Von der Konflikt- zur Verflechtungsgeschichte? Wirtschaft und Umwelt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Von der Konflikt- zur Verflechtungsgeschichte? Wirtschaft und Umwelt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Organisatoren
Ralf Ahrens / Melanie Arndt, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam
Ort
Potsdam
Land
Deutschland
Vom - Bis
29.09.2011 - 30.09.2011
Url der Konferenzwebsite
Von
Florian Krug, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Die ohnehin stets gegebene Verflechtung von Wirtschaft und Umwelt hat sich durch das globale Wirtschaftswachstum nach dem Zweiten Weltkrieg und die Entstehung des „Umwelt“-Begriffes in den 1970er-Jahren nachhaltig intensiviert. Die Erforschung dieses komplexen Verhältnisses und seiner Entwicklung steht jedoch in mancher Hinsicht noch am Anfang. Obwohl umwelthistorische Fragestellungen sich naturgemäß durch große thematische Bandbreite, Methodenvielfalt sowie Trans- und Interdisziplinarität auszeichnen, werden zumindest in der deutschen Forschung die Anknüpfungspunkte an die Wirtschafts-, Unternehmens- und Technikgeschichte nur zögerlich aufgegriffen. Im Gegensatz dazu zeigt vor allem die Unternehmensgeschichte seit einiger Zeit verstärktes Interesse an Umweltthemen. Ziel des Workshops war es daher vor allem, anhand neuerer Forschungsprojekte die Synergieeffekte von umwelt- und wirtschaftshistorischen Fragestellungen auszuloten und geläufige Konzepte zu hinterfragen. Entsprechend vielfältig waren die Vorträge, die mit Fallbeispielen zu verschiedenen Ländern eine große Bandbreite an historischen Akteuren abdeckten. Dabei wurde zwangsläufig auch das Verhältnis der Umweltgeschichte zu anderen geschichtswissenschaftlichen Teildisziplinen thematisiert und seine Perspektiven diskutiert.

Der Eröffnungsvortrag von PAUL ERKER (München) markierte zunächst einen Rahmen für die methodischen Diskussionen des Workshops. Erker problematisierte das Verhältnis von Wirtschafts- und Umweltgeschichte anhand ihrer Paradigmen „Wachstum“ und „Nachhaltigkeit“ und äußerte sich kritisch über die Erklärungskraft umwelthistorischer Leitbegriffe wie „Ökologisches Zeitalter“ und „Fossiler Kapitalismus“. Als Impuls für die weiteren Diskussionen forderte er die Entwicklung geeigneter analytischer Begriffe. Erker sprach sich zudem für eine „Entkulturalisierung“ der Umweltgeschichte zugunsten eines stärker empirisch geprägten Zugangs aus. Zugleich bescheinigte er aber der Umweltgeschichte das Potenzial zur neuen Leitdisziplin und folgerte daraus als provokante These die Möglichkeit eines Wiederaufstiegs der Wirtschaftsgeschichte durch die Umweltgeschichte. Diese Position stieß jedoch in der Diskussion auf Skepsis. Auch der Forderung nach „Entkulturalisierung“ wollten sich viele Teilnehmer nicht anschließen, da Kultur und Wirtschaft nicht zwangsläufig einen Gegensatz bildeten.

Die folgenden Vorträge präsentierten konkrete Fallstudien. CHRISTOPH WEHNER (Bochum), der den Umgang der Versicherungswirtschaft mit der Atomenergie untersuchte, brachte das Thema „Expertenwissen“ in die Diskussion ein. Als „Medium der Risikokommunikation“ hätten Versicherungen seit den 1970er-Jahren in den USA eine Vorreiterrolle für die gesellschaftlichen Risikodiskurse gespielt. Dieser Entwicklung sei ein Diskurs zwischen Privat- und Versicherungswirtschaft vorausgegangen, dessen Topoi später von der Umweltbewegung aufgenommen und weiterentwickelt worden seien. So habe das Konzept der „Grenzen der Sicherheit“ seinen Ursprung in den versicherungswirtschaftlichen „Grenzen der Versicherbarkeit“. Entschieden wandte sich Wehner gegen die These von der „Entzauberung von Expertenwissen in den 1970er-Jahren“. Expertenwissen sei vielmehr in die Gesellschaft diffundiert, und zwar sowohl in den USA als auch später in der Bundesrepublik, wenn auch unter verschiedenen politischen und sozialen Voraussetzungen. Die Berücksichtigung des gesellschaftlichen Risikodiskurses habe dabei in den 1970er-Jahren zur Aufgabe des formalen Risikobegriffes geführt.

