten Jahren nach 1945, eher dürftig. Die Auskünfte, die das Archiv erteilte, stammten aus einer von der Geheimen Staatspolizei angelegten Kartei.

ELEONORA BERGMAN (Warschau) stellte in ihrem Beitrag das Archiv „Oneg Shabbat“ vor, das der polnisch-jüdische Historiker und Publizist Emanuel Ringelblum (1900-1944) im Warschauer Ghetto aufbaute und leitete. Im Oktober 1939 begannen er und seine Mitarbeiter sämtliche erreichbaren Dokumente zusammenzutragen, darunter amtliche Schreiben, private Korrespondenz, Meldekarten, Arbeitsscheine, Schulzeugnisse, Fotografien. Unter den unmenschlichen und lebensbedrohenden Bedingungen im Ghetto führten er und seine Mitarbeiter außerdem Untersuchungen über das wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Leben der Warschauer jüdischen Bevölkerung während der Zeit der deutschen Besetzung durch, deren Ergebnisse sie aufzeichneten. Die Archivalien und die Aufzeichnungen wurden in Metallkisten und Milchkannen an mehreren Stellen auf dem Gelände des Ghettos vergraben. 1946 und 1950 wurden zwei wesentliche Teile des Archivs gefunden und ausgegraben. Ein dritter Teil ist bislang verschollen. Die kürzlich verstorbene Historikerin Ruta Sakowska, langjährige Mitarbeiterin des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau, stellte das Archiv in einer fundierten Publikation der Öffentlichkeit vor. Neben einem Essay sind ausgewählte Dokumente ediert.3 Frau Bergman betonte, dass die aus der Perspektive der Nachwelt formulierte Bezeichnung „Archiv der Opfer“ angesichts der selbstbewussten Einstellung der Beteiligten und der Nachhaltigkeit des Ergebnisses ihrer ambitionierten Sammlungs- und Dokumentationstätigkeit zu kurz greife.

MATTHIAS BUCHHOLZ (Berlin) lenkte den Blick auf Stimmen, die unter einer anderen Diktatur des 20. Jahrhunderts unterdrückt wurden, nämlich diejenigen der in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR unerwünschten Autorinnen und Autoren. Innerhalb eines durch die Stiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur getragenen Projekts wurden literarische Texte sämtlicher Genres gesucht, gesammelt und für die literaturwissenschaftliche und zeithistorische Forschung zur Verfügung gestellt. Es entstand das „Archiv unterdrückter Literatur in der DDR“. Werke von zehn der Autoren wurden bislang publiziert. Hinter dem Werk verbergen sich häufig bedrückende Einzelschicksale, von denen Buchholz zwei detailliert schilderte. Im Bewusstsein der durch den Staat ausgeübten Zensur und befürchteter politischer Restriktionen beschnitten sich die Autoren formal und inhaltlich häufig selbst mit der „Schere im Kopf“. Der durch die Überlieferungsbildung geschaffenen kulturellen Identität fehlten damit wichtige Bausteine, die ein vollständiges Bild der in der DDR entstandenen Literatur abgeben würden. Häufig wurde durch die Unterdrückung auch die Entfaltung des literarischen Potentials der Autoren verhindert. Ein anderer, differenzierterer Blick auf die zwischen 1945 und 1990 im Ostteil Deutschlands entstandene Literatur ist dank diesem Archiv nun möglich.

Die Problematik der Überlieferungsbildung im Allgemeinen stand im Mittelpunkt der Ausführungen von ROBERT KRETZSCHMAR (Stuttgart/Tübingen), dem Präsidenten des Landesarchivs Baden-Württemberg, der sich der Quellensicherung im institutionellen Rahmen widmete. Anhand von Beispielen aus dem Umfeld des Landesarchivs Baden-Württemberg schilderte er anschaulich die begrenzten Möglichkeiten der Einflussnahme durch die Archivare, auch in Anbetracht der Herausforderungen durch die „digitale Welt“. Trotz der in den Archivgesetzen festgeschriebenen Anbietungspflicht für die Behörden und des den Archiven zustehenden Bewertungsmonopols gestaltet sich eine homogene und objektiven Kriterien gerecht werdende Überlieferungsbildung oft schwierig. Es mangelt vor allem an Überprüfbarkeit, da kaum festzustellen ist, wo sich jeweils die „Lücke im Archiv“ befindet.

Nachdem Kretzschmar die Anforderungen an die archivische Überlieferungsbildung und damit die Formung von Erinnerung skizziert hatte, ging er auf die Problematik der Festlegung allgemeingültiger Kriterien für die Auswahl der Unterlagen ein. Waren die Archive bis zum Ende des 19. Jahrhunderts (und auch noch in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts) tatsächlich durch ihre Konzentration auf die Belange der Rechtssicherung für den Archivträger „Archive der Macht“, so öffnen sie sich heutzutage den verschiedensten Forschungsinteressen und arbeiten im Sinne einer „multiperspektivischen Sicherung“. Dem Begriff „Ohnmacht“ setzte der Redner die mildere Formulierung „begrenzter Einfluss“ entgegen: je größer die Wertschätzung sei, die die Archive in der Gesellschaft genießen, desto mehr Möglichkeiten besäßen sie auch, die Überlieferungsbildung konstruktiv zu gestalten.