Der Fokus der nächsten vier Vorträge lag auf Unternehmen und Unternehmerverbänden sowie ihrer Konfrontation mit dem entstehenden Umweltbewusstsein und den entsprechenden Umweltdebatten in Politik und Gesellschaft. UTE HASENÖHRL (Erkner) beschäftigte sich mit dem Ausbau des Lechs mit Staustufen und Wasserkraftwerken in den 1960er- und 1970er-Jahren durch die Bayrische Wasserkraft AG (BAWAG). Der sich dagegen formierenden Umweltbewegung, die sich in der „Notgemeinschaft Oberer Lech“ organisierte, begegnete die BAWAG mit einer Strategie der vollendeten Tatsachen. Aufgrund ihrer Verflechtungen mit der bayerischen Politik war das Unternehmen in der stärkeren Position und schreckte auch vor Bestechung nicht zurück.

MIRIAM GASSNER (Göttingen) untersuchte den Konflikt um die Rohölpipeline Central European Line, die in den 1950er- und 1960er-Jahren durch den italienischen Staatskonzern Ente Nazionale Idrocarburi (ENI) von Genua nach Ingolstadt gebaut wurde. Dabei arbeitete sie heraus, wie sich das Unternehmen nach der Auseinandersetzung mit verschiedenen staatlichen Stellen und Umweltgruppen, vor allem rund um den Bodensee, ökonomisch und umweltpolitisch wandelte. Nach anfänglicher Abwehr von Umweltmaßnahmen setzte sich die ENI seit den 1970er-Jahren für eine Vereinheitlichung der Umweltgesetzgebung auch in Italien ein, um dadurch Planungssicherheit zu gewinnen. Dabei habe das Unternehmen jedoch kein Verständnis für das von deutscher Seite vorgebrachte „Naturschutz“-Argument entwickelt. In den italienischen Quellen war vielmehr immer nur von „Gewässerschutz“ die Rede.

In der Diskussion über die Vorträge ging es zunächst um die Entstehung und Durchsetzung des „Umwelt“-Begriffs in den 1970er- und 1980er-Jahren. Im Fall des Pipelinebaus am Bodensee wurde hauptsächlich mit dem Trinkwasserschutz, aber auch mit der Erhaltung des Sees als intaktes System argumentiert. Im Konflikt um den Lech stand die Bewahrung der Naturlandschaft im Vordergrund. Der „Umwelt“-Begriff wurde dabei zuerst von der BAWAG gebraucht, und zwar im Zusammenhang mit der Proklamation regenerativer Energien. Im weiteren Verlauf der Diskussion kam die Frage auf, ob die Gesetzgebung auf nationaler und europäischer Ebene einen Referenzrahmen für oder eine Reaktion auf die Umweltdebatten dargestellt habe. Damit griff die Diskussion gewissermaßen den nächsten beiden Vorträgen über Unternehmen und Unternehmerverbände vor:

MARTIN BEMMANN (Freiburg) illustrierte anhand der Argumentation der deutschen Forstwirtschaft den Wandel des Waldbildes von den 1920er-Jahren bis zu den 1960er-Jahren. Damit gab er interessante Impulse für eine Analyse der Entstehung des Umweltbegriffes. Angesichts der ökonomischen Krisen propagierte die deutsche Forstwirtschaft in den 1920er- und 1930er-Jahren offensiv die Holznutzung („Deutsches Holz“) und betonte die eigene Wichtigkeit für die Volkswirtschaft. In den 1950er- und 1960er-Jahren dagegen wurde die Bedeutung des Landschaftselementes Wald für die Gesellschaft hervorgehoben und die Arbeit der Forstwirtschaft als Beitrag zum Wohl der Allgemeinheit dargestellt. Die Gründe für diesen Wandel in der Argumentation sah Bemmann in den unterschiedlichen politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen, aber vor allem im Wandel des gesellschaftlichen Bildes von Wald von der Nutzfläche über die Lebensgemeinschaft hin zum Ökosystem.

JAN-HENRIK MEYER (Aarhus) analysierte die Entstehung einer Europäischen Umweltpolitik im Umfeld der Ölkrise und die Reaktion der Unternehmerverbände. Damit gerieten zugleich umweltpolitische Aspekte stärker in den Blick. Das Umwelt-Aktionsprogramms der Europäischen Gemeinschaft vom November 1973 habe für die Wirtschaft gleiche Wettbewerbsbedingungen, Gerechtigkeit aufgrund des Verursacherprinzips und die Chance auf staatliche Anreize bedeutet. Diese Prinzipien wurden daher in der Planungsphase des Aktionsprogramms in der Union of Industrial and Employers' Confederation of Europe (UNICE) positiv aufgenommen. Mit der Ölkrise wandelte sich diese Einstellung, die UNICE wandte sich nun gegen „überflüssige Einheitlichkeit“ und Verursacherprinzip, dafür wurden steigende Kosten und die Gefahr der Abwanderung von Industrien in „weniger strenge Länder“ ins Feld geführt. Dabei sei jedoch nicht die Umweltpolitik an sich abgelehnt worden, sondern nur einzelne Maßnahmen. Das Verhalten der Unternehmen könne man also als Reaktion auf die umweltpolitische Praxis, aber auch auf andere Rahmenbedingungen wie gestiegene Kosten, Wettbewerbsprobleme und den Wertewandel durch Umwelterziehung interpretieren. Die anschließende Diskussion schloss genau hier an und kam zu dem Ergebnis, dass der Wandel der gesellschaftlichen Einstellung zur Umwelt hier wichtig für die Analyse ist. Bei den entsprechenden Aspekten wie Umwelterziehung, Auftauchen von Gegenexperten, Entstehung von Verbraucherschutz etc. bestehe jedoch in der Forschung noch Nachholbedarf.

Eine weitere neue Perspektive brachten die Vorträge von HEIKE WEBER (Berlin) und ROMAN KÖSTER (München), die sich mit der Geschichte der Hausmüllentsorgung und des Müllrecyclings in Deutschland beschäftigten. Während Köster wirtschaftshistorisch vorging und so die Gründe für den Wandel in den Strukturen der Müllverwertung und -entsorgung herausarbeitete, stellte Weber die analytischen Potenziale heraus, die eine Geschichte des Entsorgens für die Geschichtswissenschaft bereithalte, zum Beispiel eine differenziertere Betrachtung von Zäsuren und Brüchen wie der Industrialisierung, des „1950er-Syndroms“ oder der „Ökologischen Ära“. Beide unterstrichen jedoch die Komplexität der Müllentsorgung, in deren Analyse Überlegungen zu Infrastruktur, aber auch zu technischen Möglichkeiten und ökonomischen Notwendigkeiten einfließen müssten. Entsprechend lebhaft war die Diskussion, die noch einmal die wichtige Rolle der Infrastruktur für Entsorgung und Recycling behandelte, sich aber vor allem um die Kategorie der „Knappheit“ und ihre Erklärungskraft drehte. Als tendenziell normativer Begriff müsse „Knappheit“ vorsichtig angewandt werden, zudem sei Knappheit nicht zwangsläufig der Grund für den Aufbau von Recyclingstrukturen.

Die letzten beiden Vorträge beschäftigten sich mit Produktentwicklungs- und Vermarktungsprozessen innerhalb von Unternehmen als Reaktion auf die gesellschaftlichen Umweltdebatten. Damit wurde insbesondere der technikhistorische Aspekt beleuchtet und der Zusammenhang technischer Neuentwicklungen mit Politik, Wirtschaft und Konsum herausgestellt. SYLVIA WÖLFEL (Dresden) untersuchte, wie west- und ostdeutsche Unternehmen infolge der Ölkrise und des Berichts „Die Grenzen des Wachstums“ sparsame Haushaltsgeräte entwickelten. CHRISTOPHER NEUMAIER (Mainz) beschäftigte sich mit der Diskussion um die Einführung von Kat-Auto und Diesel-PKW und arbeitete über den Begriff der „Realitätsfiktion“ insbesondere den instrumentellen Umgang mit scheinbar objektiven wissenschaftlichen Daten heraus.