Die Metamorphose eines Archivales in einen publizierten und kommentierten Text behandelte HEIKE TALKENBERGER (Stuttgart) in ihrem Beitrag. Während ihrer Tätigkeit als Archivarin im Staatsarchiv Stade stieß sie in den Akten der dortigen Staatsanwaltschaft auf das Manuskript einer Autobiographie, die der Betrüger Luer Meyer Mitte des 19. Jahrhunderts während seines Gefängnisaufenthalts niederschrieb.4 Der Text erlaubt einen Einblick in die Mechanismen der Macht innerhalb eines Mikrokosmos. Der geschichtliche Hintergrund: In einigen deutschen Gefängnissen wurde versucht, die in England und den USA entwickelten Ideen einer Gefängnisreform umzusetzen. Teil dieser Reform war der Ansatz, Insassen zum Aufschreiben ihrer Biographie zu bewegen, um damit eine Selbstreflexion auszulösen. Wo im Vordergrund der Gefängnisalltag beleuchtet wird, wird auf den zweiten Blick ein Netz aus hierarchischen Beziehungen sichtbar; die Vielschichtigkeit des Machtgefüges innerhalb der Mauern wird deutlich. Der Text lässt aber auch den Spielraum des Individuums innerhalb dieses Machtgefüges erkennen. Die Referentin betonte, dass der Verfasser zwar die Anschauungen der Gefängnisreform, gefiltert durch die eigene Erfahrung, wiedergebe. Auffällig sei jedoch in diesem, wie auch in anderen Editionen derselben Gattung ein gewisser „Eigensinn“ des Schreibenden. Analyse und Interpretation solcher Texte unterstützen auf diese Weise eine authentische Darstellung der Gesellschafts- und Sozialgeschichte.

Wie farbig und vielseitig die Archivlandschaft ist, dokumentierte JÜRGEN BACIA vom „Archiv für alternatives Schrifttum“ in Duisburg in seinem ursprünglich gemeinsam mit dem Kultur- und Fotografiehistoriker DIETHART KERBS (Berlin) konzipierten Beitrag über die politisch engagierte Archivarbeit. Diethart Kerbs konnte leider aus gesundheitlichen Gründen nicht persönlich anwesend sein. Die Errichtung von Archiven oder Sammlungen sozialer und gesellschaftlich aktiver Bewegungen oder Einrichtungen sowie oppositioneller Gruppen geht meist von einzelnen oder wenigen Menschen aus, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Dokumente zu bewahren oder zu konzentrieren, die von den institutionalisierten Archiven kaum oder gar nicht beachtet werden. Aufgrund des Engagements dieser freien, größtenteils unterfinanzierten und von ehrenamtlicher Mitarbeit getragenen Archive ist die Bildung einer Gegenüberlieferung zu den in herkömmlichen Archiven vorhandenen Quellen möglich. Eine Gegenöffentlichkeit drückt sich aus. Jürgen Bacia schilderte anhand verschiedener Beispiele die Besonderheiten solcher Einrichtungen, die unterschiedlichen Ansätze und verschiedenartigen Beweggründe für die Errichtung solcher Archive. Er wies auf ihre Bedeutung für die Identitätsstiftung von sozialen Bewegungen hin. Was sie sammeln, dokumentiert ihre eigene Arbeit durch Material, das durch diese entsteht oder sich auf sie bezieht. In der Vielfalt der aktiven Gruppen drückt sich der Pluralismus der Gesellschaft aus, ihre Archive bilden diesen ab. Die Quintessenz von Bacias Ausführungen lautete daher, angelehnt an ein dem Eröffnungsvortrag von Dr. Heribert Prantl zum Deutschen Archivtag 2011 in Bremen entnommenes Zitat: „(Freie) Archive sind systemrelevant!“5