FRANZ-JOSEF BRÜGGEMEIER (Freiburg) würdigte in seinem Schlusskommentar die Vielfalt der auf dem Workshop behandelten Themen, Ansätze und Akteure. Die „Zäsuren“ der 1950er- und 1960er-Jahre hätten in den Beiträgen eine neue Relevanz bekommen und die Akteure seien ambivalenter dargestellt worden als in älteren umwelthistorischen Arbeiten. Brüggemeier merkte an, dass der Begriff der Umwelt an sich in keinem Beitrag thematisiert worden und auch die Umweltbewegung nur am Rande vorgekommen sei. Dies zeuge davon, dass die Umweltgeschichte von ihrem Fokus auf Ökosysteme und auf den Gegensatz von Industrie und Umweltbewegung abgerückt sei. Durch diese „Auffächerung“ sei sie anschlussfähiger an andere historische Teildisziplinen geworden. Skeptisch äußerte er sich über die Erklärungskraft des Nachhaltigkeitsbegriffs, besonders in Bezug auf die Industrialisierung. Damit verbunden sei die Frage nach der Anwendbarkeit der Diskussionen des Workshops auf die Zeit vor 1945. Zudem stellte Brüggemeier fest, dass keiner der Teilnehmer die „ganz große Frage“ einer „reformerischen Umweltgeschichte“ gestellt habe.

Der Schlusskommentar und die folgende Abschlussdiskussion, in der ein weiteres Mal die Offenheit der Umweltgeschichte betont wurde, deckten noch einmal die ganze Bandbreite an neuen Möglichkeiten des Erkenntnisgewinns, aber auch an offenen Fragen ab. Auch wenn die Umweltgeschichte nicht zur neuen Leitdisziplin werden dürfte, so zeigt sie doch durch ihre übergreifenden Fragestellungen neue Sichtweisen auf das Zusammenwirken der verschiedenen Akteure. Dabei kann sie von einer ernsthaften Beschäftigung mit wirtschafts-, technik- und insbesondere unternehmenshistorischen Arbeiten, die ihren scheinbar ureigenen Gegenstand zunehmend in den Blick nehmen, offenkundig profitieren und insbesondere ihre Relevanz für die zeithistorische Forschung demonstrieren.

Konferenzübersicht:

Ralf Ahrens, Melanie Arndt: Begrüßung

Sektion 1

Paul Erker (München): Wirtschaftsgeschichte und Umweltgeschichte – Probleme und Perspektiven

Christoph Wehner (Bochum): Im Paradigma der Grenzen. Versicherungsexpertise, Risikowissen und Atomgefahr in den USA und der Bundesrepublik 1953-1979

Sektion 2

Ute Hasenöhrl (Erkner): Umweltprotest und Unternehmen: Konflikte um die Nutzung von Wasserkraft in Bayern

Miriam Gassner (Göttingen): "Lebensadern" der Wirtschaft oder Umweltrisiken? Nutzungskonflikte um Bau und Betrieb von Rohölpipelines

Sektion 3

Martin Bemmann (Freiburg): Forstwirtschaft zum Wohle der Waldbesitzer oder der Allgemeinheit? Zum Wandel von Argumentation und Verhalten von Waldbesitzern und Forstlobby angesichts wirtschaftlicher Krisen in den 1930er- und 1960er-Jahren

Jan-Henrik Meyer (Aarhus): Vom Konsens zum Konflikt: Unternehmensverbände und Europäische Umweltpolitik vor und nach der Ölkrise der 1970er-Jahre

Sektion 4

Heike Weber (Berlin): Nach dem Konsum: Forschungsperspektiven einer Geschichte des Mülls

Roman Köster (München): Wertstoffe im Abfall: Eine Wirtschaftsgeschichte des Hausmüllrecyclings in Deutschland 1945-1990

Sektion 5

Sylvia Wölfel (Dresden): Versöhnung von Ökologie und Ökonomie? Umweltfreundliche Produktentwicklung in der Bundesrepublik und der DDR seit den 1970er-Jahren

Christopher Neumaier (Mainz): Die Einführung des „umweltfreundlichen Autos“ in den 1980er-Jahren – Kat-Auto und Diesel-Pkw im Spannungsverhältnis von Wirtschaft, Politik und Konsum

Sektion 6

Franz -Josef Brüggemeier (Freiburg): Schlusskommentar

Abschlussdiskussion