Ein Bereich, der auch in der Welt der Archive zunehmend an Bedeutung gewinnt und dem sich die Archivare nicht entziehen können, stand im Mittelpunkt des abschließenden Vortrags von RAINER HERING (Schleswig/Hamburg), nämlich die Bewältigung der veränderten Aufgaben im Zeitalter der Digitalisierung. Zunächst zeigte Hering die in diesem Zusammenhang wichtigsten Unterschiede zwischen analogem Schriftgut und digitalen Daten auf, um daran anschließend die Problematik des archivarischen Umgangs mit den verschiedenen medialen Formen zu erläutern. In der virtuellen Welt werde die Information artifiziell und gleichförmig. Digitale Dokumente weisen anders als solche auf Papier keine grafischen oder physischen Unterschiede auf, diese Gleichförmigkeit zwingt zu einem exakten Umgang mit den Daten. Als Ergebnis dieser Entwicklung verschwänden Kontexte und Belege und daraus resultierend Hintergrundwissen, so Hering. Die Nachdenklichkeit beim Rezipienten nähme ab, sein Reflexionswille und in der Folge auch die entsprechende Fähigkeit sänke. Hering sieht die steigende Gefahr, dass sich „Lücken im Archiv“ in der digitalen Welt potenzieren würden, da zwar eine größere Menge an Daten vorhanden seien, diese jedoch inhaltlich immer weniger aussagen würden. Auch die Recherchestrategien unterscheiden sich naturgemäß ganz erheblich. Hinzu kommen handfeste technische Probleme. Die „Haltbarkeit“ digitaler Daten beträgt kaum mehr als fünf bis zehn Jahre, danach müssen sie zeit- und kostenaufwendig migriert werden. Noch mehr als in der analogen Vergangenheit müssen die Archivare Verantwortung für die Form der Schriftgutverwaltung der Behörde übernehmen und ihren Einfluss geltend machen, lange vor der Übernahme der Daten ins Archiv. Die Archivare müssen ihren Schriftgutproduzenten Problemlösungen zur Verfügung stellen, quasi einen vorgeschalteten „Aktenplan für digitale Daten“.

Die abschließende, von MARTIN DINGES (Stuttgart/Mannheim) moderierte Podiumsdiskussion, an der neben Hering, Kretzschmar und Schenk auch der Medientheoretiker KNUT EBELING (Berlin) teilnahm, stieß beim zahlreich erschienenen Publikum auf große Resonanz. Konkrete und praxisorientierte Fragen seitens der Zuhörer wurden in die Diskussion einbezogen.

Als Resümee kann festgehalten werden, dass es gelungen ist, das schwer fassbar erscheinende, durch kulturwissenschaftliche Diskussionen vorgegebene Thema anhand sehr reeller, heterogener und gleichmäßig überzeugend vorgestellter Praxisbeispiele zu durchdringen. Eckpunkte konnten festgemacht und archivarische Ansätze für die Zukunft skizziert werden. Oft steht der vermeintlichen „Macht“ der Archive eine gefühlte „Ohnmacht“ der Archivare gegenüber. Solange der Pluralismus der Gesellschaft jedoch auch im Pluralismus der Archivlandschaft sichtbar wird und greifbar bleibt, steht einer authentischen Geschichtsschreibung nichts im Wege.

Konferenzübersicht:

Dietmar Schenk (Berlin): „Archivmacht“ und geschichtliche Wahrheit

Jürgen Sielemann (Hamburg): Die personenkundliche Abteilung des Staatsarchivs Hamburg im NS-Staat und in der Nachkriegszeit

Eleonora Bergman (Warschau): Archives of the Victims? Emanuel Ringelblum and His Work in the Warsaw Ghetto

Matthias Buchholz (Berlin): Von der Ohnmacht unterdrückter Autoren und der retrospektiven Macht der Archive. Das Archiv unterdrückter Literatur in der DDR

Robert Kretzschmar (Stuttgart/Tübingen): Quellensicherung im institutionellen Rahmen. Zur Macht und Ohnmacht der Archive bei der Überlieferungsbildung

Heike Talkenberger (Stuttgart): Schreiben im Gefängnis. Die Autobiographie des Betrügers Luer Meyer

Jürgen Bacia (Duisburg): Politisch engagierte Archivarbeit (am Beispiel der Archive von Pressefotografen und der freien Archive)

Rainer Hering (Schleswig/Hamburg): Ohnmächtig vor Bits and Bytes? Archivische Aufgaben im Zeitalter der Digitalisierung

Anmerkungen:
1 Archivische Bestandsbildung und Ordnung gehen im Regelfall von der vorgefundenen Struktur des zu bearbeitenden Schriftguts aus und bilden diese ab. Dies gilt für Bestände einer Behörde ebenso wie z.B. für Nachlässe. Eingriffe erfolgen nur in sehr behutsamer Form und treffen niemals die Struktur selbst. Im Unterschied hierzu gehen sammelnde und dokumentierende Einrichtungen wie Bibliotheken, Museen oder Forschungsinstitute mit einer bestimmten Zielrichtung an die Bildung der Bestände und formieren sie aus Objekten verschiedener Herkunft.
2 Willi Winkler, Im Schrank des Legationsrats. Das Politische Archiv des Auswärtigen Amtes und seine Nutzer, in: Süddeutsche Zeitung, 25.10.2011, S. 14.
3 Ruta Sakowska, Die zweite Etappe ist der Tod. NS-Ausrottungspolitik gegen die polnischen Juden, gesehen mit den Augen der Opfer. Ein historischer Essay und ausgewählte Dokumente aus dem Ringelblum-Archiv 1941-1943, Berlin 1993.
4 Heike Talkenberger (Hrsg.), Die Autobiographie des Betrügers Luer Meyer 1833-1855, Hannover 2010.
5 Heribert Prantl, Das Gedächtnis der Gesellschaft. Die Systemrelevanz der Archive. Warum Archivare Politiker sind, Vortrag gehalten auf dem Deutschen Archivtag 2011 in Bremen am 21.09.2011.